Claude Cueni, Gastautor / 17.11.2018 / 10:00 / Foto: Cueni / 0 / Seite ausdrucken

90 Jahre Tim & Struppi (5)

Von Claude Cueni.

Biographen erwähnen, dass Hergé schöne Autos liebte. Wer findet schon keinen Gefallen am Schönen? Einige präzisieren, dass er schnelle Autos liebte, es ist schließlich Germaine Kieckens, die Klartext spricht: „Georges hat hohe Geschwindigkeiten immer geliebt. Er fuhr immer sehr schnell. 1952 hatten wir einen Unfall mit der Lancia Aprilia. Seitdem gehe ich am Stock.“ Hergé liebt den Geschwindigkeitsrausch. Er übersteht einen schweren Autounfall, seine Frau liegt monatelang im Spital, ihre Knochen sind beim Aufprall förmlich explodiert. Sie braucht vorübergehend einen Rollstuhl, wird ihr Leben lang auf einen Gehstock angewiesen sein. 

Hergés schlechtes Gewissen hält sich in Grenzen, er hat eine Affäre nach der anderen. Germaine nennt ihn einen „coureur de jupon“, einen Schürzenjäger, er begehrt alles, was einen Rock trägt. Vier Jahre später, es ist der Sommer 1956, stellt Hergé eine zusätzliche Koloristin in den Studios ein. Es ist das Model Fanny Vlamynck. Fünf Monate später sind sie ein Liebespaar, Hergé zieht Germaine ins Vertrauen wie ein Teenager seine Mutter, und schlägt eine Ehe zu dritt vor. Germaine lehnt ab. 

Hergé ringt mit seinen Dämonen, er braucht Germaine, aber er liebt Fanny, er träumt von weißen Flächen. Auf Anraten seines Freundes Raymond de Becker besucht er den Zürcher Psychiater Riklin. Dieser rät ihm, seine Dämonen zu akzeptieren und mit dem Schreiben aufzuhören, doch Hergé macht weiter. 1960 werden die weißen Flächen farbig, „Tim im Tibet“ erscheint. Hergé entscheidet sich für Fanny und nimmt sich eine Mietwohnung in der Nähe der Studios. Germaine bleibt alleine mit ihrem Gehstock auf dem Anwesen zurück. Tintin-Fans trösten sie und sagen, dass sie im Grunde genommen Hergé gemacht habe. Germaine war die Frau für den Aufstieg, Fanny ist die Frau, um das Leben im Zenit zu genießen. Germaine lernte den unsicheren Georges Remi kennen, Fanny den weltberühmten Hergé.

Fanny ist nun wichtiger als Tintin. Sein bisheriges Leben hat Hergé mehr oder weniger in einem Umkreis von 30 Kilometern verbracht, jetzt entdeckt er das Reisen, das Reisen mit Fanny. In den Studios werden die Kaffeepausen länger. Die Fixkosten bleiben, die Einnahmen gehen zurück. Während Hergé seine Flitterwochen genießt, leisten sich seine Co-Autoren einen Scherz. Beim Besuch eines Schweizer Journalisten lassen sie absichtlich ihre Zeichnungen für ein angeblich neues Album herumliegen. Der Reporter zweifelt nicht daran, dass diese von Hergé sind. Im Schweizer Magazin L'Illustré berichtet er von einem neuen Album, die Fans jubeln. Hergé macht nach seiner Rückkehr gute Miene zum bösen Spiel. Jetzt weiß die ganze Welt, dass seine Co-Autoren genauso so gut sind wie er, eher besser, weil unverbraucht, moderner und motivierter. Seit Kriegsende leidet Hergés Kreativität. Greg darf ein Album machen, „Tintin et le Thermozéro“. Hergé stoppt nach 40 Seiten die Arbeit, weil Greg eine Namensnennung verlangt, wenigstens eine als Co-Autor.

In den nächsten 23 Jahren erscheinen gerade noch drei neue Alben, es sind mit Abstand die schlechtesten. Im gleichen Zeitraum erscheinen 27 neue Asterix-Bände. Hergé hat keine Lust mehr, es ist ihm manchmal fast peinlich, Comic-Autor zu sein. Er möchte in den Kreis der Andy Warhols und Roy Lichtensteins aufgenommen werden, versucht sich als Kunstmaler, doch nach siebenundreißig Gemälden gibt er auf und gesteht seiner Frau, dass er „nie mehr sein würde als ein Sonntagsmaler“. Er sammelt fortan, was er selbst nicht zustande brachte. Er verliert sein Interesse an Tintin, verkehrt bis an sein Lebensende im Kreis von Gleichgesinnten. Den religiösen und ideologischen Trash, den man ihm als Kind verabreicht hat wie eine Schluckimpfung, wird er nie abschütteln, wollte er nie loswerden. Er hat stets die ideologische Ligne Claire seines Mentors, Pater Wallez, verfolgt. 

Hergé erkrankt an Leukämie, seine Freunde Stéphane Janssen und Gabriel Matzneff sagen später, er habe sich während der Behandlung auch noch mit einer verseuchten Blutkonserve angesteckt, Aids. Hergé stirbt am 3. März 1983 im Universitätsklinikum Saint-Luc in der Umgebung von Brüssel. 

