Liebe ACHSE-Leserinnen und Leser, zu allererst ein Gutes Neues Jahr Ihnen allen, ein Jahr, das bei vielen von Ihnen sicherlich sehr bewegende Erinnerungen wachrufen wird an ein ganz besonderes Jahr. In diesem Jahr nämlich jährt sich der Freiheitskampf der Ostdeutschen zum 30. Male. Grund genug, sich der zunehmenden Geschichtsklitterung zu widersetzen.
Je länger die denkwürdigen Ereignisse des Jahres 1989 zurückliegen, umso mehr scheinen linke Strömungen Oberwasser zu bekommen. Endlich – so offenbar ihre Hoffnung – könne man dem Volk, dem großen Lümmel, ihre Version der 89er Ereignisse wie Sand in die Augen streuen. Diesem Ansinnen aber gilt es, schon allein aus Gründen der Selbstachtung sich zu widersetzen. Auch die Deutschen haben ein Recht auf Wahrhaftigkeit, nicht nur wenn es um die Abgründe, sondern auch, wenn es um die Sternstunden ihrer Geschichte geht.
Ein besonders abstoßendes Gegenbeispiel für Wahrhaftigkeit ist jener Beitrag in der WELT, in dem die Ostdeutschen im allgemeinen und im besonderen Antje Hermenau, eine ostdeutschen Ex-Grüne, darüber belehrt wurden, „bei all dem“, was 1989/90 geschah, sei es den Menschen nicht darum gegangen, „Deutsche zu sein“. Der Autor des Textes setzte noch eines drauf: Die Deutschen hinter Mauer und Stacheldraht hätten sich 1989 ihre Freiheit nicht erkämpft.
Man ist geneigt, den Autor, einen ehemaligen Lehrer, ob seiner oberlehrerhaften Attitüden, einfach zu übergehen. Doch leider geht es tiefer. Es geht um die Deutungshoheit über unsere deutsche Geschichte und Gegenwart. Und es geht darum, gerade jungen Menschen, die die Teilung Deutschlands nicht mehr bewusst miterlebt haben, ein – wie es heute auf neudeutsch heißt – Narrativ aufzubinden, das sie glauben machen soll, die Bundesrepublik Deutschland verdanke ihre positive Reputation nach dem Krieg den Achtundsechzigern, und die Freiheitskämpfe der damaligen Mittel- und heutigen Ostdeutschen seien in Wahrheit keine gewesen, wie auch in diesem WELT-Beitrag zu lesen war. Die Freiheit, so wird behauptet, sei ihnen gleichsam in den Schoß gefallen.
Beide Male hat die WELT Leute zu Wort kommen lassen, die eine extrem bewegte linke Vergangenheit ihr eigen nennen und die bis heute damit kokettieren, in jungen Jahren dem Kommunismus, dem Marxismus-Leninismus und dem Maoismus zugetan gewesen zu sein. Ob sie es heute noch sind, darüber möge sich jeder Leser selbst ein Bild machen und sein eigenes Urteil fällen. Die beiden WELT-Autoren stehen nur stellvertretend für jene politisch-mediale Klasse, die gerne für sich in Anspruch nimmt, stets auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Mit Verve und Selbstgerechtigkeit
Die Ungeheuerlichkeit ihrer Aussagen erschließt sich einem umso deutlicher, wenn man sich klarmacht, mit welcher Verve und mit welcher Selbstgerechtigkeit die Achtundsechziger ihr kräftig schöngefärbtes Selbstbild gegenüber ihren Kritikern verteidigen. Doch selbst wenn dieses schöne Bild, wonach wir die Modernität der Bundesrepublik vor allem ihnen zu verdanken hätten, der Wahrheit entspräche, so hatten sie dafür jedenfalls nicht mit Gesundheit und Leben bezahlt, wie viele Mitteldeutsche 1953, und sie standen auch nicht 1989 gegen ein menschenverachtendes Regime auf, immer mit der Angst im Nacken, dafür in den Zuchthäusern der SED und Stasi zu landen.
Im Gegenteil: Gerade jene, die heute den Ostdeutschen absprechen, jemals für die Freiheit gekämpft zu haben, sind dieselben, die noch Ende der 1980er Jahre am lautesten nach einer „Anerkennung der DDR“ und nach einem „Friedensvertrag für die beiden deutschen Staaten“ ebenso wie nach der Abschaffung der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter riefen, die die im Westen bekanntgewordenen Menschenrechtsverletzungen im SED-Staat registrierte. Es sind dieselben Leute, die bereit waren, 17 Millionen Landsleute zu Ausländern zu erklären, mit allen Konsequenzen für deutsche Flüchtlinge, die in einem solchen Falle Asylbewerbern gleichgestellt worden wären.
