Hans Scheuerlein, Gastautor / 13.03.2021 / 14:00 / Foto: Fredamas / 18 / Seite ausdrucken

50 Jahre „Aqualung“ von Jethro Tull und der lange Atem der Lokomotive

Von Hans Scheuerlein.

Ich muss um die zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich mit meinem großen Bruder im Fernsehen einen Film über Jethro Tull anschaute. Ich hatte bis dahin noch nie Menschen mit so unglaublich langen Haaren gesehen. Das Bild, das sich mir regelrecht ins Hirn eingebrannt hat, ist, wie einer von ihnen auf einer Kinderschaukel hin und her schwang und aussah wie der vergammeltste aller Gammler (das war damals das geläufige Schmähwort für alle Langhaarigen). Nicht lange danach hielt ich eine neue Schallplatte meines Bruders in der Hand, auf der ein abgehalfterter Landstreicher abgebildet war, der dem Mann auf der Schaukel ziemlich ähnlich sah. Zudem waren darauf in altertümlichen Lettern die Namen „Jethro Tull“ und „Aqualung“ gedruckt. Das Cover fühlte sich an wie Leinen und wirkte wie ein Gemälde. Dazu ließ es sich auch noch aufklappen. Im Inneren war dann – ebenfalls wie gemalt – eine Gruppe von Männern bei einem Saufgelage oder ähnlichem zu sehen, die unschwer als die Typen aus dem Film zu erkennen waren. Ich war fasziniert von dieser konsequenten und in sich schlüssigen Gossenästhetik, die sich irgendwie auch in der Musik auf der Schallplatte widerspiegelte.

Jethro Tull, was zunächst nach einer einzelnen Person klang, war aber, wie mein Bruder mich belehrte, der Name der Band. Später fand ich heraus, dass er auf einen britischen Landwirt aus dem 18. Jahrhundert zurückging, der als Erfinder der Sämaschine gilt und eines der ersten Bücher über Ackerbewirtschaftung verfasst hat. „Aqualung“ war schon ihr viertes Album und bereits im März 1971 erschienen. So wie viele Bands aus den späteren sechziger Jahren fingen Jethro Tull zunächst als Bluesband an. Bald schon begannen sie jedoch folkige Einflüsse zu integrieren und sich vom Blues zugunsten progressiver Rockelemente abzusetzen. Mit „Aqualung“ gelang es ihnen nicht nur, diese eigenartige Mischung weiterzuentwickeln, sondern auf ein ganz neues Qualitätsniveau zu heben. Im Zusammenhang mit der Scheibe hörte ich auch das erste Mal den Begriff Konzeptalbum. Darunter versteht man im Allgemeinen, dass sich eine Idee oder ein Thema wie ein roter Faden durch alle Stücke zieht. Das wurde allerdings von Sänger und Songschreiber Ian Anderson höchstpersönlich bestritten – und der muss es ja schließlich wissen. Was man aber beim Betrachten des Plattencovers schon feststellen kann: Jede der beiden Plattenseiten trägt eine Überschrift. Die erste Seite steht unter dem Titel „Aqualung“, während die zweite Seite mit „My God“ überschrieben ist. So heißen dann auch die jeweils ersten Stücke auf den beiden Seiten. Handelt es sich nun lediglich um ein zweigeteiltes Album oder kann zwischen den beiden Plattenhälften auch ein thematischer Zusammenhang hergestellt werden, was die Scheibe dann doch zu einer Art Konzeptalbum werden ließe?

„Aqualung“ ist offenkundig der Name des heruntergekommenen Pennbruders vom Frontcover, der im Londoner Stadtteil Hampstead umherzieht und, gemäß dem gleichnamigen Song, von einer Parkbank aus lüstern kleine Mädchen auf dem Spielplatz beobachtet. In den Texten der A-Seite geht es dann immer wieder um Impressionen und Gedanken des Erzählers bei seinen Streifzügen durch die Straßen und Parks des Nobelviertels im Nordwesten der englischen Metropole. Auf der B-Seite, die mit „My God“ betitelt ist, befassen sich einige der Texte mit dem Unterschied zwischen Gott und Religion sowie zwischen persönlichem Glauben und den institutionalisierten Glaubenssätzen der Kirche. Im gleichnamigen Song wird der „bloody Church of England“ Heuchelei und der Missbrauch Gottes unterstellt, um ihr manipulatives Narrativ von Sünde und Erlösung unter die Menschen zu bringen. Dem wird die Ansicht entgegengehalten, dass das Göttliche in jedem Menschen stecke: „You are the god of everything. He's inside you and me.“ Und mit etwas Wohlwollen lässt sich der Text des letzten Albumtracks „Wind-Up“ dem Stadtstreicher Aqualung in den Mund legen, wenn es dort heißt: „In your pomp and all your glory you're a poorer man than me.“ Womit dann schließlich doch noch ein thematischer Bogen zur ersten Seite gespannt werden könnte.

