Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Deshalb muss ich etwas ausholen. Inspiriert zu diesem Beitrag hat mich ein alter WELT-Kommentar aus der Feder Enno von Loewensterns vom 24. Februar 1989 mit der Überschrift „Wessen Feindbild?“. In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989 war Chris Gueffroy an der Berliner Mauer erschossen worden, und man wusste im Westen noch nicht, dass sein Freund Christian Gaudian den Fluchtversuch schwerverletzt überlebt hatte.
NVA-General Heinz Keßler hatte nach den Todesschüssen behauptet, es gebe keinen Schießbefehl, obwohl er gerade erst wieder in die Tat umgesetzt wurde, während das SED-Zentralorgan, das „Neue Deutschland“, ihm ebenso tiefernst sekundierte, der Westen hätte ein „Feindbild“, das die Ostblockstaaten bedrohe. Nun aber hatten die gescheiterten, wehrlosen Flüchtlinge niemanden bedroht, und die WELT konterte im besagten Kommentar sehr treffend, im Westen habe niemand ein Feindbild:
„Das Feindbild wird jenseits der Mauer gepflegt. Es heißt Freiheit und Selbstbestimmung. Solange sie darauf schießen, solange sind nicht nur die Fliehenden am Neuköllner Kanal gefährdet.“ Exakt diese Sätze haben sich in mein Gedächtnis unauslöschlich eingebrannt.
Die ersten drei Monate des Jahres 1989 stehen auch für die letzten drei Toten der Berliner Mauer. Ihre Namen und Schicksale sind größtenteils vergessen: Ingolf Diederichs (13.04.1964 – 13.01.1989), Chris Gueffroy (21.06.1968 – 05.02.1989) und Winfried Freudenberg (29.08.1956 – 08.03.1989).
Alle drei waren sie 1989 junge Menschen, die ohne die fast unüberwindlichen Grenzsperranlagen mitten durch Berlin und Deutschland mit großer Wahrscheinlichkeit noch heute am Leben wären. Der Schießbefehl gegen die eigene Bevölkerung war „die Todesstrafe ohne Prozeß“, sagte Norbert Blüm 1987 mit einer Deutlichkeit, die man zuvor aus seinem Munde vermisst hatte, wie auch aus dem Munde etlicher westdeutscher Politiker, die seltsam blind gegenüber dem Leid ihrer eigenen Landsleute waren. Man scheute sich zwar nicht, einem Botha oder einem Pinochet tapfer ins Gesicht zu sagen, was man von ihnen hielt, derlei Deutlichkeit jedoch mied man gegenüber der SED- und KPdSU-Führung.
Der Schießbefehl wurde von Anfang an geleugnet
Selbstverständlich trug die Sowjetunion als einer der Inhaber der alliierten Vorbehaltsrechte der vier Mächte über Deutschland als Ganzes eine unmittelbare Verantwortung für die erzwungene Teilung Deutschlands und Europas, die dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ebenso wie den Menschenrechten Hohn sprachen, und damit auch für die Vorkommnisse an der Berliner Mauer und entlang der innerdeutschen Demarkationslinie. Der Verweis auf Hitler ist hier fehl am Platze, denn kein Unrecht der Welt kann durch neues Unrecht wiedergutgemacht werden, das im übrigen nicht nur die Deutschen, sondern halb Europa traf.
