Der November scheint eine besondere Bedeutung für Deutschland zu haben. Heute ist der Tag der Maueröffung. Dieser Text erinnert an das historische Datum mit Tagebucheintragungen des Autors aus den Jahren 1989 bis 1991.
Vier Monate vorher, auf dem Weg ins Riesengebirge mit der Reichsbahn durch die DDR. In unserem Abteil sitzt ein Soldat der NVA in Uniform. Als er hört, dass wir aus West-Berlin sind, beginnt er lauthals auf seine Regierung zu schimpfen: „So geht’s nicht mehr weiter, alle haben die Schnauze voll von ihren Lügen!“
Zwei Monate vorher: Der Tagesspiegel berichtet erstmals über eine kleine Demonstration von etwa zweihundert Menschen, die nach dem montäglichen Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche mit Transparenten und Kerzen durch die Stadt ziehen. Von da an verdoppelt sich jeden Montag die Zahl der Teilnehmer.
Zwei Wochen vorher, ein mitangehörtes Gespräch in der West-Berliner U-Bahn: „Drüben soll es bald eine neue Reiseregelung geben.“ – „Ja, stellen Sie sich vor, unsere Verwandten haben schon telefonisch angefragt, ob sie uns Weihnachten besuchen können. Geistesgegenwärtig sage ich: Geht leider nicht, da sind wir verreist. Soweit kommt's noch, dass wir die über die Feiertage verköstigen, mit Gans und Geschenken. Die sehen doch die Westreklame und denken, sie kommen hier ins Schlaraffenland!“
Das Unfassbare
Nach den Tagesthemen, die das Unfassbare verkünden, stürze ich aus der Wohnung. Auf dem Bahnsteig möchte ich meine Freude mit der ganzen Welt teilen, lache den Erstbesten breit an, er lacht zurück, hat es wohl auch schon gehört. Doch als er näher kommt, entdecke ich den Jesus-liebt-dich-Button an seiner Jacke, eine böse Ahnung steigt in mir auf, und tatsächlich vergeht mir nach seinen ersten Worten das Lachen: „Glaubst-du-auch-an-den-Herrn-der-Herr-hat-mich-befreit-und-mir-ein-neues-Leben-geschenkt-vielleicht-hast-du-ja-auch-das-Bedürfnis...“
„Nee, lass mal gut sein!“ Schlagartig ernüchtert besteige ich die U-Bahn Richtung Neukölln, in der die Stimmung so dröge ist wie eh und je.
Sonnenallee, Grenze: Klatschende Hände auf Trabidächern. Die Hochhausbewohner auf der Westseite haben ihre Fernsehsessel sitzengelassen. Heute findet die intergalaktische Begegnung draußen statt. Weit aufgerissene Augen, unterdrückte Schreie, nicht zu Ende geführte Sätze, immer wieder Kopfschütteln. Die Körper wissen die emporbrodelnden Gefühle nicht adäquat auszudrücken: krampfhaft geballte Fäuste, roboterhaftes Schulterklopfen.
Wir bewegen uns gegen den Strom. Der Weltwechsel glückt, auf einmal Treptower Vorstadthäuser. Uns begrüßt nur eine endlose Autoschlange und Rufe aus dem Seitenfenster: „Wieso kommt ihr schon zurück?“
„Von drüben!“ rufen wir. „Alles ist offen!“
Ungläubiges Staunen. Im Osten hielten sie bis 50 Meter vor der Mauer die Nachricht für eine Finte.
Zwei Uhr morgens. Menschenmassen pilgern schweigend zur Gedächtniskirche. Eine ehrfürchtige Atmosphäre. Die Ostler sind fast vollständig unter sich. Zwei Männer steigen aus ihrem Wartburg, gehen in die Knie und küssen Westberliner Asphalt.
Auf der Kreuzung Joachimsthaler hält ein dunkelblaues Jaguarcoupe, wird sofort umringt von einer Traube von Bewunderern. Türen und Verdeck öffnen sich, zwei weiße Oberhemden schießen empor, das eine schwenkt schwarz-rot-gold, das andere schreit los, dirigiert mit beiden Händen: „Deutschland, Deutschland!“ Nach kurzer Irritation fallen die Umstehenden ein, erst wenige, dann immer mehr. Wir sind das glücklichste Volk der Welt, verkündet die elektronische Wandzeitung am Kudamm-Eck.