Hergé hat testamentarisch verfügt, dass seine Witwe Fanny Alleinerbin ist und dass niemand nach seinem Tod neue Tintin-Alben zeichnen darf. Er nimmt alles mit ins Grab. Fanny übergibt vor versammelter Mannschaft Bob De Moor Hergés Bleistift. Er ist der designierte Nachfolger. Doch wenig später schließt Fanny die „Studios Hergé“, denn ohne neue Tintin-Alben wird es auch keine neuen Einnahmen geben. Dass Hergé mit seinem Testament alle seine langjährigen Mitarbeiter und Co-Autoren über Nacht auf die Straße stellt, musste ihm bewusst sein. Aber Dankbarkeit war nicht sein Ding, konnte seine Sache nie sein, dafür war sein Ego zu groß: Die Welt schuldet ihm alles, er schuldet ihr nichts. 

Im Gegensatz zu den Schöpfern von Asterix, Lucky Luke und vielen anderen gönnt er niemandem einen Nutzen aus seinem Werk, gönnt er den Fans keine weiteren Geschichten. Nach ihm die Sintflut. Wahrscheinlich fürchtete er auch, und dies nicht zu unrecht, dass Bob De Moor, Jacques Martin, Greg und wie sie alle hießen, die besseren Alben publizieren würden.

Fanny heiratet später den Londoner Souvenirhändler Nick Rodwell, der heute der starke Mann im Tintin-Universum ist. Da die Rechte an den Alben bei Casterman liegen, kann die Erbin nebst den Autorenhonoraren von jährlich rund einer Million Euro nur mit Merchandising Geld verdienen. Sie flutet die Märkte mit Sammler-Artikeln, die bis zu 5.000 Euro kosten. Das Zielpublikum sind ergraute Tintin-Fans, die Erinnerungen an ihre Kindheit kaufen, Erinnerungen an eine Zeit, in der sie mithilfe der Fantasie der Erwachsenwelt entflohen und sich an Bord der Licorne oder im Schatten des Arumbayafetisch vergnügten. Dass Hergé Millionen von Kinderherzen mit dem Gift des Antisemitismus verseucht hat, sieht man ihm nach. Die Liebe der Fans gehört nicht dem Schöpfer, sondern seinen Figuren.

Der Psychologe Eric Leroy erklärte 1999 im Journal du Dimanche: „Kindheitserinnerungen sind unbezahlbar. Die Sammler kaufen zu Goldpreisen, was sie zwischen den Fingern hielten, als sie noch Kind waren“. Maxime Benoît-Jeannin klagt hingegen beim Anblick von Hergés Grab, einer einfachen Grabplatte aus Zement: »In diesem Bunker ruht ein Antisemit und ein Rassist, der nie um Verzeihung bat und das Kind betrogen hat, das ich damals war. (...) Er war ein Faschist ohne Reue.« 

Noch im fortgeschrittenen Alter gesteht Hergé Numa Sadul: „Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich ohne Zweifel zögern, ihre Heirat mit einem Ausländer gutzuheißen, und zwar, um ihr zukünftige Probleme zu ersparen. Wenn ich so darüber nachdenke, vielleicht bin ich immer noch ein Rassist.« 

Trotz der eindeutigen Faktenlage schreibt im September 2016 die französische  Wirtschaftszeitung „Les Echos“ zur Eröffnung der Hergé-Ausstellung im Pariser „Grand Palais“, Hergé sei nie Pro-Nazi gewesen, und die anwesenden Medienschaffenden feiern ihren Hergé als „größten Zeichner des 20. Jahrhunderts“. Ironischerweise trägt die Ausstellung den Titel: „Die kleinen Geheimnisse der großen Alben“.

Am 10. Juni 1977 schreibt Hergé seinem Freund Matthieu Londin: „Alles, was mit Zeichnungen und Illustrationen zu tun hat, ist für mich unerträglich geworden.“ Doch wenige Wochen vor seinem Tod diktiert er seinem Biographen Benoît Peeters: „Wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich in Tintin mein ganzes Leben gelegt habe“. Es ist das beliebteste Hergé-Zitat. Es dient dem Mythos Hergé, mehr nicht. Es ist die letzte Lebenslüge eines Künstlers, der Großartiges geleistet hat, aber alles andere als  großartig war. 

Von Autor Claude Cueni, ist soeben der parodierende Roman „Warten auf Hergé“, erschienen (November 2018, Münsterverlag, Euro 24,- Weitere Angaben auf www.cueni.ch). Zum Inhalt: Comic-Figuren altern nie. Doch eines Morgens stellen Tintin-Lutin und Kapitän Schellfisch erschreckt fest, dass sie älter werden. Sie machen sich auf die Suche nach ihrem Schöpfer und entdecken hinter dem Mythos Hergé einen Womanizer und Strassenrowdy, der Werbeplakate von Faschisten illustrierte, antisemtische Cartoons für die Nazis zeichnete und nach dem Krieg wegen Kollaboration mit einem Berufsverbot und dem Verlust der Bürgerrechte belegt wurde.  Der Autor ist mit Tintin aufgewachsen, seine Muttersprache ist französisch. Er hat alle Biographien und Interviews in der Originalsprache gelesen und mit über 150 Fussnoten und Quellenangaben aufgeführt.

Ende der Serie. Die bisherigen Folgen:

90 Jahre Tim & Struppi, Teil 1

90 Jahre Tim & Struppi, Teil 2

90 Jahre Tim & Struppi, Teil 3

90 Jahre Tim & Struppi, Teil 4

Foto: Cueni

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