30 Jahre 1989. Die letzten Toten der Mauer

Es ist ein langer, blutiger Weg von Ulbrichts Leugnung des Schießbefehls bis zu den letzten Toten der Mauer. Seit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 herrschte nicht nur mehr entlang der „DDR“-Grenze, sondern auch an der Mauer in Berlin der bis zuletzt von der SED geleugnete, aber immer wieder umgesetzte Schießbefehl. Niemand anders als Erich Honecker höchstselbst erklärte 1974 vor dem „Nationalen Verteidigungsrat der DDR“, „bei Grenzdurchbruchversuchen“ müsse „von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden“ und er forderte, „die Genossen, die die Schußwaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen“ [1].

Der Schießbefehl gegen die eigene Bevölkerung war gleichsam eine „Todesstrafe ohne Prozeß“, wie Norbert Blüm 1987 erklärte. Da aber die Schüsse an der Mauer das SED-Regime immer wieder in negative Schlagzeilen brachten und es international zunehmend isolierte, glaubten in den 1980er Jahren einige Flüchtlinge dem Gerücht, bei Staatsbesuchen sei der Schießbefehl ausgesetzt. Das sollte auch Chris Gueffroy und seinem Freund Christian Gaudian in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989 zum Verhängnis werden.

Nach bisherigem Kenntnisstand haben mindestens 140 Menschen an der Mauer oder durch die Mauer in Berlin ihr Leben verloren. Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke gaben nach intensiver Forschungsarbeit 2009 ein biographisches Handbuch mit dem Namen „Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 – 1989“ heraus, in dem sie bewusst von einer Mindestzahl der Opfer sprechen. Nach dem bisherigem Stand (9. August 2017) sind bei dem Versuch, die Mauer zu überwinden, 101 Menschen erschossen worden, tödlich verunglückt oder sie nahmen sich aus Verzweiflung das Leben. 31 Menschen aus Ost und West verloren ihr Leben, ohne dass sie die Absicht verfolgt hätten, über die Mauer zu gelangen. Entweder wurden sie von einer verirrten Kugel getroffen oder sie wurden Opfer einer tödlichen Fehleinschätzung eines Grenzers des SED-Regimes. Acht weitere Todesopfer waren Angehörige der Grenztruppen selbst.

Schreie aus dem Todesstreifen

Nicht berücksichtigt sind dabei weitere, meist ältere Menschen, die während oder unmittelbar nach den Kontrollen an den Grenzübergangsstellen in und um Berlin den Folgen eines Herzinfarktes erlagen. Ihre Zahl liegt bei mindestens 251 Personen. Weitere Fälle sind nicht zweifelsfrei geklärt. Möglicherweise wird man die wahre Anzahl der Todesopfer, nicht nur an der Berliner Mauer, sondern auch entlang der innerdeutschen Demarkationslinie, niemals klären können.

Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass SED und Staatssicherheit geglückte wie gescheiterte Fluchtversuche mit aller Macht zu vertuschen versuchten. Entlang der ungefähr 1.400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze mit dem nach Osten hin weiträumig abgesperrten Hinterland war dies allerdings erheblich einfacher als in Berlin. Schüsse an der Mauer in Berlin waren auch im Westteil der Stadt nicht zu überhören, selbst Schreie und Hilferufe drangen oftmals in die Ohren der Westberliner. Zudem war der Todesstreifen von vielen Stellen vom Westen der Stadt aus einsehbar und bei Dunkelheit taghell erleuchtet.

Während im Westteil der Stadt der Bär steppte und das Leben pulsierte und man sich im übrigen mehr oder weniger darauf verließ, dass die drei westlichen Schutzmächte – allen voran die oft gescholtenen Amerikaner – die Freiheit der Stadt niemals preisgeben würden, fanden viele Ostberliner sich in einer Lage wieder, in der sie die Freiheit zwar in greifbarer Nähe wie nirgends sonst vor Augen hatten, diese aber zugleich für sie so gut wie unerreichbar blieb.