Der Schießbefehl wurde zwar von der SED von Anfang an geleugnet, doch niemand anders als Erich Honecker höchstselbst erklärte 1974 vor dem „Nationalen Verteidigungsrat der DDR“, „bei Grenzdurchbruchversuchen“ müsse „von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden“ und er forderte, „die Genossen, die die Schußwaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen“ [„Die Mauer. Fakten, Bilder, Schicksale.“, Hrsg. Kai Diekmann, Piper 2011, Seite 97]. Ein Staat, oder vielmehr ein Unstaat, weil niemals durch seine Bevölkerung durch ein demokratisches Mandat legitimiert, der seine eigenen Bürger hinter Mauer und Stacheldraht wegsperrte, der war nicht „ein bißchen Unrechtsstaat“. Das schloss selbstverständlich nicht aus, dass nicht jeder gleichermaßen unter der SED-Diktatur litt; dass nicht jeden gleichermaßen der Zorn der SED traf, der sich dem Druck des Regimes zu entziehen versuchte. Günter Grass hatte dennoch sehr viel Unheil mit seinem Satz angerichtet, die DDR sei eine „kommode Diktatur“. Nein, das war sie nicht, und es ist Henryk M. Broder zu danken, dass er dazu sehr deutliche Worte zum Tode des Schriftstellers in der BILD-Zeitung am 25.04.2015 fand:
„Der große ‚Warner und Visionär‘, die ‚moralische Instanz‘, die angeblich jenen ein Dorn im Auge war, die das Vergangene möglichst schnell vergessen machen wollten, hatte sein eigenes Gastspiel bei der Waffen-SS vergessen. Die deutsche Teilung war ihm die gerechte ‚Strafe für Auschwitz‘, die DDR kein Unrechtsstaat, sondern eine ‚kommode Diktatur‘. Er konnte so dröhnen, weil er ‚die Strafe für Auschwitz‘ nicht in der DDR, sondern in der kommoden Bundesrepublik absitzen konnte, deren Kulturbanausen solche Narreteien mit Applaus belohnten.“
Selbstmörderische Planspiele mit Linkpartei – in der CDU
Dem ist nichts hinzuzufügen. Ansonsten steht mir nicht zu, über Menschen zu urteilen, die sich in einer Diktatur, ganz gleich unter welchen Emblemen, aus Angst wegduckten oder zumindest nach außen hin anpassten, in der Hoffnung, dabei unbehelligt zu bleiben. Die wenigsten Menschen haben das Zeug zum Helden, der sich tapfer gegen jedes Unrecht stellt. Die Mehrheit wird immer versuchen, sich durchzuwuseln, um sich selbst und ihre Familien zu schützen, und das ist durchaus legitim.
Man kann und darf Durchschnittsbürger einer Diktatur nicht mit ihren Tätern und willentlichen Mitläufern in einen Topf werfen. Doch der gerne bemühte Satz, „Es war nicht alles schlecht“, ließe sich über das Leben unter jedem Unrechtsregime sagen. Es wäre schlimm, wenn es unter menschenverachtenden Diktaturen nichts Positives und keinerlei Lichtblicke für die Menschen gab und gäbe. Doch diese Lichtblicke gab und gibt es nicht wegen, sondern trotz der Diktatur.
Es war die PDS, die sich in den 1990er Jahren erfolgreich darauf verstand, diesen grundlegenden Unterschied zu verwischen und viele Menschen glauben zu machen, wer das SED-Regime kritisiert, der wolle die Menschen um ihre positiven privaten Erinnerungen und um ihre Lebensleistung unter einem Regime bringen, das sie um die Früchte ihrer Arbeit betrog. Die ostdeutsche Wirtschaft taugte in der Tat nichts, aber sie war nicht Sache der Bevölkerung, sondern der SED. Die Normalbürger versuchten in der Regel, das Beste aus der ihnen vorliegenden Situation zu machen, und es gelang ihnen häufig dank ihres bewundernswerten Improvisationstalents. Es wäre zweifellos wichtig und nötig gewesen, diese entscheidende Nuance nach der Wiedervereinigung in Politik und Gesellschaft herauszustellen. Das wurde versäumt und rächt sich bis heute.
Schlimmer noch: Mittlerweile haben vereinzelt sogar CDU-Politiker wie Daniel Günther und Ingo Senftleben ganz offen darüber nachgedacht, mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten, um an die Macht zu kommen oder um sie zu sichern, ganz so, als wäre die mehrfach umbenannte SED eine Partei wie jede andere auch. Doch genau das ist sie nicht, kann sie niemals sein. Wenn die Union nicht möglichst bald begreift, dass gerade ihr lange treuestes Wählerklientel, das heute verschriene liberal-konservative Bürgertum, keine weiteren sozialistischen Experimente will und sich nicht endlos lange demütigen lässt, dann wird sie eher früher als später das gleiche Schicksal wie das der SPD ereilen und auch sie zur „Volkspartei ohne Volk“ werden. Selbstmord aus Angst vor dem Tod ist keine Option und keine Strategie, mit der man der AfD erfolgreich Wähler abjagen könnte.
