Dies ist ein persönlicher Streifzug durch die Popkultur der Neunziger. Wenn alle „progressiv“ nach vorne blicken, tut ein Blick zurück not.
Für immer mehr Menschen gelten die neunziger Jahre als eine politische Ära, die sie im Angesicht der Zumutungen und Brutalitäten der Gegenwart als die eindeutig glücklichere Vergangenheit erinnern. Je mehr die selbst erlebte Vergangenheit nun als eine reaktionäre Zeit dargestellt wird, die Trigger-Warnungen und moralisierende Nörgelei erfordere, desto mehr verdient sie, in Erinnerung gerufen und verteidigt zu werden. Ja, die Neunziger waren durchaus besser: freundlicher, lässiger, freigeistiger!
Im Alter von 17 entdeckte ich mit einem Freund in der Bibliothek unseres Dorfs ein Regal mit ungefähr 200 handverlesenen Filmen. Von dieser Welt hatten mir bis dahin weder Fernsehen noch Schule eine adäquate Vorstellung verschafft. Heat, Night on Earth, Coffee and Cigarettes, Leon der Profi – diese Perlen und Klassiker standen da so nahe beieinander, wie es in keiner Videothek vorkommt, kein Lehrplan und kein TV-Programm vorsah. Dieser Nähe wegen stellte sich mir ein eigentlich sattsam gewöhntes Medium plötzlich in einer unverhofften Qualität vor. So gibt es also den Film.
Am lebhaftesten habe ich Night on Earth in Erinnerung. Jim Jarmusch erzählt in diesem Episodenfilm, wie die unterschiedlichsten Figuren in stets derselben Konstellation, einer nächtlichen Taxifahrt, aufeinandertreffen. Unvergesslich die erste Episode: Eine proletarische, kettenrauchende Winona Ryder bringt eine bourgeoise Frau vom Flughafen zu ihrem Hotel. All ihren Unterschieden zum Trotz finden die beiden eine Verbindung, unterhalten sich oberflächlich über Zukunft, Männer, Liebe. Die junge Taxifahrerin will eigentlich eine Mechanikerin werden, weil sie aufgrund ihrer Brüder das Wesentliche dazu praktisch schon könne, und „definitiv“ irgendwann heiraten und eine Familie gründen, und während sie das alles erzählt, beobachtet die bourgeoise Dame sie schmunzelnd, etwas distanziert, aber doch zugeneigt. Vielleicht verstehen die beiden sich auch deshalb so gut, weil sie je auf ihre Weise Emanzipationen der Frau sind.
Eingeprägt hat sich mir auch die New-York-Episode mit dem Dresdner Immigranten Helmut Grokenberger und dem Afroamerikaner Yo Yo, die beide eine Uschanka, eine russische Mütze mit Ohrenklappen, tragen. Ein unbeholfener Ossi und ein vom Leben mitgenommener Brooklyner, die offensichtlich sehr unterschiedlich aufgewachsen sind und geprägt wurden, aber dennoch ungezwungen und angstfrei miteinander ins Gespräch kommen – das ist Vielfalt, nicht in ihrer woken Schrumpfform als ödes Ethno-Mosaik, sondern in Gestalt buntscheckig-moderner Menschen, in denen Menschheit aufscheint, wie sie von Nazis gehasst und Wokies nicht verstanden wird: als Gattung, aus der keine Exemplare herausfallen, sondern unverwechselbare Individuen entstehen.
Slacker, Rumtreiber, Durchwurschtler
Jarmusch steht für das amerikanische Independent-Kino, das in den Neunzigern zu sich selbst kam. Seine Geschichten würdigen die Abweichler, Außenseiter und Eigenbrötler, die in Mainstream-Erzählungen unter den Tisch fallen, weshalb der Regisseur in einem abstrakten Sinne eher links zu verorten wäre. Welcher republikanische Senator, welcher CDUler alter Schule würde öffentlich schon Tom Waits und Iggy Pop in Coffee and Cigarettes abfeiern, wie sie da ziellos Kaffee trinken, quatschen und dabei auf Gedanken etwa zum Rauchen kommen, die einen mit einem Lächeln verstummen lassen?