Bis dahin noch nicht dagewesene Mischung aus progressivem Folk und Hardrock

Aber ich will eigentlich gar nicht so viel Gewicht auf die Texte legen, da Andersons Lyrik in hohem Maße interpretationsbedürftig ist und sich einer sehr persönlichen Bildsprache bedient, deren konkrete Bedeutung einem förmlich verschlossen bleiben muss. Außerdem geht es mir bei Musik dann doch vorrangig um die musikalische Substanz und weniger darum, wer was wie sagt. Solcherlei Ambitionen, mit Songtexten die „ganz wichtige Message“ transportieren zu wollen, gehen eh meist in die Hose. So betrachtet, lässt sich Jethro Tulls „Aqualung“ als eine interessante und bis dahin noch nicht dagewesene Mischung aus progressivem Folk und Hardrock beschreiben, bei der sich akustisches und elektrisches Material reizvoll miteinander abwechseln. Neben dem Titelstück, das drei musikalische Motive in sich vereint, mag ich besonders die kurzen, progressiven Folksongs, die wie Intermezzi zwischen den längeren Albumtracks fungieren. Allen voran das knapp zweiminütige „Wond'ring Aloud“ mit seiner raffinierten Akustikgitarre und dem wunderschönen Streicherarrangement, das im Prinzip genauso auch von Cat Stevens sein könnte.

Das Highlight des Albums – und das bekannteste Stück von Jethro Tull überhaupt – ist aber natürlich „Locomotive Breath“. Ein absoluter Klassiker der Rockmusik, der zum unverzichtbaren Pflichtrepertoire eines jeden halbwegs seriösen Lagerfeuergitarristen gehört. Allerdings beginnt es erst einmal mit einem Piano-Intro von Klavierspieler John Evans, das, von einem romantischen Motiv ausgehend, alsbald in jazzige Akkorde übergeht und dann in eine bluesige Improvisation mit Gitarrist Martin Barre einmündet, bevor es schließlich bei 1 Minute 20 Sekunden in sein eigentliches stampfendes und keuchendes Metrum übergeleitet wird. Dadada-Daa-Daa-Daa – Tschaka-tschaka-tschaka-tschak – Dadada-Daa-Daa-Daa – Tschaka-tschaka-tschaka-tschak … Klassisch!

„Aqualung“ wurde mit über sieben Millionen verkauften Exemplaren das erfolgreichste Album von Jethro Tull. Nicht zuletzt der daraus entsprungene Hit „Locomotive Breath“, der sich zum Radio-Standard und All-Time-Classic entwickelte, bescherte der Band eine lebenslange Karriere im Musikgeschäft. Wobei Sänger und Mastermind Ian Anderson mit seiner knarzigen Stimme und seinem impulsiven, spritzigen Querflötenspiel zu ihrem unverwechselbaren Markenzeichen wurde. Seit „Aqualung“ war auf vielen Hüllen der nachfolgenden Alben ein bärtiger Mann abgebildet, dessen Gesichtszüge denen des Bandleaders und Frontmanns zum Verwechseln ähnlich sahen. So schafft man sich ein einprägsames Image. Mit dem konnten Jethro Tull selbst in Frankreich Fuß fassen, trotz des für die Franzosen unaussprechlichen Namens. Sie sagten dann halt frei nach Schnauze einfach „Schättro Tüll“, worüber ich mich immer noch jedes Mal, wenn ich daran denke, kugeln könnte.

YouTube-Link zum Titelsong und Opener „Aqualung“

YouTube-Link zum progressiven Folksong „Wond'ring Aloud“

YouTube-Link zum All-Time-ClassicLocomotive Breath

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Klaus Lang / 13.03.2021

@ Harald Unger: Dem ist (leider, leider) so! King Crimson würde ich Ihrer Aufzählung noch hinzufügen wollen…und Bowie! @ Manfred Haferburg: Kein Schreikrampf - 100 %ige Zustimmung! @ M.Hartwig: Jedem, der sich an diese Epoche zurückerinnert ist klar, dass der Autor (langhaarige) Männer meint, auch wenn er unpräzise / unzutreffenderweise (langhaarige) Menschen schreibt. Deswegen gleich ordinär werden?

