Die Lage war angespannt, die Genossen in Ost-Berlin reagierten hochgradig gereizt. Unvergessen, wie der FDGB-Vorsitzende Harry Tisch buchstäblich an die Decke ging, als er noch dazu freundlich von Reportern gefragt wurde, ob er nicht mit den jungen Leuten reden wolle, die in den Westen gekommen waren. Er explodierte: „Reden Sie doch damit. Die hatten doch die Möglichkeit, mit mir in der DDR zu sprechen. […] Was habe ich mit diesen Leuten zu reden, die sind doch raus aus der DDR. Und Sie haben die Obhutspflicht für sie übernommen. […] Dann sprechen Sie mit denen.“ Nun, wie die WELT am 14.09.1989 sehr richtig in ihrem Kommentar – passend überschrieben als „Tabula rasa“ – klarstellte: „Nun, das Problem liegt darin, daß die Menschen drüben eben keine Möglichkeit haben, mit den Machthabern zu reden. Dort gibt es keine Meinungsfreiheit, und wer sie doch für sich in Anspruch nimmt, […], der landet im Zuchthaus.“
Zudem: Erst im Juli, so berichtete Carl Gustaf Ströhm für die WELT am 11.7.1989, hatte der sowjetische Historiker Leonid Jagodowski, damals stellvertretender Direktor des Moskauer „Forschungsinstituts für das Sozialistische Weltsystem“, Kritik an den Zuständen in der „DDR“ geübt und die Stabilität des Ostberliner Regimes infrage gestellt. Diese sei nur Schein. Im Übrigen sprach Jagodowski von „negativen Erscheinungen“ in der Politik Ostberlins und von „Versuchen, das dortige politische System aufrechtzuerhalten“.
Im August gestand sogar das Mitglied des SED-Zentralkomitees, Otto Reinhold, in „Radio DDR“ ein, dass das SED-Regime sich keine Reformen leisten könne. Denn es gebe da „einen prinzipiellen Unterschied zwischen der DDR und anderen sozialistischen Ländern“: Alle anderen Länder hätten „bereits vor ihrer sozialistischen Umgestaltung als Staaten mit kapitalistischer oder halbfeudaler Ordnung bestanden“; ihre Staatlichkeit sei daher „nicht in erster Linie von der gesellschaftlichen Ordnung abhängig“. Was jedoch Mitteldeutschland betreffe: „Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Natürlich gar keine.“ Daher sei dort kein Platz für ein „leichtfertiges Spiel mit dem Sozialismus, mit der sozialistischen Staatsmacht“. So zitierte die WELT Reinholds Äußerungen am 24.8.1989 in ihrem Kommentar („Der Un-Staat“) und folgerte messerscharf:
„Man behauptet nicht mehr, es gebe einen ‚DDR-Patriotismus‘, den manche Bewunderer hier dem Honecker-Regime so oft und gerne bescheinigt hatten; man behauptet nicht einmal mehr, den besseren deutschen Staat geschaffen zu haben und in der Zustimmung seiner Bevölkerung zu ruhen. Reinhold sagt dem Westen ganz offen: die Menschen wollen das Regime nicht, es lebt nur vom Bajonett, sonst ist es aus mit ihm.“
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“?
In einer Zeit, in der kaum jemand schon an das Scheitern des Kommunismus glaubte, galten derart glasklare Analysen eines Enno von Loewenstern („Tabula rasa“, „Der Un-Staat“) nach heutigem Verständnis als „wenig hilfreich“. In Bonn jedenfalls klammerte man sich zu dem Zeitpunkt noch angstvoll an die Beteuerung, man wolle die Lage „nicht destabilisieren“; dabei war die Lage längst destabilisiert. Jeder Versuch, sie zu „stabilisieren“, konnte nur das Elend verlängern, welches ein sterbendes Regime unseren Landsleuten östlich der Elbe noch zuzufügen vermochte.