Nein, es ist nicht an der Zeit, den Ostdeutschen etwas zu erklären, wie im besagten WELT-Artikel stand, sondern es ist an der Zeit, den Achtundsechzigern klipp und klar zu sagen, dass sie mit ihren kruden Thesen nur von ihrem eigenen Versagen ablenken wollen. Darüber kann auch der im Artikel richtige Hinweis auf den Anteil Reagans und Kohls an der Wiedervereinigung nicht hinwegtäuschen. Freilich ist dieser Hinweis höchst bemerkenswert für Leute, die in den USA stets ihr Feindbild sahen.
Doch auch dieser Hinweis bedarf einer Ergänzung. Neben dem – in Deutschland von Kohl durchgesetzten – NATO-Doppelbeschluss hatten die beiden amerikanischen Präsidenten Reagan und Bush Senior mit ihrer „Politik der Stärke“ gegenüber der Sowjetunion einen Wandel in Moskaus Beziehung zum Westen herbeigeführt. Das hatte den unterdrückten Völkern in Mittel- und Osteuropa, einschließlich den Deutschen östlich der Elbe, zu einem Durchbruch für ihre Freiheit verholfen. Doch erst einmal musste sie eingefordert werden.
Bushs Botschaft lautete 1989: Hilf dir selbst, so hilft dir Bush! Hilfe zur Selbsthilfe bedeutete hier aber: Der eigene Freiheitswille war Voraussetzung fürs Gelingen. Und dazu gehörte Mut. Mut, sich mit einer Staatsmacht anzulegen, die gegenüber ihren Kritikern kein Pardon kannte.
Die Ostdeutschen lehnten eine eigene Staatsbürgerschaft ab
Was die Deutschen betraf, so bestand durch die Teilung ihres Landes eine andere Situation als etwa in Polen oder Ungarn. Denn: Polen blieb Polen und Ungarn blieb Ungarn, egal welchen Weg sie auch immer aus ihrem Schlamassel suchten. Das damalige Mittel- und heutige Ostdeutschland aber blieb stets ein Teil Deutschlands. Das gab sogar der SED-Ideologe Otto Reinhold im Sommer 1989 zu: „Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Natürlich gar keine.“ (WELT v. 24.8.1989)
Im eingangs erwähnten Artikel wurde behauptet, es sei den damaligen Mitteldeutschen 1989 nicht darum gegangen, Deutsche zu sein. O doch! Die offene Deutsche Frage war sehr wohl immer auch eine Frage der Zugehörigkeit und Identität – und zwar für alle Deutschen.
Die Bundesrepublik Deutschland war von ihrem Anbeginn an, das Deutsche Volk betreffend, „von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit und wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, wie es in der Präambel des Grundgesetzes bis zur Wiedervereinigung Deutschlands hieß.
Daran änderten auch die Ostverträge nichts. Im Brief zur Deutschen Einheit vom 12. August 1970, ausgehändigt an die UdSSR, wurde unmissverständlich klargestellt, „daß dieser Vertrag [Anm.: der sog. “Moskauer Vertrag“] nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.“
Aus guten Gründen hatte die Bundesrepublik Deutschland weder die „Staatlichkeit der DDR“ noch die „DDR-Staatsbürgerschaft“ anerkannt. Das hatten die SPD und die Grünen im Westen immer wieder gefordert, ungeachtet des gegenteiligen Wunsches der Deutschen selbst. So gab die Bundesregierung unter Kohl im November 1986 das Ergebnis einer von Honecker veranstalteten Umfrage bekannt, wonach die Mehrheit der Deutschen östlich der Elbe eine eigene Staatsbürgerschaft ablehnte. Kohl machte immer wieder deutlich, für ihn war das Festhalten an der einen deutschen Staatsangehörigkeit nicht verhandelbar. So erklärte er im Herbst 1986 in Düsseldorf: „Wir grenzen unsere Landsleute nicht aus.“ Wäre es anders gewesen, hätten wir in Bonn und Ost-Berlin keine Ständigen Vertretungen gehabt, sondern Botschaften, und für deutsch-deutsche Belange wäre das Außenministerium zuständig gewesen, nicht das Kanzleramt.