Der Abend danach
Wir stehen auf der Mauer am Brandenburger Tor. Gerade sind die Grepos abgezogen, die bisher den Zugang versperrt haben. Zusammen mit anderen lassen wir uns von der Mauerkrone herunter, laufen auf das Symbol der deutschen Teilung zu. Als ich zwischen seinen Pfeilern stehe, durchläuft mich ein Schauer. Nie hätte ich das zu träumen gewagt.
Das Wochenende danach
Plastiktütenkarawanen ziehen durchs gelobte Einkaufsland, drücken sich die Nasen platt, irren in Obstläden umher, wollen „nur mal anfassen“, können es nicht fassen, graue Massen in Stone-washed-Jeansanzügen drängen sich durch Kaufhäuser und U-Bahnhöfe. Trabis und Wartburgs parken die Radwege und Bürgersteige zu.
Zwei Wochen danach
Sonst leere Gegenden in Mauernähe sind schlagartig belebt, verändern ihr Gesicht und ihre Atmosphäre. Die Tageszeitungen erscheinen mit täglichen Sonderseiten, bei der BZ heißt sie „Der neue Berliner“, an zentralen Punkten stehen BVG-Kundenberater, werden Gratisblätter mit viel Werbung und Service-Informationen verteilt, verscherbeln fliegende Händler Billigramsch wie Stofftiere und Plastiktaschenrechner für 5 DM. Handgemalte Schilder an Kinos und Boutiquen: „Für DDR-Bürger 50-prozentige Ermäßigung“.
Aus dem Ostradio neue Töne, jetzt wo kein Mut mehr dazugehört. Ausgerechnet die braven Puhdys singen vom „braven Soldaten“, der Wache schiebt „am Stacheldraht“:
„Hast du denn geglaubt, dass der, der gehn will, / kein Recht zu leben hat?
Hast du sein Gesicht gesehn, / oder fiel er mit dem Rücken zu dir?“
Grausam, wenn angepasste Staatskünstler „kritisch“ werden! Um wieviel mutiger war da manche Andeutung in den Monaten vor der Wende, etwa von Pankow: „Das selbe Land zu lange gesehen / Die selbe Sprache zu lange gehört / Zu lange gewartet, zu lange gehofft / Zu lange die alten Männer verehrt“.
Drei Wochen danach
Großdemo gegen eine „Wiedervereinigung“ mit Gruppen aus Ost und West, die sich neugierig beschnuppern. Ein fröhliches Happening, bis zur Abschlusskundgebung, als eine Vertreterin des „Bündnis gegen Faschismus, Rassismus und Sexismus“ das Wort ergreift. Dem Wort an die Gurgel geht. Motto: Großkapital bedroht souveräne DDR. Keine Silbe über den moralischen und wirtschaftlichen Bankrott des SED-Regimes, auch nicht zu etwaigen politischen Chancen der neuen Situation. Nur Gegreine über den altbösen kapitalistischen Feind, austauschbar und bis zum Überdruss bekannt von Palästina-, Südafrika, Weltbank- und sonstigen linken Veranstaltungen.
„Ist euch das nicht peinlich, heute hier aufzutauchen?“ frage ich ein Mitglied des West-Berliner Ablegers der Mauerpartei, der eine windelweiche „Erklärung des Vorstandes der SEW“ verteilt. Sie waren mir immer suspekt, die orthodoxen Linken. Wie kann man sich freiwillig die ideologischen Scheuklappen aufsetzen, die in den Diktaturen des realen Sozialismus zwangsverordnet wurden?
Geglotze und Gemotze daraufhin aus dem Block der Unbelehrbaren, die heute unter der Losung „Gegen einen großdeutschen Faschismus!“ angetreten sind und sich teilweise in KZ-Häftlingskleidung kostümiert haben.
„Löst euch auf!“ rufe ich.
Und tatsächlich, kaum versiegt der Finanzfluss aus der DDR – nur wenige Wochen später – da lösen sich deren Tarnorganisationen eine nach der anderen in Luft auf: DKP, SEW, VVN, der Pahl-Rugenstein-Verlag. Bestätigen damit nachträglich ihr Marionettendasein.