Man mag der damaligen Bundesregierung zugutehalten, dass sie damit quasi „durch die Blume“ sagen wollte: Wir wollen niemanden dazu aufrufen, ins Feuer sowjetischer Panzer zu laufen. Es war keineswegs klar, wie die Sowjets auf einen neuen Volksaufstand reagieren würden. Die „DDR“, das darf man nicht vergessen, war lange das „Kronjuwel“ in Moskaus Imperium (so das Svenska Dagbladet im Sommer 1989). Im Übrigen hatte die sowjetische Diplomatie und die politische Führung in Moskau Jagodowskis Meinung relativiert und sie als dessen „private Meinungsäußerung“ abgetan.
Auch Gorbatschows gerne zitierter Satz, den er Honecker angeblich im Rahmen der Feierlichkeiten am 40. Jahrestag der „DDR“ gesagt haben soll, „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, taugte nicht als Beweis dafür, dass die Sowjets ihre Soldaten auf deutschem Boden (zeitweilig immerhin bis zu 500.000!) nicht gegen Aufständische einsetzten würden. In Wahrheit hatte Gorbatschow diesen Satz so nämlich nie gesagt, siehe hier.
Dieses Hintergrundwissen sollte zum Verständnis der Ereignisse in der Zeit vom 7. bis 9. Oktober 1989 dazugehören. Denn in den Tagen vor und nach dem „40. Jahrestag der DDR“ befand sich die SED-Führung in allerhöchster Nervosität, weil sie ihr nahendes Ende geahnt haben musste. Die Gefahr eines erneuten Umsichschlagens eines Systems, das sich in die Enge getrieben fühlte, stieg an. Die Zeichen standen auf Sturm. Und er sollte tatsächlich kommen.
Gnadenlos und blindwütig zuschlagen
Zunächst aber fand die abendliche Feier am 7. Oktober, einem Sonnabend, im gut abgeschirmten und hell erleuchteten „Palast der Republik“ in Ost-Berlin statt. Mehr verquere Symbolik ging nicht: Im angeblichen „Haus des Volkes“ residierte die SED-Führung mit ihren Gästen wie in einer schalldichten Trutzburg, während das Volk draußen in der Dunkelheit sich in Protest übte: Rufe wie „Gorbi, hilf uns“, „Keine Gewalt“ oder „Freiheit“ verhallten für die Führung und ihre hohen Gäste ungehört.
Nach den Feierlichkeiten, sobald die Gäste den Ort verlassen hatten, wird das Regime gnadenlos und blindwütig zuschlagen. „Feindliche Aktivitäten sind mit allen Mitteln entschlossen zu unterbinden“, ordnete Honecker für den Jubiläumstag an. Der Chef des Staatssicherheitsdienstes, Erich Mielke, wird für die Umsetzung dieses Befehls sorgen. Nachdem Gorbatschow außer Landes und Sichtweite war, soll Mielke die Sicherheitsbehörden angewiesen haben: „Jetzt ist Schluß mit der Humanität.“ Nicht nur Stasi-Mitarbeiter und Volkspolizei, auch SED-Kader, Betriebskampfgruppen und Einheiten der Volksarmee standen bereit, um mit äußerster Brutalität jeden niederzuknüppeln und „zuzuführen“, der dem Regime als „Feind“ galt.
An dem Widerstand gegen den Festakt und die SED-Führung beteiligten sich bemerkenswerterweise mehr als 20 Mitglieder der Staatsoper. Sie weigerten sich einzustimmen. Draußen schwoll der Protest am Alexanderplatz langsam an. Hier kam es zu ersten Übergriffen durch Volkspolizisten, es folgten Pfiffe und Rufe wie „Freiheit, Freiheit“. Der Protestzug wurde von immer mehr Menschen begleitet und zog in Richtung Palast der Republik und weiter Richtung Prenzlauer Berg.
