Wie Erdogans Bergbaupolitik die „unsterblichen“ Olivenbäume der Türkei aufs Spiel setzt.
Seit Jahrtausenden begleiten Olivenbäume die Menschheit – als biblisches Symbol des Neuanfangs, als Zeichen des Friedens, der Weisheit, der Fruchtbarkeit. Die Schutzgöttin Athena soll der Stadt Athen durch einen einzigen Olivenbaum mehr geschenkt haben als Poseidon mit seinem Kriegspferd.
Heute stehen weltweit etwa 850 Millionen Olivenbäume – über 90 Prozent davon rund ums Mittelmeer. In der Türkei wachsen über 205 Millionen Bäume, viele davon in den fruchtbaren Ebenen der Ägäisregion. Es sind keine Plantagen im industriellen Sinn, sondern uralte Kulturlandschaften: kleinteilig, von Hand bewirtschaftet, generationsübergreifend vererbt.
Doch dieser stille Reichtum droht zu verstummen – nicht durch Dürre, sondern durch Dekret und Dynamit.
Flüssiges Gold, verramscht und verschmäht
Während Griechen im Schnitt 20 Liter Olivenöl pro Jahr verbrauchen, Spanier und Italiener knapp 10, liegt der Pro-Kopf-Verbrauch in der Türkei bei mageren 1,7 Litern. Obwohl das Land zu den größten Olivenölproduzenten weltweit gehört, gelten hochwertiges Öl und traditionelle Pressung als unmodern, ineffizient, „nicht rentabel“.
Gute Öle werden exportiert, minderwertige raffiniert und wieder eingeführt. Im Supermarkt gelten sie als „Luxusprodukte für Städter“, während auf den Dörfern billiges Sonnenblumenöl dominiert. Das hat Folgen: Was auf dem Tisch nichts gilt, gilt auch in der Politik nichts. Olivenbäume sind entbehrlich geworden – wirtschaftlich entwertet, kulturell entkernt.
Gesetzgebung im Akkord – vom Schutzgut zur Schürfmasse
Seit dem Amtsantritt der AKP 2002 wurde das türkische Bergbaugesetz über 20-mal geändert – immer zugunsten der Industrie. Lizenzen wurden erleichtert, Umweltauflagen gestrichen, lokale Mitsprache beschnitten.
Besonders perfide war der Vorstoß vom 1. März 2022:
Das Energieministerium erließ eine Verordnung, die selbst gesetzlich geschützte Olivenhaine für den Tagebau freigibt – entgegen dem Olivengesetz von 1939, das Eingriffe im Umkreis von drei Kilometern untersagt. Zwar kippte der Staatsrat das Dekret – doch Ankara ließ nicht locker: Der Wortlaut wurde in ein Sammelgesetz gepackt, das scheinbar harmlose Verwaltungspunkte behandelte – und so unbemerkt durchgewunken wurde.
Das ist kein Verwaltungsakt – das ist juristische Guerillataktik.
„Öffentliches Interesse“ – oder doch privater Raubbau?
Zentraler Hebel der Umwandlung: der Begriff kamu yararı – öffentliches Interesse. Früher bedeutete das: Schulen, Krankenhäuser, Infrastruktur. Heute reicht es, dass ein Projekt „zur Energiesicherheit beiträgt“, um Naturschutz, Denkmalschutz oder Eigentumsrechte auszuhebeln.
Die Folge:
– Enteignung per Erlass
– Rodung ohne Rücksicht
– Bergbaulizenzen auf landwirtschaftlich genutztem Grund
– Naturschutzbehörden werden zu Statisten
Dabei geht es nicht um Kupfer für die Energiewende. Es geht um billiges Erz, Marmor, Nickel – exportfähig, ertragreich, kurzlebig.
Die üblichen Profiteure
Wer sind die Gewinner? Wieder einmal die altbekannten Bau- und Rohstoffkonzerne:
Cengiz, Limak, Kolin, Kalyon, Makyol – AKP-nahe Konglomerate mit besten Drähten zur Regierung. Diese fünf Unternehmen werden in der Türkei als „Die Fünfer-Bande“ bezeichnet. Darüber gibt es sogar ein Wikipedia Eintrag.
In Provinzen wie Manisa, Muğla, Aydın oder Balıkesir laufen bereits Rodungen. Ganze Berghänge wurden für Bauxit- und Lignit-Abbau entwaldet, darunter auch jahrhundertealte Olivenhaine.
Viele stehen auf „Staatsland“ – das per Kabinettsbeschluss kurzfristig zu „Industriegebiet“ umdeklariert wurde. Kritische Bürgermeister wurden suspendiert, Umweltklagen verschleppt.
Was zählt, ist nicht das Land – sondern wer Zugriff darauf hat.
Landwirtschaft raus, Abhängigkeit rein
Die Türkei war einmal Selbstversorger. Heute importiert sie Grundnahrungsmittel wie Weizen, Mais, Reis, Kichererbsen – und bald vielleicht auch Olivenöl. Während Küstenregionen zu Hotelburgen und Zweitwohnsitzen für die Ukrainer, Russen, Katarer und Golf-Eliten zementiert werden, verliert das Inland seinen Boden an den Tagebau.
Der Deal ist klar:
Heute ein paar Devisen – morgen verbrannte Erde. Ein 15-jähriger Olivenbaum braucht Jahrzehnte, um wirtschaftlich zu tragen. Ein Bagger braucht Minuten, um ihn zu fällen.
Moderne Invasion ohne Truppen
Die Türkei wurde einst durch bewaffneten Widerstand unabhängig – heute verliert sie ihre Souveränität schleichend, durch Importabhängigkeit und Privatisierung:
– Energie aus Russland
– Getreide aus der Ukraine
– Öl aus dem Nahen Osten
– Milchprodukte aus der EU
Kein Soldat marschiert ein. Aber die Kontrolle über Ernährung, Energie und Wasser ist längst nicht mehr in inländischer Hand.
Erdogans neue Republik ist keine Agrarnation mehr – sondern eine Rohstoffhalde mit Betonkruste und Devisensucht.
Was kostet ein Olivenbaum?
Ein einzelner Baum liefert über seine Lebenszeit rund 1.000 Liter Öl, bindet CO₂, kühlt das Mikroklima, erhält Böden und Biodiversität – ganz zu schweigen von seiner kulturellen Bedeutung.
Fällt auch nur ein Viertel der 200 Millionen Bäume, also 50 Millionen, steigen die Ölpreise weltweit. Doch das eigentliche Drama ist lokal:
– Verlust von Kulturlandschaften
– Aussterben traditioneller Anbauformen
– Vertreibung von Kleinbauern
– Entwertung jahrtausendealter Lebensräume
Weltkulturerbe lässt sich nicht auf Biodiversitäts-Konten gutschreiben.
Fazit:
Wer Olivenbäume fällt, fällt mehr als nur Bäume. Er zerschlägt Geschichte, Identität, Zukunft. Doch die Regierung Erdoğan ist bereit, diesen Preis zu zahlen – für ein paar Jahre Exportüberschuss und den Applaus internationaler Rohstoffhändler.
Wenn der letzte Ölzweig gefällt ist, wird die Türkei feststellen: Man kann flüssiges Gold nicht trinken – aber den Staub aus dem Tagebau schluckt man noch Jahrzehnte später.
Ahmet Refii Dener ist Türkei-Kenner, Unternehmensberater, Jugend-Coach aus Unterfranken, der gegen betreutes Denken ist und deshalb bei Achgut.com schreibt. Mehr von ihm finden Sie auf seiner Facebookseite und bei Instagram.