90 Jahre Tim & Struppi (2)

Von Claude Cueni.

Es ist Pater Wallez, der Tintins Reisepläne festlegt. Mit dem ersten Band „Tintin au pays des Soviets“ soll das Elend einer kommunistischen Diktatur aufgezeigt werden. Anschließend soll Tintin in den Kongo, um der belgischen Jugend verständlich zu machen, wieso die „dummen Neger“ ohne die überlegenen Kolonialherren keinen Nagel einschlagen können. 

Aber zuerst muss Hergé „seinem“ Tintin Leben einhauchen, Charakter und Eigenschaften. Er selbst taugt nicht als Vorbild. Hergé ist ein ängstlicher Junge ohne Selbstbewusstsein, fast noch ein Kind, wie Wallez' Sekretärin, Germaine Kieckens, wiederholt bemerkt. Aber es gibt da einen anderen jungen Mann in der Redaktion, der all das verkörpert, was Hergé gerne gewesen wäre: sein Pfadfinderkollege „Léon, le Beau“, Léon, der Schöne. Er ist nur gerade ein Jahr älter als Hergé, sie sind die Einzigen in der Redaktion, die sich duzen, zwei beste Freunde. Léon ist mittlerweile ein charismatischer Dandy mit blonder Haartolle. Der extrovertierte Exzentriker trägt Golfhosen.

Hergé gesteht im Dezember 1975 der Zeitung La Libre Belgique: „Ich habe dank Léon Degrelle die Comics entdeckt“, bestreitet aber, dass Léon Degrelle die Vorlage für Tintin gewesen sei, denn sein Kumpel Léon wird einige Jahre später der Führer der Rexisten, der Vereinigung belgischer Faschisten. Degrelle erlangt als „Hitler Belgiens“ internationale Berühmtheit, wird SS-Obersturmbannführer und von Adolf Hitler persönlich mit Eichenlaub und Schwertern ausgezeichnet. Noch in den 1950er Jahren bestellt Hergé bei seinem diskreten Lausanner Buchhändler die Rechtfertigungsschriften Degrelles und lobt sie in Briefen an seine Freunde. Hergé behauptet später, sein jüngerer Bruder Paul hätte ihn inspiriert, weil seine Schulkollegen ihn „Tintin“ nannten, aber sie nannten ihn „Tintin“ in Anlehnung an Benjamin Rabiers „Tintin-Lutin“. Pauls Charakter und Erscheinungsbild hatten hingegen mit Tintin soviel gemeinsam wie eine Eidechse mit einer Telefonzelle. 

Norbert Wallez, Léon Degrelle, Germaine Kieckens und Hergé sind auch privat eng miteinander verbunden. An Sonntagen fahren sie oft aufs Land hinaus und essen zusammen zu Mittag. Rexisten unter sich, wie Léon Degrelle später in seiner Autobiographie „Tintin, mon copain“ berichtet. Er verrät auch, wie Hergé auf den Hund kam, bzw. auf den Foxterrier. Hergé mochte keine Hunde, Katzen hingegen sehr. Nur für Fotoshootings ließ er sich lächelnd mit einem Foxterrier ablichten. Degrelle berichtet, dass sie gemeinsam im Fotoarchiv des Vingtième Siècle nach einer Hunderasse suchen und sich von einer Fotografie aus dem Jahre 1918 inspirieren lassen.

Ein kleiner Spaß mit Hitlers Foxterrier

Das Bild ist im Reserve-Lazarett von Pasewalk aufgenommen. Es zeigt einen deutschen Gefreiten mit seinem Foxterrier. Und dieser Gefreite mit Schnauz ist kein Geringerer als der junge Adolf Hitler. Die Fotografie ist mittlerweile in zahlreichen Biographien abgebildet. Der britische Historiker Sir Ian Kershaw thematisiert Adolf Hitlers Foxterrier „Fuchsl“ in Band eins seiner preisgekrönten Hitler-Biografie: „Hitler: 1889-1936“. 

Degrelle, der Faschist, der zum Nazi mutiert war, wollte mit „Tintin, mon copain“ ohne Zweifel seine Kriegsmemoiren promoten, das zeigt bereits die Titelwahl und das Cover mit Tintin in Nazi-Uniform. Das Buch war in erster Linie die 233-seitige Autobiographie eines Unbelehrbaren. Ob er tatsächlich die Vorlage für Tintin war, kann heute niemand mehr beantworten. Dass Autoren und Regisseure gerne versteckte Insider-Scherze platzieren, ist bekannt. Ähnlich wie Hitchcock gönnte sich Hergé in einigen Alben kleine Auftritte, meist versteckt in der Menge.

In „Le sceptre d’Ottokar“ verewigt er zahlreiche seiner Freunde, in anderen Alben karikiert er die einen als Mumien, die anderen als Deppen, in „Les Bijoux de la Castafiore“ macht er sich über seine Ex-Frau lustig. Einmal nennt er eine Straße „Calle 22 de mayo“, das ist der 22. Mai, sein Geburtstag. Wallez, Degrelle und Hergé waren für ihren Humor bekannt. Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn sie sich mit Hitlers Foxterrier einen kleinen Spaß erlaubt hätten. Dieses ideologische „Product Placement“ mag eine plausible Erklärung sein, aber was plausibel daherkommt, muss nicht wahr sein.