Erschütternde Dokumente
In diesem Berliner Stadtteil kam es zu einer Gewaltexplosion, die einem den Atem stocken lässt. Andreas H. Apelt, 1989 Mitbegründer des oppositionellen Demokratischen Aufbruchs und seit 1978 in Prenzlauer Berg zu Hause, erinnerte in einem Gastbeitrag in der WELT am 30. August 1995 mit kurzen, aber eindringlichen Worten an die Ereignisse in den Tagen und Nächten des 7./8. Oktober 1989:
„Im Bezirk Prenzlauer Berg steht auch die durch die 89er Ereignisse berühmt gewordene Gethsemanekirche, unter deren Dach sich oppositionelle und kritische Bürger versammelten. Von hier aus starteten die Demonstrationszüge in das drei Kilometer entfernte Zentrum Ost-Berlins mit Alexanderplatz, Volkskammer und Staatsratsgebäude. Und hier, in diesem typischen Berliner Kiez, haben Polizei und Staatssicherheit zuletzt in den denkwürdigen Tagen des 7./8. Oktober 1989 Ernst mit dem ‚Klassenfeind‘ gemacht. Hier, in den engen Häuserschluchten der alten Mietskasernen, haben sich die prügelnden Chargen des Regimes richtig austoben können. Hier wurden Menschenrechte im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten.“
Diese Worte muss man einmal auf sich wirken lassen. Kürzer und zugleich eindringlicher kann man wohl kaum zusammenfassen, was in den vom Berliner Stadtjugendpfarramt damals unter Zeitdruck zusammengestellten Gedächtnisprotokollen zu lesen ist. Es sind erschütternde Dokumente, die keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, mit welcher Brutalität Volkspolizei und Staatsicherheitsdienst im Herbst 1989 nicht nur gegen Demonstranten, sondern auch gegen Unbeteiligte vorgingen, deren „Verbrechen“ darin bestanden, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Unzählige von ihnen wurden schwer misshandelt. Hier zwei Auszüge, die den ganzen Hohn eines menschenverachtenden Regimes im Umgang mit wehrlosen Bürgern dokumentieren:
„Wir werden Euch zeigen, was Demokratie heißt.“
„Mir wurden Schläge angedroht, falls ich zusamenbräche. Ich brach nach ca. 20 Minuten zusammen. Die Polizisten lachten und sagten, sie seien human, ich dürfe mich hinknien.“
Die Berliner Initiativgruppe des Demokratischen Aufbruchs forderte damals vom Ost-Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack (SED) in einem offenen Brief eine unabhängige Untersuchungskommission zur Aufklärung der Rechtsverletzungen vom 7./8. Oktober 1989.
„Jeder bringt einen mit“
Zu ähnlichen Gewaltexzessen wie in Ost-Berlin kam es an vielen weiteren Orten, so auch im benachbarten Potsdam, ebenso in Magdeburg, in Leipzig, Dresden, Chemnitz (damals noch „Karl-Marx-Stadt“), Plauen, in Jena, Ilmenau, Arnstadt. In Arnstadt wurde schon am 30. September in einem Flugblatt zu einer Kundgebung am Holzmarkt aufgerufen. „Gegen die willkürliche Politik der SED“, stand auf den Zetteln. Am Ende kam es zu einer Vereinbarung: „Jeder bringt einen mit“, und so wurde die Teilnehmerzahl am 7. Oktober deutlich größer als erwartet. Auch hier kam es zu Einschüchterungen, Prügelszenen und „Zuführungen“ von Seiten der Volkspolizei.
