Die Cancel Culture entfernt die noch verbliebenen Bremsen auf dem abschüssigen Weg in eine aussichtslose Kontrollgesellschaft. Das Buch „Cancel Culture und Meinungsfreiheit“ eröffnet Einblicke.
Der Sammelband „Cancel Culture und Meinungsfreiheit. Über Zensur und Selbstzensur“ legt den gegenwärtigen Trend zur Erstickung unserer gesellschaftlichen Auseinandersetzungen offen. Das von Sabine Beppler-Spahl herausgegebene Werk verdeutlicht anhand der Beiträge seiner zwölf Autoren, dass mittlerweile kein Aspekt unserer sozialen Verständigung vor zensurähnlichen Einschränkungen mehr sicher ist.
Das Buch gliedert sich in drei Kapitel. Zunächst machen sich die Autoren einen grundsätzlichen Begriff der Cancel Culture. Demnach läuft dieses Phänomen auf die zumindest berufliche Vernichtung von Personen hinaus, die den herrschenden Kultur- und Politikbetrieb und seine sogenannten Zukunfts-Agenden stören. Wer nämlich, so etwa der Autor Kolja Zydatiss im Buch, auf irgendeine Art und Weise der Verwirklichung eines „metaphysisch bestimmten Geschichtsverlaufes“ im Wege steht, erzürnt die vermeintlich progressive Nomenklatura selbsternannter Bessermenschen.
Das musste beispielsweise die Biologin Marie-Luise Vollbrecht am eigenen Leibe erfahren. Weil sie Zweifel an der Transgender-Politik äußerte und auf das überlieferte Schulwissen hinwies, dass nur zwei Geschlechter existieren, geriet sie als reaktionäre Unperson ins Kreuzfeuer der Kritik. Diese Erfahrung machte jedoch nicht nur Vollbrecht. Auch wer auf anderen Feldern den Zeitgeist angreift und beispielsweise den wissenschaftlichen Sachverstand hinter der Corona-Politik oder dem Klimaschutz herausfordert, muss heutzutage mit drastischen Konsequenzen rechnen.
Der Autor Thilo Spahl spricht im Buch von einer „Ad-hominem-Kultur“, in der argumentative Aussagen von vorneherein ohne jegliche Diskussion abgelehnt werden, „indem man versucht, den Sprecher zu diskreditieren“. Biedere EU-Skeptiker oder Kritiker von „Globalismus“ oder Multikulturalismus werden zu Personae non gratae; sie werden als „rechts“ oder gar antisemitisch gebrandmarkt.
„Abweichler, Originale, Querköpfe, Spinner und Scharfmacher“
Im weiteren Verlauf des Buches zeigen die Autoren auf, inwieweit die Cancel Culture in den einzelnen Lebensbereichen der Politik, der Wissenschaft, des Bildungswesens und des Journalismus mittlerweile Fuß gefasst hat. So befasst sich beispielsweise der F.A.Z.-Redakteur Jasper von Altenbockum mit dem Phänomen, dass die Parteien der Grünen, der Linken, der SPD und der CDU ihre wenig angepassten prominenten Mitglieder mehr und mehr als Fremdkörper auffassen.
Von Altenbockum schreibt:
„Abweichler, Originale, Querköpfe, Spinner und Scharfmacher tun sich schon schwer in einer Volkspartei. Sie stehen am Rand, wo sie vielleicht auch hingehören. Aber sie gehören dazu, denn sie gehören zum Querschnitt der Gesellschaft, den sich jede Volkspartei auf die Fahnen schreiben muss. [...] Was sind die Grünen ohne Palmer? Die Linkspartei ohne Wagenknecht? Die SPD ohne Sarrazin? Die CDU ohne Maaßen? Auf der Suche nach Antworten fällt einem das Wort ‚sauber' ein. Kein gutes Zeichen.“
Dem wäre eigentlich nichts hinzuzufügen. Der öffentliche Diskurs wird aber mittlerweile drastischer gesäubert. Das erfährt Querdenker-Gründer Michael Ballweg. Er wird mittlerweile seit über sechs Monaten, über die sonst übliche Zeitspanne hinaus, mittels einer fadenscheinig begründeten Untersuchungshaft aus dem gesellschaftlichen Leben entfernt. Wenn man so will, eine Cancel Culture ganz besonderer Art.
Im dritten Kapitel befasst sich das Buch damit, wie unsere lieben Fortschrittsfreunde den unbefangenen Austausch von Gedanken, Impressionen und Eingebungen im Rahmen eines grundlegenderen Kulturkampfes einschränken. Bei diesem greifen Aktivisten aller Art sowohl die historischen Protagonisten als auch Errungenschaften unserer westlichen Kultur an. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der Soziologe Frank Furedi die Frontalattacken auf unsere Kultur freier Wissenschaft, freien Meinungsaustausches und damit freier Demokratie.
Zentrale Einrichtungen des aufgeklärten Diskurses werden madig gemacht
Laut Furedi hat der Versuch, diese Kultur zu diskreditieren, in den letzten Jahren einen nie gekannten Aufschwung erfahren: „Unzählige der großen, inspirierenden Persönlichkeiten der Vergangenheit – von William Shakespeare über Immanuel Kant bis hin zu Ludwig von Beethoven – sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, ‚zu westlich', ‚zu weiß' oder ‚zu rassistisch' zu sein.“ Von dem Ruf nach Dekolonisierung seien, so Furedi, mittlerweile alle Bereiche der Kultur betroffen.