Karlheinz Patek / 13.03.2021

“Sitting on a park bench Eyeing little girls with bad intents”. Wird demnächst verboten, wenn die Gutmenschen da draufkommen. Aufruf zum sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen. Egal, hab da genügend Kopien davon. Schöner Artikel, ein Freund hat sich wegen Ian Anderson eine Querflöte gekauft und konnte die auch spielen (“Bouree”). Schauen sie mal auf das Plattencover, da steht “All selections written by Ian Anderson”. Ist der Mann überhaupt von dieser Welt, frage ich mich? Tipp “We used to know”, auf der Gitarre anspruchsvoll (@M. Haferburg, da gehts mir genauso). Was für ein irres Glück, mit welcher Musik ich aufwachsen durfte und diese bis heute aufsauge.

Ralf Kreibich / 13.03.2021

Danke für den Artikel! Zum Album ist eigentlich darin, und in den Leserbriefen sicherlich alles gesagt, was es zu sagen gibt. Was mich aber frappiert, ist etwas anderes - ich kenne den Autor nicht, und ich bin sicherlich auch unter ganz anderen Umständen sozialisiert worden. Dennoch habe ich jedes der bislang an dieser Stelle vorgestellten Alben im Schrank stehen - nicht unbedingt sein 1971, was aufgrund der Umstände für mich schwierig war, aber ich habe sie. Irgendwie ist es schon faszinierend, wie Musik Menschen vereint.

Rudolf Petersen / 13.03.2021

Wieder ein klasse Artikel über die Musik, die noch mit der Hand gemacht wurde. Klasse Musik.

Gerhard Döring / 13.03.2021

Ja das alles entdecke ich wieder,obwohl ich es kenne.Warum? Ich fuhr damals total auf die Beatles ab, jeder Song ein Kunstwerk.Immer noch, aber ich höre sie nicht so oft um sie nicht zu entweihen.Für mich sind es 4 Götter und zwar nur in dieser Konstelation,natürlich auch ihr Studiomann George Martin gehört dazu und wenn ihr mich fragt warum sich mein Leben gelohnt hat ist meine Antwort; um die Beatles zu hören! Nun krame ich aus meiner Plattensammlung auch anderes heraus und vieles gefällt mir erst heute,es wurde seiner Zeit durch meine Prägung durch die Beatles vollkommen überlagert und das ist für mich O.K.

Detlef Rogge / 13.03.2021

Damals lernte ich gerade Querflöte; es gelang mir nie, den Flötensound Andersons hinzubekommen. Im nächsten Leben werde ich wohl zur E-Gitarre greifen müssen, für den R&B/Rockfuzzi das Instrument der Wahl. Ja, man spürt förmlich das Schnaufen der Lock, herrlich. Auch sehr schön, Neil Young, mit Southern Pacific, hier sind Highball and Daylight auf der Schiene. Vielen Dank für Ihren Artikel.

Archi W Bechlenberg / 13.03.2021

Ich hasse Artikel, in denen es um etwas geht, das “vor 50 Jahren” geschah. Ab und zu schreibe ich ja selber solche Nachrufe auf die eigene Jugend, und auch da verfluche ich jedes Wort. Vieles ist so nah, als sei es gestern gewesen, und wenn man sich dann vor Augen führt, dass dieses “gestern” in Wirklichkeit ein halbes Jahrhundert her ist, dann… ach, Schwamm drüber. Danke für die Erinnerung, ich habe mir eben “Thick as a Brick” von den Tulls aufgelegt, die LP mit der fiktiven Zeitung zum ausklappen als Cover. “Blöd wie ein Ziegelstein”, ein schöner Album-Titel, und so aktuell.

Marc Blenk / 13.03.2021

Danke dafür, mein Gott, lange ist es her. Von 1978 bis Mitte der 80er auf allen Konzerten der Region gewesen. Es war jedesmal die reine Freude. Einmal auf einem Open Air in Wiesbaden auf den Rheinwiesen spielten neben anderen Jethro Tull, King Crimson und Neil Young. Heute undenkbar. Anderson ist noch heute ein umtriebiger Musiker, der sehr angenehm unprätentiös rüberkommt.

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