Das Feindbild heißt nach wie vor Freiheit und Selbstbestimmung
Nicht diesem Umstand allein, aber auch der Tatsache, dass die Union viele ihrer ureigenen Wertvorstellungen kampflos der AfD überlassen hat, ist zu verdanken, dass das Feindbild, das allen totalitären Ideologien eigen ist, völlig aus dem Blickfeld geraten konnte. Dieses Feindbild heißt nach wie vor Freiheit und Selbstbestimmung. Es sind Werte, für die die Unionsparteien einmal stärker einstanden als alle anderen, und in deren Fokus der eigenverantwortlich handelnde, frei denkende, mündige Bürger steht. Genau dieser Bürger erscheint sämtlichen Ideologen und Fanatikern als der denkbar schlimmste Feind.
Doch nur ein echter Gedankenaustausch, der sich nicht mit „politisch korrekten“ Sprachregelungen und mit der Angst vor Diffamierungen verträgt, wenn man sich nicht an die einengenden gesinnungspolitischen Vorgaben hält, kann eine Gesellschaft zu lebhaften und zukunftsweisenden Debatten und Problemlösungen beflügeln. „Die totalitäre Welt bringt Rückständigkeit hervor, weil sie dem Geist Gewalt antut, dem menschlichen Drang zuwiderläuft, zu schaffen, zu genießen und zu verehren“, so Ronald Reagan am 12. Juni 1987 vor dem Brandenburger Tor. Auch John F. Kennedy brachte es in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus am 26. Juni 1963 auf den Punkt, als er sagte, „Ein Leben in der Freiheit ist nicht leicht, und die Demokratie ist nicht vollkommen. Aber wir hatten es nie nötig, eine Mauer aufzubauen, um unsere Leute bei uns zu halten und sie daran zu hindern, woanders hinzugehen.“ Die Menschen bleiben und bringen sich gerne ein, wenn man ihnen ihre Freiheit lässt, die sie brauchen wie die Luft zum Atmen.
Daran sollten sich gerade im siebzigsten Jahr des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland, im siebzigsten/einundsiebzigsten Jahr der Berliner Luftbrücke und im dreißigsten Jahr der Friedlichen Revolution all jene erinnern, die heute im Bund und in den Ländern Regierungsverantwortung tragen. Alle diese Ereignisse sind geprägt vom Freiheitswillen der Deutschen, den zu würdigen unseren Politikern kaum je in den Sinn kommt, obwohl der Erfolg der Bundesrepublik ohne ebendiesen Freiheitswillen nicht hätte geschrieben werden können.
Rein ideologisch motivierte Denk- und Sprechverbote führen nicht nur regelmäßig zum Scheitern ganzer Systeme, sondern auch zum Rückzug ins Private, weil die Angst vor Repressalien die Menschen lähmt. Hierzu ist mir ein „Witz von drüben“ in bester Erinnerung geblieben, und es erschreckt mich, wie gefährlich er der Situation im heutigen Deutschland nahekommt:
„Fünf Grundsätze des Sozialismus:
- Denke nicht!
- Wenn du denkst, sprich nicht!
- Wenn du denkst und sprichst, schreibe nicht!
- Wenn du denkst, sprichst und schreibst, unterschreibe nicht!
- Wenn du denkst, spricht, schreibst und unterschreibst, wundere dich nicht!“
Viele Menschen haben heute wieder Angst, offen ihre Meinung kundzutun; und das trotz der grundgesetzlich verbrieften Meinungsfreiheit, die gerade vor Konsequenzen schützen soll, solange die Äußerungen nicht den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlassen. Es ist eine Situation, die wir längst überwunden zu haben glaubten, die schleichend zurückgekehrt ist und die sich wie Mehltau über das Land legt. Dass dies geschehen konnte, ist eine furchtbare Verurteilung unserer Politiker und Journalisten, die für diese Entwicklung Verantwortung tragen, nicht eine Verurteilung unserer freiheitlichen Demokratie selbst.
Eine Presse und eine Opposition, die Regierende hofiert
Das sei vor allem jenen gesagt, die den Ostdeutschen ständig vorhalten, sie würden die Demokratie ablehnen, obwohl sie in Wahrheit oft nur Kritik an einem Zustand üben, der unter demokratischen Gesichtspunkten sehr wohl als fragwürdig angesehen werden darf. Dazu gehören beispielsweise eine Presse und eine Opposition, die mehrheitlich die Regierenden geradezu hofiert, anstatt ihnen kritisch auf die Finger zu schauen und ihr Handeln ebenso kritisch zu hinterfragen.