Nachdem Tintin aus der maroden Sowjetunion zurückgekehrt ist, schickt ihn Wallez in den Kongo. Dieser zweite Band hat die Gemüter erhitzt und zwar nicht 1931, als er erschien, sondern mehr als ein halbes Jahrhundert später, als der Zeitgeist ein anderer war. Der kongolesische Student Bienvenu Mbutu Mondondo hatte in Brüssel eine Rassismus-Klage eingereicht. Er wollte das Buch verbieten lassen, weil die Afrikaner als „dumm, arbeitsscheu und unfähig“ dargestellt wurden und „jeden Menschen schwarzer Hautfarbe beleidige“. Das Gericht lehnte die Klage ab mit der Begründung, „Tintin au Congo“ stachle nicht zum Rassenhass auf, sondern widerspiegele die Darstellung von Afrikanern in der damaligen Zeit. 

Bilder von Körben mit amputierten Gliedmaßen

Die Biographen erwähnen „diese Jugendsünde“ des damals 24-Jährigen gerne in einer Ausführlichkeit, dass man sich fragt, ob hier nicht etwas ganz anderes vernebelt werden soll: Die Kongogräuel. Die Konzessionsgesellschaften des belgischen Königs Leopold II. versklavten in den Jahren 1888 bis 1908 zehntausende von Kongolesen und zwangen sie zur Arbeit auf den Kautschukplantagen Ihrer Majestät. Wer sein Tagessoll nicht erfüllte, dem wurde oft die linke Hand mit der Machete abgehackt. Bilder von Körben mit amputierten Gliedmaßen gingen damals um die Welt. Ganze Dörfer wurden in Geiselhaft genommen, um die Arbeiter zu mehr Leistung anzuspornen, Frauen wurden vergewaltigt, Kinder ermordet. Zwischen acht und zehn Millionen Kongolesen fanden in der privaten Kolonie des belgischen Königs den Tod. Hergé sagt später, er habe davon nichts gewusst. Ist das möglich? 

Als Hergé 1930 die ersten Seiten zeichnete, war der Völkermord an den Kongolesen seit 22 Jahren beendet. Aus heutiger Sicht liegt der Holocaust 73 Jahre zurück. Können wir uns noch daran erinnern, dass es einen Holocaust gab? Hergé arbeitete auf einer Zeitungsredaktion und wusste von all dem nichts? Die Biographen glauben das wohl selber nicht und vermeiden es deshalb, Hergés „Tintin au Congo“ in einen historischen Kontext mit den Kongogräueln zu stellen. Selbst Sachverhalte, die Hergé später bestätigt, bestreiten sie mit Vehemenz.

1932 drängt Norbert Wallez seine Sekretärin Germaine Kieckens, Hergé zu heiraten. Sie sträubt sich. Sie hat eine zerbrochene Liebesbeziehung hinter sich und steht auf ältere, reifere Männer, richtige Männer wie Wallez. Hergé ist ihr zu grün hinter den Ohren. Aber Wallez drängt und die beiden können ihrem Übervater nicht widerstehen und heiraten 1932. Hergé ist 25, Germaine ein Jahr älter. Sie hat von Anfang an die Hosen an. Es ist die resolute Germaine, die Hergé dazu bringt, seinen Traum von einem Atelier für Werbegrafik aufzugeben und voll auf Tintin zu setzen. Die dominante Frau ist nicht nur Hergés Gemahlin, sondern auch Coach und Therapeutin. Wenn Hergé ein Problem hat, schickt er stets Germaine vor, um das Unangenehme zu erledigen. 

Claude Cueni ist Schweizer Schriftsteller. Soeben ist von ihm erschienen „Warten auf Hergé“, Roman, Neuerscheinung November 2018, Münsterverlag, Euro 24,- Weitere Angaben auf www.cueni.ch

 

90 Jahre Tim & Struppi, Teil 1

90 Jahre Tim & Struppi, Teil 3

90 Jahre Tim & Struppi, Teil 4

Foto: Newtown grafitti Flickr CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

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Rainer Möller / 14.11.2018

Was soll uns das jetzt sagen? Belgien ist ein kleines Land, wo jeder jeden kennt; und nach 1945 wusste jeder, den es interessierte, dass Hergé kein linker Resistancekämpfer war, sondern in einem rechtskatholischen Netzwerk arbeitete. Nur: nach 1940 hatte Roosevelt die konservativen Katholiken gebraucht, um sie in seine Kriegskoalition einzubinden, und 1945 hatte die US-Regierung auf Zusammenarbeit mit den Kirchen gesetzt. Seitdem war es zunehmend wieder okay, konservativ und katholisch zu sein. Pech für die linken Resistancekämpfer. Hergé war erfolgreich, weil er einfach gut war. Tüchtige Fachleute sollte man besser nicht aus Gesinnungsgründen schurigeln (naja, bevor sie tot sind; dann kann man machen, was man will). Und man kann schon der Meinung sein, die Schwarzen im Kongo seien arbeitsscheu, ohne ihnen deshalb gleich die Arme abhacken zu wollen. (Ob die Schwarzen im Kongo durchschnittlich arbeitsscheuer sind als die Belgier, überlasse ich den Fachleuten.) Es gbt auch eine Wahrheit zwischen den Extremstandpunkten.

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