Im gewendeten DDR-Fernsehen, das zu seinem alten Namen „Deutscher Fernsehfunk“ zurückgekehrt ist, wird bei Sendeschluss nach Jahrzehnten wieder der Text der Becher-Hymne gesungen, zu malerischen Landschaftsaufnahmen: „Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland!“
Tatsächlich geht alles viel zu schnell. Abrupte Veränderungen und hektische Aktivitäten in Richtung Währungsunion und Wiedervereinigung, ein Wort, das bis vor dem 9. November nur hoffnungslos „Ewiggestrige“ in den Mund zu nehmen wagten.
Ein Jahr zuvor
Der Regierende Bürgermeister Diepgen im Wahlkampf: „Es geht darum, die jetzt durch Gorbatschow entstandenen Handlungsspielräume mit Beton auszugießen, so dass kein Rückschritt mehr möglich ist.“
Genau so fühlt es sich jetzt an: wie Beton. Der Zauber der Maueröffnung ist verflogen, die von ihm überrumpelten politischen Parteien fallen in ihre eingefahrenen Argumentations- und Verhaltensmuster zurück. Die sich auftuenden Freiräume müssen sofort ausgefüllt werden, als wäre die neue Offenheit sonst nicht auszuhalten.
Die Unfähigkeit, sich zu freuen. Die Mauer baut sich gerade in den Köpfen wieder auf, der Verstand schlägt Kummerfalten. Kaum ist das Unglaubliche, Unvorhersehbare passiert – ein kurzer, heftiger Blitz – brechen schon wieder die Sorgenwellen über dem deutschen Gemüt zusammen. Angeblich fürchten sich alle Nachbarn vor dem mächtigen neuen „Großdeutschland”, das in Wahrheit doch viel kleiner wäre als die Weimarer Republik oder gar das Kaiserreich. Die Teilung – so die unverrückbare Meinung fast aller Linker – war die Strafe für Hitlers Krieg, und so soll es auch bleiben.
Die mit den Träumen und die mit dem Geld
Ein Freund vergleicht die neuen Reisemöglichkeiten in die DDR mit Reisen nach Ägypten. Während für viele Ältere, die von drüben oder von noch weiter östlich stammen, ein phantastischer Lebenstraum in Erfüllung geht, scheint kaum ein Jüngerer Freude darüber zu empfinden, dass nun „zusammenwächst, was zusammengehört“. Auf der nächsten Demo werden DDR-Bürger als Bananenfresser und Begrüßungsgeldgeile karikiert.
Ein boxernasiges Fettglanzgesicht lobt die „Bumslokale“ (offiziell: Discos) im Prenzlauer Berg und schwört Rache für die vielen Körbe der Westfrauen, schimpft über deren hocherhobene Häupter und gerümpfte Nasen: „Mit welchem Recht eigentlich? Endlich kriegen sie Konkurrenz!“ Früher war er liberal eingestellt, heute „bin ich Chauvinist – doch es gibt Täterinnen! Ich bin das Opfer.“ Nächste Woche will er mit einem Freund, der sich auskennt, nach Leipzig: „Da gibt's Lokale, da sagste du zum Kellner nur: Ich will ’ne Blonde-Brünette-Rote, schon wirste plaziert.“ Nett, kameradschaftlich, unkompliziert sind sie, die Ostfrauen, „nicht so zickig und arrogant wie unsere“. Sollen die Westlerinnen sehen, wo sie bleiben, „Ich boykottiere sie!“
Sieben Monate danach
Die deutsche Einheit, versprechen die Politiker, wird die westdeutschen Steuerzahler keinen Pfennig kosten. Diese müssen keine Opfer bringen für das, was sie angeblich immer schon wollten.