In Plauen gelang noch vor Leipzig der Friedlichen Revolution der Durchbruch. Die Lage in beiden Städten war aufgeheizt: Uniformierte bestimmten das jeweilige Stadtbild, in Plauen kreisten Polizeihubschrauber im Tiefflug über die Stadt, die Straße zwischen Rathaus und Lutherkirche wurde abgesperrt. Dahinter zogen bewaffnete Kampftruppen auf. Ein Löschzug der Feuerwehr fuhr ohne jede Vorwarnung durch die Menge (bereits am nächsten Tag baten die Feuerwehrleute allerdings um Entschuldigung). Die verbitterten Demonstranten verhinderten einen weiteren Angriff durch einen Trabi, der quer in die Straße gestellt wurde und sie so versperrte. Es gab mehrere Demonstrationszüge und gewaltsame Übergriffe der Staatsmacht. Noch lange nach den Demonstrationen wurden wehrlose Bürger willkürlich verhaftet. Dennoch war der Bann der Angst gebrochen; die Sicherheitskräfte erlitten eine Niederlage. Die Verhaftungen sind als ein letztes Aufbäumen des Regimes zu werten.
Einem Werkzeugmacher aus Plauen, Jörg Schneider, gelang es zusammen mit einem Kollegen, unbemerkt von der Stasi eine „Initiative zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft“ auf die Beine zu stellen; in dem Aufruf ist auch die Rede von der Einheit Deutschlands, die „als ganz natürlicher, nie wegzuleugnender Wunsch aller Deutschen“ nur in einem geeinten und gleichberechtigten europäischen Haus möglich sei. Es wird zur Protestdemonstration am 7. Oktober auf dem Theaterplatz um 15 Uhr aufgerufen. Einen vergleichbar dezidierten Aufruf hat es in keinem anderen Papier der „DDR“-Oppositionellen gegeben: die Forderung nämlich, sich selbst zu befreien und damit die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung Deutschlands zu schaffen.
Tatsächlich folgten mindestens 10.000 Plauener dem Aufruf und zogen die steile Bahnhofstraße hinauf; davon nur ein Steinwurf entfernt steht heute das erste Denkmal, das an diesen Freiheits- und Einheitskampf erinnert. Der Oberbürgermeister signalisierte Gesprächsbereitschaft und ließ die über die Stadt kreisenden Hubschrauber abziehen. Die Demonstranten riefen „Wir kommen wieder!“ – am 9. Oktober. Und hier kapitulierten die Genossen noch vor Leipzig: es gelang ihrer Führung nicht, die Demonstration gewaltsam aufzulösen. Das Volk hatte 1989 zuerst in Plauen über seine Unterdrücker gesiegt.
Zur Sicherheit Blutkonserven
In Leipzig machte sich die Meldung breit, Blutkonserven seien in den Krankenhäusern herbeigeschafft und eingelagert worden. Schon am 2. Oktober befanden sich paramilitärische Kampfgruppen zur Auflösung von Demonstrationen im Einsatz. Der Lageplan der Bezirksdirektion der Volkspolizei Leipzig vom 6. bis 10. Oktober 1989 zeigt ihre ganze ideologisch verbohrte und peinlich penible Art, mit der alle Vorkommnisse an diesen Tagen festgehalten wurden. Hans-Hermann Hertle hat hier die Dramatik rund um die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober festgehalten.
In der „Leipziger Volkszeitung“ erschien am 6. Oktober ein Leserbrief, der den friedlich Protestierenden für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte offen Gewalt androhte: Günter Lutz, Kommandeur der betrieblichen Kampftruppe „Hans Geiffert“, forderte unmissverständlich dazu auf, die „konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam“ zu unterbinden – „wenn es sein muß, mit Waffe in der Hand!“ Das klang nach einem blutigen Massaker. Das sah auch der Kabarettist der Leipziger „academixer“ Bernd-Lutz Lange so. Er war verzweifelt: Sein Sohn wollte unbedingt mitdemonstrieren, obwohl allerorten davon abgeraten wurde, sich in der Innenstadt aufzuhalten.