Insbesondere sollten unsere Politiker und „Medienmacher“ endlich aufhören, jene Ostdeutschen zu beschimpfen, die sich noch gut an das Leben unter dem SED-Regime erinnern können und die aus ihrer leidvollen Erfahrung heraus eindrücklich davor warnen, Schritt für Schritt zu Verhältnissen zurückzukehren, die sie 1989 unter Gefahr für Leib und Leben abgeschüttelt hatten. Ihre Erfahrungen könnte man mit Fug und Recht als „wertvoller als Gold“ bezeichnen.
Denn nur eine Gesellschaft, die bereit ist, die Freiheit gegen ihre Feinde zu verteidigen, kann sie dauerhaft erhalten. Freiheit und Selbstbestimmung für das Volk als Ganzes und für den einzelnen Bürger sind neben der Rechtsstaatlichkeit das höchste Gut, das wir seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland haben, erst im Westen und seit 1990 auch im Osten des Landes. Die schleichende Unterhöhlung dieses Gutes kann mit Ausnahme politischer Extremisten, ganz gleich welcher Couleur, im Ernst niemand wollen.
Zum Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung gehört auch das Recht der Bürger, dem Eigenen den Vorzug vor Fremdem zu geben und das zu bewahren und zu verteidigen, was sich über Jahrzehnte hinweg bewährt hat, anstatt dies kampflos auf dem Altar einer falsch verstandenen Rücksichtnahme und Toleranz zu opfern. Robert Habeck hat behauptet, wir bräuchten einen Patriotismus, der größer ist als Deutschland. Ich weiß nicht, ob Habeck jemals Latein in der Schule hatte, aber unabhängig davon sollte er wissen, dass das Wort „Patriot“ von lat. patria = Vaterland abstammt. Ein Vaterland aber kann weder ein Kontinent, geschweige denn die ganze Welt sein.
Ein deutscher Patriot im besten Sinne ist noch lange kein Antieuropäer oder Weltenhasser, kein Rechtsradikaler oder gar ein „Nazi“. Derlei Beschimpfungen sind infam. Überhaupt: Nur wer sein eigenes Land schätzt, wird ihm dienen wollen, nur er kann die Liebe anderer zu ihrem Heimatland nachvollziehen und verstehen, nur er weiß die echte Vielfalt zu würdigen, die Deutschland ebenso wie Europa und die Welt zu bieten haben, eine Vielfalt, die eben kein grauer Einheitsbrei ist, sondern eine, die Unterschiede und damit auch Präferenzen zulässt.
Eine Klammer, die Menschen verbindet
Ein steriler „Verfassungspatriotismus“ allein, wie verschiedentlich immer wieder gefordert, erreicht die Menschen nicht, weil Paragrafen nicht die Gefühlsebene ansprechen können. Gefühle lassen sich aber ausdrücken in jenen Werten, die unser Leben lebenswert machen, in einer gemeinsamen Sprache und Kultur, in regionalen, geografischen und landsmannschaftlichen Besonderheiten, die uns vertraut sind und die gemeinsam mit unseren jeweils persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen in ihrer Gesamtheit das ausmachen, was andere Heimatgefühle nennen. Sie sind nicht gegen Andere gerichtet, aber sie sind eine Klammer, die Menschen verbindet, die etwas Gemeinsamens haben; ohne diese Klammer fehlt jeder Gesellschaft der Zusammenhalt.
Man kann nicht einen fehlenden Zusammenhalt beklagen und ihm gleichzeitig unterstellen, er würde Außenstehende diskriminieren. Denn jeder Zusammenhalt ist gruppenspezifisch, und ganz egal, welche Gruppe man auch betrachtet, es gehören ihr nie alle Menschen an, von der Ehe über die Familie bis hin zu Vereinen, Parteien und zu Staaten, trotzdem heißt das nicht, dass man den nicht Zugehörigen ihr Menschsein abspricht.
Wer immer noch von der völligen Gleichheit aller Menschen träumt und leugnet, dass Lebewesen unterscheidbare Individuen sind, der hat bis heute nicht begriffen, dass dieses Ansinnen stets nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern am Ende nur zu Unterdrückung und Terror bis hin zum Massenmord führt. Die Quellen liegen offen zutage, wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit, auch dank des Internets. Man muss sie nur ohne Scheuklappen zur Kenntnis nehmen wollen. Es ist höchste Zeit.