Noch ein Lied, von der Gruppe „Karussell“: „Marie, die Mauer fällt, wir kommen uns näher und näher / die mit den Träumen und die mit dem Geld / die finden sich früh oder später.“
Sieben Monate danach
Privatquartier in Halle an der Saale: Der Gastgeber erzählt, dass die Schnellstraße vor dem Haus früher Protokollstrecke war. Als Erich Honecker vor einiger Zeit dort entlangfuhr, kamen am Tag zuvor die Maler und bekleisterten die verrosteten Fenstergitter- und -läden der anliegenden Häuser mit frischer grüner Farbe; dabei machten sie sich fast in die Hosen vor Lachen. Vom Balkon aus beobachtete der Gastgeber dann, dass Honecker sein Wagenfenster verhängt hatte und deshalb die „Verschönerungen“ entlang der Protokollstrecke gar nicht würdigen konnte. Nach kaum zwei Jahren ist die grüne Farbe nun genauso verrottet wie die restliche Hausfassade.
Halle, Fußgängerzone: Am Imbiss in der Leipziger Straße, die bis vor kurzem noch Klement-Gottwald-Straße hieß, kostet westliches Dosenbier 3 Ostmark, das heimische Pilsener nur 57 Pfennig. Vom Miederwarengeschäft an der Konzerthalle (einer ehemaligen Kirche) wird das HO-Emblem abmontiert und zwar durch einen Malermeister aus Hannover. An den Hausfassaden kleben noch die Plakate der Märzwahlen: „Nie wieder Sozialismus! JA zu Freiheit und Wohlstand! CDU!“ Über den Nebenstraßen des Marktes sind große Transparente gespannt: „Bausparwochen mit Schwäbisch Hall“. Die Springer-Presse ist mit nagelneuen Leuchtreklamen und Aufklebern allgegenwärtig. In jeder Kaufhalle gibt es jetzt extra Zeitschriftenecken mit BILD, BILD der Frau, Auto-BILD, Funk-Uhr, Hörzu: „Wo wird nicht alles schlecht gemacht? Wo macht Fernsehen schon vor der Sendung Spaß? Wo lernt man nette Leute kennen?“
Ein Jahr vorher
Wolfgang Neuss: „Natürlich gibt es zur Bundesrepublik auch Positives zu sagen: DDR. Der einzige Lichtblick in unserer bundesrepublikanischen, Westberliner Zeit ist die DDR in ihrer ganzen Hässlichkeit, Schäbigkeit, Stinkigkeit, Verkommenheit, Mistigem. Aber den neuen Menschen, den Menschen nach Hitler haben sie besser hingekriegt als wir. Geh mal rüber, kannst mit jedem reden.“
Ein Jahr danach
Als junger Sozialpädagoge ohne Lebenserfahrung soll ich auf meiner ersten Stelle gestandene Arbeitnehmer in Marzahn beraten, die jetzt massenhaft „freigesetzt“ werden. Was kann ich ihnen geben außer warmen Worten? Einfach zuhören.
Frau Sawatzki war nach einem abgeschlossenen Ökonomiestudium zwanzig Jahre lang als Handelskauffrau im Ministerium für Tourismus beschäftigt. Nach der Abwicklung bewirbt sie sich nun als Sekretärin und wird zum Vorstellungsgespräch geladen, vor fünf aus Bonn angereisten Anzugträgern.
Frau Sawatzki: „Guten Tag!“
Wortführer: „Wen wollen Sie denn zuerst begrüßen?“
(Sie begrüßt den Sprecher)
Wortführer: „Ach, mich zuerst? Den Ältesten statt den Schönsten?“
Frau Sawatzki (verunsichert): „Wer ist denn hier der Schönste?“
Wortführer: „Zur Sache, Frau Sawatzki. Sie sind geschieden. Kein Wunder bei den vielen Fortbildungen, die Sie gemacht haben, das musste ja auseinandergehen. (lacht) Nun erzählen Sie mal aus Ihrem Leben.“
Frau Sawatzki: „Aus meinem Leben?“
Wortführer: „Haben Sie denn einen Grund, jetzt rot zu werden? Dann erzählen Sie lieber aus Ihrem Arbeitsleben.“
(Frau Sawatzki gibt stammelnd einen kurzen Überblick über ihren Lebenslauf.)