Er, der Vater, wurde von Roland Wötzel von der SED-Bezirksleitung angerufen, dieser fragte, ob man sich treffen könne. Er teilte ihm mit, man würde jetzt zu Kurt Masur fahren, um einen Aufruf für einen „Beginn des Dialogs“ zu formulieren. Der Dirigent des weltberühmten Gewandhausorchesters hatte zuvor Kurt Meyer, den SED-Sekretär für Kultur, kontaktiert und ihm seine Besorgnis mitgeteilt. Zusammen mit dem Theologen Peter Zimmermann und dem SED-Sekretär für Agitation, Jochen Pommert, verfassten sie einen Aufruf, der am späten Nachmittag des 9. Oktober von Masur verlesen wurde, in dem „dringend um Besonnenheit“ gebeten wurde, „damit der friedliche Dialog möglich wird“.
Die sanfte Revolution
Inzwischen befanden sich in der Leipziger Innenstadt 70.000 Demonstranten, es war die bis dahin größte Demonstration in Leipzig seit dem 17. Juni 1953. Der Aufruf entfaltete eine ungeahnte Wirkung auf beiden Seiten: Es blieb friedlich. Der Ruf „Wir sind das Volk“ war nicht mehr zu überhören; die SED kapitulierte endgültig vor ihm. Die Szenerie wurde von Reporten des Magazins „kontraste“ illegal gefilmt und in der ARD ausgestrahlt. Das trieb noch mehr Menschen zu den Oppositionellen. Am 23. Oktober sind 300.000 „für Freiheit und gegen Krenz auf der Straße“, so titelte die WELT am 24.10.1989.
Die Friedliche Revolution in Leipzig wird am 28. Februar 1990 mit einer Sonderbriefmarke im Wert von 35 +15 Pfennigen geehrt werden – noch zu „DDR“-Zeiten, noch vor der einzigen freien Volkskammerwahl. Auf ihr ist die Nikolaikirche zu sehen, rund um sie herum demonstrieren Menschen mit Plakaten, soweit das Auge reicht. Am unteren Rand der Briefmarke steht der Ruf „Wir sind das Volk“. Ein wohl einmaliger Vorgang in der Geschichte einer Diktatur, die sich Volksdemokratie nannte und seine Polizisten Volkspolizisten, die vom Volkseigentum faselte, und die für das Volk in Wahrheit doch nur Verachtung übrig hatte.
Die Verachtung und Brutalität des SED-Regimes bekamen noch am 9. Oktober in Halle Teilnehmer einer Demonstration an der Marktkirche zu spüren. Es sollen die letzten Übergriffe gegen friedliche Demonstranten gewesen sein. Auch deshalb kann man den 9. Oktober als eine Art Wendepunkt bezeichnen; als einen Tag, ab dem das Volk die Oberhand gegenüber einer Willkürherrschaft gewann. Das Volk hatte nun seine Angst verloren. Dass es seinen Sieg auf friedliche Weise zum Ausdruck brachte, machte diese Revolution einmalig. Martin Walser formulierte dies 1989 so:
„Die Deutschen in der DDR haben eine Revolution geschaffen, die in der Geschichte der Revolutionen wirklich neu ist: die sanfte Revolution.“
Gründlich beiseitegefegt
Dies ist umso bemerkenswerter, als kein Zweifel daran bestehen kann, dass das SED-Regime in jenen Oktobertagen zur Rettung seiner Macht noch zu allem bereit gewesen wäre, bis es vor der Überzahl der Demonstranten kapitulierte. Erinnert sei an den Beifall Egon Krenz‘ zur Niederschlagung des Aufstandes auf dem Tiananmen im Juni 1989 (siehe hier und hier). Anders aber als 1953 stand diesmal der „Große Bruder“ aus Moskau zur blutigen Niederschlagung der Massenproteste gegen das SED-Regime nicht zur Verfügung. Das aber konnten die Menschen, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen, nicht wissen.
Verneigen wir uns also vor allen, die nach 1953 ein zweites Mal bewiesen haben, dass die Deutschen keineswegs ein Volk von Duckmäusern sind, wie ihnen so oft und gerne vorgehalten wird. Unsere Bewunderung und Gratulation gilt dem Mut jener Menschen, die sich in einer höchst gefahrenvollen Situation gegen ihre Peiniger aufgelehnt haben und für die Freiheit einstanden.