Die Kulturkrieger machen also unter dem Deckmantel etwa des Antikolonialismus nach und nach zentrale Einrichtungen des aufgeklärten Diskurses madig. Damit entwerten sie alle Lebensbereiche, in denen wir unser kulturelles Erbe freiheitlicher Institutionen an die nachfolgenden Generationen weitergeben können. Unsere Fähigkeit, uns ungezwungen über alternative Zukunftsperspektiven, aber auch gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu verständigen und uns selbst als Gesellschaft zu korrigieren, schwindet nach und nach.
Nun werden seit einiger Zeit – wie aus heiterem Himmel – Reden abgesagt, Podiumsdiskussionen unterbrochen, bereits angesetzte Kunstausstellungen vereitelt, Bilder abgehängt oder Tagungen aufgrund einer Kündigung durch das die Tagungsräumlichkeiten beherbergende Hotel doch nicht veranstaltet. Die Qualität der Cancel Culture liegt also in der Stornierung von etwas bereits Angesetztem oder bereits Ablaufendem und auf jeden Fall Legalem. Hier wittern Veranstalter, Verleger oder Produzenten einen allein durch mögliche Kontaktschuld verursachten Reputationsschaden. Es geht jetzt darum, bloß nicht selbst auf die Abschussliste zu geraten. Man möchte schließlich nicht dasselbe Schicksal erleiden, das „umstrittene“, „rechte“, „verschwörungstheoretische“ oder anderweitig „rücksichtslose“ Subjekte dieser Tage ereilt.
Ein globalistischer, ökologischer und technokratischer Gesundheits-Kontrollstaat
Die entscheidende Frage lautet: Warum richtet sich der Furor der Kulturkrieger vor allem gegen die Zweifler des angeblichen Konsenses über eine menschgemachte Klimakatastrophe, gegen die coronakritischen „Querdenker“, die Kritiker des „Genderwahns“, die Befürworter eines EU-Austritts oder die bremsenden, an Bewährtem festhaltenden Zeitgenossen?
Antwort: Weil sie ihre Finger auf den wunden Punkt der menschenfeindlichen Kontrollagenda legen, die unsere politischen und kulturellen Eliten brauchen, um sich überhaupt noch legitimieren zu können und die Gesellschaft zusammenzuhalten. Die Treiber der Cancel Culture geben sich zwar modern, aber sie verkörpern eine sklerotische Gesellschaftsordnung, die mehr tot als lebendig ist und vielen Menschen, gelinde gesagt, weniger als ernüchternde Zukunftsperspektiven anzubieten hat.
Was im Buch ein wenig fehlt, ist die ausdrückliche Benennung der von den Kulturkriegern vorangetriebenen Entwicklung, gegen die sich die „Abgekanzelten“ stemmen: Es ist der abschüssige Weg in eine trostlose Kontrollgesellschaft. Stellen wir uns dieser Entwicklung nicht entgegen, landen wir in einem globalistischen, ökologischen und technokratischen Gesundheits-Kontrollstaat.
In diesem wird die große Masse der Menschen entwurzelt, ihrer Identität unsicher, dafür aber mit einer durchnumerierten Digital-Identität versehen und ohne nennenswertes Eigentum sein. Es wird eine bargeldlose Gesellschaft sein, in der die wirtschaftlichen Transaktionen der Menschen überwachbar und auch abschaltbar sind. Die Mobilität der Leute wird erheblich eingeschränkt sein. Bereits jetzt gibt es Pilotprojekte wie jenes in Oxford, in dem gewissermaßen in Coronazeiten erprobte Lockdowns nun auch fürs Klima getestet werden.
„Gesellschaft mit schwindendem Zusammenhalt“
Die Menschen werden sich hier teilweise mit synthetischer Insektennahrung ernähren und sich mit wenig freier Mobilität zwischen verschiedenen Zonen hin und her bewegen – und sich flexibel willkürlichen Anweisungen von oben fügen müssen. Und genau jene störrischen Kritiker, die diese Entwicklung von Land und Leuten hin zu einem Niemandsland der Unfreien bremsen (wollen), geraten ins Fadenkreuz der Cancel Culture.
Die Eliten und ihr Anhang versuchen, eine Gesellschaft mit schwindendem Zusammenhalt mit Hilfe immer minimalistischerer Vorstellungen und immer restriktiverer Maßnahmen zusammenzupressen. Sie geraten gleichzeitig unter verstärkten Beschuss durch populistische Bewegungen. Wer sich jedoch nicht dem freien Fluss von Rede und Gegenrede stellen will, ist sich seiner Rolle als Etablierter oder Vorreiter einer elitären Ordnung eben nicht sicher.
Das erklärt den Unwillen und die Unfähigkeit der Etablierten, konträre oder auch nur mehrdeutig abweichende Sichtweisen von Mitmenschen zu ertragen. Der Kaiser ist nämlich nackt. Das Buch „Cancel Culture und Meinungsfreiheit“ führt in diesem Sinne viele schöne Beispiele für die Erkenntnis auf, dass wir den faulen Zauber der Denk-, Rede- und Aufführverbote abschütteln sollten.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Novo-Argumente.
„Cancel Culture und Meinungsfreiheit: Über Zensur und Selbstzensur“ von Sabine Beppler Spahl (Hrsg.), 2022, Edition Novo. Hier bestellbar.
Kai Rogusch ist Jurist und Redakteur bei „Novo-Argumente“. Er lebt in Frankfurt am Main.