„The beauty of quitting is, now that I've quit, I can have one.“
Das ist die Poetik, Weisheit und Coolness der Slacker, der Rumtreiber und Durchwurschtler. In diese alternative Filmwelt einzutauchen, war mir als Jugendlicher ein bisschen so, als würde mir eine fremde Hand nach langer Zeit unfreiwilliger Unberührtheit durch die Haare fahren. Was mir im Independent-Kino der Neunziger an Charakteren, inspirierendem Lebensgefühl und -entwürfen widerfuhr, ist das Produkt popkulturell linker Abweichung vom Mainstream-Kino, dessen Konservatismus sich nicht programmatisch und explizit politisch, sondern eher indirekt in Figurenkonstellationen, Themenwahl und narrativer Struktur vermittelte.
Wenige Jahre später wurde mir als Student der Filmwissenschaft im kulturanthropologischen Teil dann erklärt, dass beispielsweise als Zeitzeugen befragte Menschen ihre biographische Geschichte rückblickend stets so erzählen, als hätte sie von Beginn an zwingend und geradlinig in die Gegenwart führen müssen, dass biographisches Erzählen also der Form einer Fiktion folgt, wenngleich es dabei aus der Realität schöpft. Das mag ja sein, auf mich trifft jedenfalls zu: Durch diese aus einer dörflichen Marktplatz-Bibliothek ausgeliehenen Filme ging mir auf, dass da draußen sehr viel wartet, das ich will und mir daheim verwehrt bliebe.
Wer aus- und wegzieht, um in einer ganz anderen Umgebung zu leben, erfährt die „Musik des Zufalls“, der das große Thema Paul Austers ist. Seinen literarischen Postmodernismus, in dem das Subjekt nicht Herr seines Schicksals, sondern vom Zufall geführt wird, mag ich bis heute; mit den politischen Erscheinungsformen der Postmoderne hat er kaum etwas zu tun. Austers Wertschätzung filmischer Hochkultur einerseits und die Zelebrierung eines modernen Slackertums andererseits, etwa in Moon Palace, war genau das Richtige für einen 21-Jährigen, der den Kopf in den Wolken hatte, aber dort nicht verdummen wollte. Austers Charaktere gehen ins heruntergekommene Kino am Central Park, aber führen sich auch die klassische Filmgeschichte diszipliniert zu Gemüte. Ich denke, er schätzt den Film dafür, ein technisch-modernes Massenmedium zu sein, dessen historische Anfänge auf dem Jahrmarkt liegen, während im Film zugleich der selbstbewusste Anspruch erhoben wird, etwa mit der Literatur oder der Malerei mithalten zu können, sprich: Kunst zu sein. Sich durch den Filmkanon zu arbeiten, ist für Auster gleichermaßen eine Bildungspflicht, wie er das Kino als urbane und alltägliche Erfahrung schätzt, die allen Klassen und Milieus zugänglich ist. Diese Ambivalenz des Films enthält viel vom modernen Versprechen: Als Gleiche unter Gleichen sollen die Menschen über sich hinauswachsen.
Gegen Merkel-Appelle gewappnet
Das Episodenfilmische Jarmuschs und das Schriftstellerische Austers verbinden sich in Smoke (1995) von Wayne Wang, für den Auster das Drehbuch schrieb. Harvey Keitel (bekannt aus Tarantinos Reservoir Dogs, 1992) spielt den Besitzer eines Brooklyner Tabakladens, der das zufällige Zentrum einer Vielzahl von Erzählsträngen ist. Der Film endet mit einer Weihnachtsgeschichte, die das vielleicht Rührendste ist, das im Independent-Kino der Neunziger auf die Leinwand gebracht wurde. Wer sich von der Geschichte um eine blinde alte Frau und ihren Besuch an Heiligabend einnehmen lässt, der ist zeitlebens gewappnet gegen ministerielle Verordnungen und Merkel-Appelle, die Großeltern oder andere Alte aus virologischen Gründen an Weihnachten vereinsamen zu lassen.
