Vince Ebert / 22.10.2010 / 11:56 / 0 / Seite ausdrucken

40 Jahre Bildungsarmut

Gestern ging ich mit einem Bekannten durch die Stadt und habe in einem Anflug von Mitleid einem Obdachlosen einen Fünfer in den Teller geworfen. Dreht sich mein Bekannter zu ihm um und sagt: „Aber nicht für Alkohol ausgeben!“ „Ja für was denn sonst???“ Für ein Sonderheft von „Schöner Wohnen“?
Das höchste Armutsrisiko in Deutschland ist nicht unbedingt mangelndes Geld sondern mangelnde Bildung. Alleine in Berlin gibt es Bezirke, in denen 50 % der Menschen keine ordentliche Schulbildung haben. Und da ist das Regierungsviertel noch gar nicht mitgezählt. Berlin-Mitte macht Party und hält Voltaire für den Erfinder der Batterie. Oder möchte für ein halbes Jahr als „Ampere nach Frankreich“. „Du, in der Deutschen Oper kommt jetzt Aida!“ „Echt? Wie kriegen die nur das Schiff da rein?“
Aber war es früher wirklich besser? Die erste internationale Studie, in der das Bildungsniveau der europäischen Länder miteinander verglichen wurde, wurde bereits 1964 durchgeführt. Und in der kam z.B. heraus, dass deutsche Schüler in punkto Mathematik ziemliche Nieten waren. Und dann hat die deutsche Reformpädagogik was sehr, sehr Cleveres gemacht: Die haben an den Folgestudien einfach nicht mehr teilgenommen. „Leistungskontrolle? Oouh, das passt jetzt ganz schlecht – die Celina tanzt gerade ihren Namen…“
Mitte der 90ger dann der absolute Schock: Die PISA Studie. In der kam nämlich vollkommen überraschend heraus, dass 40 Jahre später die deutsche Schüler in Mathematik immer noch ziemliche Nieten sind. Und warum? Weil die Schüler von damals die Lehrer von heute sind. Irgendwie logisch.
Seitdem überlegen Bildungsexperten was man tun kann. Die einen sagen: Wir müssen uns am PISA-Gewinner Finnland orientieren. Das ist erst mal nicht schlecht. Denn die Finnen sind auch irgendwann mal auf eine geniale Idee gekommen. Die haben nämlich erkannt, dass Menschen, die Bildung vermitteln - selber gebildet sein sollten. Revolutionärer Gedanke. Jaja, die Finnen, ein verrücktes Volk…
Doch die Finnen haben noch etwas viel Wichtigeres erkannt. Sie haben herausgefunden, dass die Lebensphase, in der Bildungsunterschiede am besten ausgeglichen werden können, in der Frühphase, zwischen 4 und 7 Jahren liegt. Deswegen legen Finnen auf Frühförderung extrem viel wert. Dort lernen die Kinder mathematische Grundlagen, Sozialkompetenz und Sprachförderung. Finnische Erzieher sind gut ausgebildet, werden sehr gut bezahlt und haben in der Bevölkerung ein hohes Ansehen. In Deutschland dagegen das genaue Gegenteil: Hier ist Erzieher ein Niedriglohnjob und der Grundschullehrer ist der Klassenfeind. Das ist das Problem.
Okay, vielleicht liegt‘s ja auch am Fernsehkonsum. Ein deutscher Schüler hat mit 12 Jahren schon über 3000 Morde im Fernsehen gesehen. Kein Wunder, dass dem Bildung suspekt ist. Schließlich ist bekannt, was in Krimis mit Menschen passiert ist, von denen es hieß: „Er wusste zu viel!“

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