Die große Mehrheit war auch im Westen für die Wiedervereinigung
Auch die im freien Westen lebenden Deutschen plädierten in ihrer übergroßen Mehrheit für die Wiedervereinigung, wie eine Umfrage von Infratest im Oktober 1987 ergab: 80 Prozent stimmten dafür, 16 Prozent war es gleichgültig, nur 4 (in Worten: vier!) Prozent lehnten sie ab. Niemand der Befragten – bemerkenswerte 0 (in Worten: Null) Prozent – sprach sich dabei für ein wiedervereinigtes Deutschland unter kommunistischem Vorzeichen aus (WELT v. 30.10.1987). Deutlicher konnten die Deutschen als ein Volk nicht zeigen, dass sie sich nicht auseinander dividieren lassen wollten. Folgerichtig erklärte Kohl bei der Eröffnung des Koblenzer Bundesarchivs im November 1986, die deutsche Geschichte „läßt sich ebensowenig wie die deutsche Nation teilen“. Der gleichen Nation anzugehören aber bedeutete, die gleiche Identität zu haben, die darin bestand, Deutsche zu sein, gleichgültig, ob man nun aus Hamburg, aus München oder aus Schwerin und Dresden stammte.
Genau das widerstrebte den Kommunisten von Moskau bis Ost-Berlin zutiefst, ebenso wie ihren Bewunderern im Westen, weil ihr wahres Ziel unter anderem darin bestand, gewachsene regionale und nationale Identitäten auszuradieren, um die Menschen ihrer Identität zu berauben und damit eines Halts. Der einzige Halt sollte der Sozialismus sein, mit dem Ziel, einen „neuen Menschen“ ganz nach kommunistischen Idealvorstellungen zu formen. Das hat weltweit etwa hundert Millionen Todesopfer hervorgebracht und fordert noch immer Menschenleben, die es wagen, sich dieser Ideologie zu widersetzen.
Nicht von ungefähr gibt es keinen Föderalismus in Diktaturen. Auch die „neuen“ Bundesländer sind in Wahrheit gar nicht neu, sie verschwanden bloß zwischenzeitlich von den Landkarten. Anstelle der Länder wurden willkürlich zusammengesetzte „Bezirke“ errichtet. Sie schafften keine Identitäten und sollten es auch nicht. Sie sollten die Macht der SED festigen.
Theo Waigel, damals Bundesfinanzminister und CSU-Chef, erklärte in einem WELT-Interview am 21.8.1989, „Die DDR hat keine Identität. Deshalb wenden sich die Menschen von ihr ab.“ Und: „Das Versprechen, in Deutschland ein Arbeiter- und Bauernparadies zu errichten, war die größte historische Lüge dieses Jahrhunderts.“ Welcher Politiker wagt es heute noch, so deutliche Worte zu wählen?
Eine starke Bekundung eines gemeinsamen Willens
Die „DDR-Staatbürgerschaft“ sollte die Nationalität = deutsch zumindest östlich der Elbe aus den Köpfen der Untertanen auslöschen. Überhaupt war das Wort „Deutschland“ verpönt, „Neues Deutschland“ hin oder her. Weiter durfte ab etwa 1972 die „DDR-Hymne“ von Johannes R. Becher nur noch gespielt, aber nicht mehr gesungen werden, weil sie die für die SED-Machthaber verhängnisvolle Verszeile enthielt, „Laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland“. Noch 1989 machte sich jeder, der sie sang, strafbar (WELT v. 12.8.1989). Es war genau diese Losung, die dann in den Revolutionstagen des Herbstes 1989 auftauchte. Das entsprang keinem Nationalismus. Es entsprang dem Bewusstsein, dass die Deutschen trotz der über vierzigjährigen Teilung sich nach wie vor als ein Volk empfanden und es auch bleiben wollten. „Wir sind ein Volk“ war zu einer Zeit, in der Deutschland noch geteilt war, eine starke Bekundung eines gemeinsamen Willens nach innen und außen. Sogar die CDU ließ 1990 Aufkleber drucken, die auf den schrägen, CDU-typischen schwarzrotgoldenen Streifen genau diesen Ausruf enthielten.
Natürlich wissen dies all jene ganz genau, die das heute vergessen machen wollen, ebenso werden sie wissen, dass der erste nennenswerte Aufstand gegen ein kommunistisches Regime von Deutschen ausging, nämlich am 16./17. Juni 1953. Was als ein Aufstand gegen die Normenerhöhungen begann, schlug schnell in einen Volksaufstand gegen das verhasste SED-Regime und schließlich in einen Aufstand für die Freiheit und Einheit Deutschlands um. Es gelang den Mitteldeutschen damals, das SED-Regime praktisch komplett zu entmachten. Erst die Niederschlagung wehrloser Menschen durch sowjetische Panzer machte dem kurzen Tag der Freiheit ein blutiges Ende (siehe hierzu Hubertus Knabe, „17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand“, Seite 21/22).