Wer fürs Klima am Asphalt klebt, hat es versäumt, seine Zeit an Romane und Filme zu verschwenden, denn sonst würde er diese Protestform allein aus ästhetischen Gründen strikt ablehnen. Anders als heutige jugendliche Weltuntergangs-Linke, die ihre auf den Tod gerichtete Panik für wissenschaftlich begründet halten, weil sie von chronischen Midlife-Crislern auf allen Kanälen in die grüne Ahnungslosigkeit gelotst werden, hatten Die Ärzte Anfang der Neunziger den Zeitgeist noch nicht auf ihrer Seite. Nach den Pogromen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und dem Mordanschlag von Mölln war „Schrei nach Liebe“ (1993) ein wichtiger und guter Song, der in einer Zeit, in welcher der Neonazismus noch eine relevante Subkultur war, ganze Generationen deutscher Jugendlicher antifaschistisch prägte. Das Lied war wie einige andere Lieder dieser Band Ausdruck davon, was die Poplinke bisweilen war: eine impulsive Kraft in anderen Machtverhältnissen, die auch und gerade in ihrer politischen Oberflächlichkeit eine charmante Lust am Leben transportierte, an die das moralistische Strebertum heutiger Wokies nicht einmal mehr erinnert.
Dreißig Jahre später sind Die Ärzte ein Schatten ihrer selbst, begreifen überhaupt nichts und propagieren etwa die Massenimpfung gegen staatlich verordneten Hausarrest wie so viele andere linke Musiker auch. Die Corona-Injektion sei „[e]in kleiner Schritt für jeden von uns, ein großer Schritt für die Gesellschaft – damit es nicht mehr so lange dauert, bis auch wieder Konzerte, Club- und Theaterbesuche unter normalen Bedingungen möglich sind.“ – Wer so etwas nicht nur glaubt, sondern auch noch öffentlich verkündet, kann auch gleich mit Günther Jauch den Jakobsweg in Partnerlook-Funktionskleidung entlangradeln. Der kauft Vater Staat wirklich alles ab.
„Spießer“ im antifaschistischen Widerstand
Während Ärzte & Co den virologischen Ameisenstaat aktiv unterstützten, fanden Abweichler, die noch mit jener Poplinken sozialisiert wurden, bevor diese von der Grönemeyer-Front ununterscheidbar wurde, am ehesten noch bei Konservativen und Liberalen Verbündete, mit denen sie lebensweltlich jedoch eher weniger anfangen können. Verkehrte Welt, könnte man meinen: die Linken als die neuen Spießer, während die „alten Spießer“ im antifaschistischen Widerstand anzutreffen waren. Aus dem Widerspruch zwischen lebensweltlicher Neigung und faktischer politischer Übereinstimmung mit „Rechten“ entsteht bei den eher Linksorientierten Nostalgie. Sie wollen ein Lebensgefühl zurück, das die Poplinke verkörperte, bevor sie sich totsiegte und nun als woke Verbiesterung der politische Gegner ist.
Dennoch sollte man nicht in ein Wunschdenken verfallen. Was man sich aus heutiger Enttäuschung heraus aus den Neunzigern wiederzubeleben wünscht, wäre zu unbestimmt, als dass man sich programmatisch daran orientieren könnte: Das diffuse alternativ-freundliche Lebensgefühl entsprang einer anderen historischen Situation und hatte damals schon keine politische Substanz.
Jedoch ist jene Sehnsucht nicht nur Nostalgie im naiven, schwärmerischen Sinne, sondern Ausdruck eines berechtigt als unbefriedigend erlebten Status quo, der nach neuen popkulturellen Ausdrucksformen verlangt. Und die mögen aus den Neunzigern doch retten, was zu retten ist! Wenn die Staatsräson einen auf den strikt-progressiven Blick nach vorne verpflichtet, gilt es, das politische und ästhetische Gedächtnis zu schulen und zu pflegen.
Redaktioneller Hinweis: „Night On Earth“ ist im Rahmen einer Jim-Jarmusch-Reihe bis zum 31.10.2023 in der Arte-Mediathek anschaubar. Dem Hinweis einer Leserin sei gedankt.
Felix Perrefort ist Redakteur und Autor der Achse des Guten.