Wortführer: „Können Sie sich denn vorstellen, nach Bonn zu gehen?“
Frau Sawatzki: „Nach Bonn? (schluckt) Naja, nicht für immer.“
Betriebsrat: „Frau Sawatzki, man will von Ihnen wissen, ob Sie flexibel sind!“
Frau Sawatzki: „Naja, doch, kann ich mir vorstellen.“
Potsdam-Hauptbahnhof: Wartende Menschen vor hellblauen Kacheln, über der Normaluhr entblättert sich der Lack in Halbmeterschlangen. Plötzlich Getrappel aus dem Gang, der Sonderzug aus Wannsee ist eingefahren, ein Zeitgeistmagazin aufgeschlagen, in den Farben der Saison tänzelt eine Gruppe Trenchcoats hervor, picobello frisiert, schrille Brillen mustern die graue Bahnhofsszenerie, wie ein Tennisball springt ein Grinsen vom einen zum anderen, sich selbst genug, ein leichtes Wippen im Schritt, fegt durch die Vorhalle und braust im Taxikonvoi nach Sanssouci.
„Wenn ich sehe“, kommentiert jemand im „Sonntag“, „was aus den Medien quillt, aus dem Bundestag […], dann ertappe ich mich bei dem Gedanken: Mit denen nicht. Mit Österreichern, Schweizern, Franzosen, mit Eskimos ja, aber nicht mit solchen, deren jeder meint, er habe das Wirtschaftswunder allein vollbracht und es lebe, wer auf der Welt lebt, nur durch ihn.“
Anderthalb Jahre danach
Die öffentliche Berichterstattung hat sich gewandelt. Stasi-Enthüllungen und andere Missetaten des SED-Regimes sind out, jetzt geht es vor allem um Skinheads, Neonazis und Ausländerfeindlichkeit. Linke demonstrieren mit Transparenten wie „Liebe Ausländer, lasst uns mit diesen Deutschen nicht allein!“
Am Platz der Luftbrücke sind die Ampeln ausgefallen. Vier Verkehrspolizisten aus Ost und West versuchen, das entstehende Chaos zu bändigen. Die beiden Westpolizisten zeigen ein professionelles Potpourri von Winkbewegungen: Mit der Rechten wird machtvoll ein Bann vor die heranjagende Meute gesetzt, während die Linke mit zwei Fingern leise aber energisch lockt. Doch der BMW, der die Kreuzung freimachen soll, reagiert nicht. „Fahr, du Idiot!“ brüllt der Ordnungshüter, der zum Beweis seiner Lässigkeit sogar auf eine Mütze verzichtet und eine blondgetönte Dauerwelle präsentiert.
Die am Rande stehenden Ostpolizisten tragen zwar Westberliner Polizeimützen, sind aber durch ihre graugrünen Vopo-Uniformen immer noch für jedermann als solche erkennbar (angeblich kommt die Textilindustrie mit der Uniformproduktion nicht nach). Schüchtern bleiben sie im Hintergrund und bieten mit schlaff herunterhängenden Armen und ihrer geduckten Haltung ein Bild des Jammers. Wie sollen sie, die jeder mit klapprigen Plastikkisten assoziiert, jemals Autorität über all die blitzenden West-Karossen und deren Fahrer erlangen? Außerdem werden sie wohl erst nach einer Bewährungszeit übernommen.
Der fabelhafte Marcel Ophüls befragt in seinem Film „Novembertage“ den Dirigenten Kurt Masur, einen der „Helden von Leipzig“: „Sind Sie sauer auf die ‚Bananenmenschen‘, die nicht einen besseren Sozialismus, sondern ihre Vorstellung von Glück gewählt haben?“
„Sie haben kein Recht, solch oberflächliche Fragen zu stellen“, erwidert Masur. „Sie waren nicht hier. Sie wollen nur Ihre Story. Deshalb werde ich Ihnen nicht antworten. Die Menschen hier haben auch eine Seele zu verlieren. Und ich befürchte, dass viele von ihnen den Anforderungen, die diese neue Gesellschaftsordnung so schnell an sie stellt, nicht gewachsen sein werden.“
Ophüls: „Vielleicht waren meine Fragen oberflächlich. Sie haben aber sehr tiefgehende Antworten erhalten.“
Masur: „Vielen Dank.“
Ophüls: „Bitte sehr.“
Oliver Zimski ist Übersetzer und Autor. Im Juni 2024 erschien sein neuer Roman „Jans Attentat“.
(Dieser Text entstand nach Tagebucheintragungen des Autors aus den Jahren 1989–1991)