Auch 1989 gab es eine Volkserhebung. Alleine im Oktober gingen in Leipzig mehrere Hunderttausend für die Freiheit und gegen Krenz auf die Straße; jeweils Zehntausende erhoben sich an einzelnen Tagen in anderen Städten – von der Ostsee bis zum Erzgebirge, von der Elbe bis zur Oder – gegen die erzwungene Unfreiheit unter der SED-Herrschaft (WELT v. 24.10.1989 und Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: „Der Mauerfall. Ein Volk nimmt sich die Freiheit.“ Seite 166). Auch diesmal wussten die Menschen nicht von vornherein, ob sie Erfolg haben würden. Ein mögliches Scheitern stand ihnen nach der Niederschlagung des Aufstandes auf dem Tiananmen am 4. Juni 1989 drohend vor Augen.
Den Ostdeutschen ihre Würde und ihren Stolz nehmen
Das Wagnis des eigenen Lebens für die Freiheit jetzt einfach, so mir nichts dir nichts, in Abrede zu stellen, das sagt mehr über die Verfechter dieser kruden These aus als über die Ostdeutschen, denen diese Leute ihre Würde und ihren Stolz nehmen wollen. Niederträchtiger geht es kaum.
Axel Springer würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, was heute in seinem Flaggschiff kolportiert wird. „Die Einheit des Vaterlandes in Freiheit – das ist unser Auftrag“. Dieses Vermächtnis hatte der Verleger seinen Redakteuren über seinen Tod hinaus mit auf den Weg gegeben. Heute ist beides wieder in Gefahr – die Einheit und Freiheit Deutschlands.
Zur Freiheit gehört auch das Recht auf freie Meinungsäußerung. Um die Meinungsfreiheit in Deutschland ist es aber schlecht wie selten seit der Wiedervereinigung bestellt. Ein Verfassungsschutzpräsident, der gehen muss, weil er die Wahrheit sagte, ein Historiker, der gefeuert wird, weil er den SED-Nachfolgern ein Dorn im Auge ist, ein SPD-Mitglied, das aus der Partei ausgeschlossen werden soll, weil es den Islam für eine Gefahr für unsere freiheitliche Gesellschaft hält – aber eine Bundeskanzlerin, die sich ungestraft die Wahrheit zurechtbiegen darf und ein Bundespräsident, der Hasslieder auf das eigene Volk für eine gute Empfehlung hält, das ist in der Tat nicht mehr die Bundesrepublik, der die Ostdeutschen 1990 aus freiem Willen beitraten. Da hat Frau Hermenau recht. Die heutige Bundesrepublik wird immer mehr zu einem Staat, wie er Leuten wie den hier kritisch zitierten Autoren offenbar gefällt, aber genau so war die Bundesrepublik Ende der 1980er / Anfang der 1990er Jahre keineswegs.
Heute haben wir eine Bundesrepublik, die in vielem an jenen Un-Staat erinnert, der in jeder Beziehung versagt hatte und den die Ostdeutschen endgültig hinter sich lassen wollten. Die Ostdeutschen erleben immer häufiger ein Déjà-vu, müssen aber erkennen, dass sie für diese Erkenntnis von höchsten Ebenen in Politik und Medien auch noch abgestraft werden. Für mich als Westdeutsche ist das einfach nur zutiefst beschämend.
Liebe Ossis, ich habe es aus vielen Leserbriefen, nicht nur hier auf der Achse, sondern auch in der WELT und anderswo, immer wieder herauslesen können: Es gibt gar nicht so wenige Wessis, die, ebenso wie ich, nicht vergessen haben, welchen Mut ihr vor dreißig Jahren zeigtet und die das auch niemals vergessen werden. Ja, wir sind stolz auf euch! Lasst euch diesen Stolz nicht stehlen, schon gar nicht von denen, die niemals etwas für ihre Freiheit riskiert haben oder riskieren mussten, so wie ihr 1953 und 1989.
Enno von Loewenstern schrieb in seinem Leitartikel in der WELT vom 17.6.1991 dazu sehr treffend: „Diese Menschen sind sehenden Auges in den drohenden Tod marschiert; das ist eine erschütternde Erfahrung, die sie der Wohlstandsrepublik voraushaben, die sie ermächtigt, erhobenen Hauptes vor ihre Mitbürger zu treten: wir hatten nicht die Chance, uns als Wirtschaftswundertäter zu bewähren. Aber wir standen vor der Herausforderung, unser Leben für die Freiheit aufs Spiel zu setzen, die euch frei Haus geliefert wurde, und wir haben die Herausforderung bestanden.“