Ganz besondere Glückwünsche gehen an die Sachsen, die den Anfang machten, und speziell an die Plauener. In keiner anderen Stadt wurde die SED-PDS in den Revolutionstagen so gründlich beiseitegefegt. (Anmerkung: Dort beschloss diese Partei nach massivem Druck am 26. Januar 1990 ihre Selbstauflösung als Kreisorganisation – auch wenn sie später wiedergegründet wurde.) Heute ist ebenso ein Tag, an dem eine Brücke geschlagen werden sollte zu Ehren der Freiheitskämpfer des 16./17. Juni 1953, auf deren Schultern die Freiheitskämpfer von 1989 letztlich stehen. Es ist ihrer aller Tag, nicht der Tag ihrer Peiniger und auch nicht der Tag jener, die dem Regime bis zuletzt willfähig dienten.
Kein Ersatz für die Freiheit
Beethovens einzige Oper, eine „Befreiungsoper“, der „Fidelio“, ist eine Geschichte, in der die Wahrheit und Freiheit über die Lüge und Unterdrückung siegen; ein Sieg der Gerechtigkeit über die Tyrannei. Es ist eine schöne Ironie der Geschichte, dass der „Fidelio“ in der Semperoper zu Dresden ausgerechnet am 7. Oktober 1989, dem „40. Jahrestag der DDR“ (sic!) Premiere hatte. Das Publikum zollte der Aufführung tosenden Beifall. Es hatte die Botschaft verstanden. Währenddessen bot sich draußen zeitgleich eine gespenstische Szene: Hunderte Menschen, die für die Freiheit friedlich demonstrierten, wurden zusammengeknüppelt und in Gefängnisse verfrachtet. Das aber war kein Spiel, das war die brutale Realität am 7. Oktober 1989.
Das Erbe der Freiheitskämpfer ist eine Verpflichtung. Ihre Leistung kleinzureden, bedeutet nichts anderes, als den Wert der Freiheit kleinzureden. Für die Freiheit gibt es keine Substitution. Der 9. Oktober ist ein geeigneter Tag, daran zu erinnern, dass es kein schöneres und zugleich zerbrechlicheres, kein kostbareres und zugleich öfter missbrauchtes Wort als das Wörtchen „Freiheit“ gibt; daran, dass die Freiheit immer Menschen brauchen wird, die an sie glauben, die sie gerade dann hochhalten, wenn sie in Bedrängnis gerät und die bereit sind, sie notfalls tapfer gegen ihre Feinde zu verteidigen, auch bei ungewissem Ausgang. Genau dies taten die unterdrückten Deutschen 1953 und 1989. Vergessen wir das nie.
Weitere Quellen:
Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: Der Mauerfall. Ein Volk nimmt sich die Freiheit. Lingen 2014, S. 143 (Zeittafel); S. 155 – 161 (Ereignisse vom 7. – 9. Oktober).
Bernd Lindner: Zum Herbst ‘89 – Demokratische Bewegung in der DDR. Forum Verlag Leipzig, 1994, S. 78ff. (Lageplan der VP Leipzig 6. – 10.10.1989), S. 94ff. (Arnstadt im Herbst 1989), S. 123ff. (Plauen, Stadt mit Bürgerstolz und Freiheitssinn)
Die Politische Meinung, Sonderausgabe Nr. 2, Oktober 2014: Das Wunder von Berlin. Der Mauerfall und wie er Deutschland bis heute verändert, S. 45 – 48 (Kapitel „Plauen“ von Udo Scheer).
Berliner Ilustrierte, erschienen am 12.12.1989: Deutschland im November 1989. Das Volk schreibt Geschichte – Tage, die wir nie vergessen.
http://www.chronik-der-mauer.de/chronik/#anchoryear1989