Der Geist der Freiheit überwand die Mauer dagegen unablässig. Kein Wunder, dass das freie Berlin dem SED-Regime ein Dorn im Auge war. Es existierten fertige Pläne zur Einnahme des Westteils der Stadt am Tag X. Wäre die „DDR“ im Jahr 1989 nicht durch die Massenflucht, die Friedliche Revolution und den Zusammenbruch der Mauer in arge Bedrängnis geraten, hätte die Geschichte Berlins auch eine ganz andere Wendung nehmen können, die man sich gar nicht vorstellen mag. Dann hätte es keinen glücklichen 9. November 1989 gegeben.

Berlins offene Wunde

Noch aber durchzog die Mauer Anfang 1989 die Stadt wie eine offene Wunde, noch ahnte kaum jemand, dass sich Ronald Reagans Prophezeiung von 1987, die Mauer werde fallen, nur ein gutes Dreivierteljahr später bewahrheiten würde, als fünf junge Menschen, infiziert mit dem Virus der Freiheit, eine buchstäblich todesmutige Entscheidung trafen. Sie wollten zu Lande und zu Luft in die Freiheit entkommen. Drei von ihnen fanden dabei den Tod. Einer der Flüchtlinge wird von den Grenzsoldaten erschossen, ein anderer durch Schüsse verletzt. Zwei weitere Flüchtlinge verunglückten tödlich bei dem Versuch, die Grenzsperranlagen zu überwinden. An diese soll im Folgenden erinnert werden:

Ingolf Diederichs (13.04.1964 – 13.01.1989) versuchte in unmittelbarer Nähe des Grenzübergangs Bornholmer Straße, von der S-Bahn aus und mit einer selbstgebastelten Klappleiter in den Westteil Berlins zu entkommen. In diesem Streckenabschnitt kam die S-Bahn dem Westen der Stadt nahe wie nirgendwo sonst; deshalb war die Mauer hier mit 5,40 Metern am höchsten. Ingolf Diederichs verunglückte bei dem Versuch, aus der S-Bahn zu springen, tödlich. 1994 wurde ein Vorermittlungsverfahren wegen möglicher Fremdeinwirkung von der Berliner Staatsanwaltschaft eingeleitet, später mangels stichhaltiger Anhaltspunkte eingestellt.

Chris Gueffroy (21.06.1968 – 05.02.1989) und sein Freund Christian Gaudian. Die Freunde Chris Gueffroy und Christian Gaudian glaubten, der Staatsbesuch des schwedischen Ministerpräsidenten würde sie davor bewahren, dass auf sie geschossen wird, wenn sie versuchten, zu diesem Zeitpunkt die Mauer zu überwinden. Sie rechneten damit, dass sie im Falle eines gescheiterten Fluchtversuchs schnell von der Bundesrepublik freigekauft werden würden. In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989 wollten sie mit einem Wurfanker über die Mauer klettern. Es gelang ihnen, die Hinterlandmauer unbemerkt zu überwinden, doch beim Durchkriechen des Signalzaunes lösten sie Alarm aus. Während sie auf das letzte Sperrelement, einen etwa drei Meter hohen Streckmetallgitterzaun, zurannten, wurden sie unter Beschuss genommen. Im weiteren Verlauf wurde Chris Gueffroy tödlich getroffen, sein Freund verletzt.

Die Mutter von Chris Gueffroy hörte die Todesschüsse, ohne in dem Moment zu wissen, dass sie ihrem Sohn galten. Nach dem Fall der Mauer verlangte sie vor Gericht Aufklärung. Am Ende wurde ein Präzedenzfall geschaffen, der in nahezu allen folgenden Mauerschützenprozessen die Täter entlastete. Der Todesschütze von Chris Gueffroy, Ingo H., wurde in einer Folgeverhandlung vom Landgericht Berlin zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt; sein Postenführer kam „mangels festzustellenden Tötungsvorsatzes" straffrei davon.

Christian Gaudian wurde verletzt von den Grenzsoldaten festgenommen und im Mai 1989 wegen „versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall" zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Mitte Oktober 1989 konnte ihn die Bundesregierung freikaufen.

Winfried Freudenberg (29.08.1956 – 08.03.1989) und seine Frau Sabine wollten mit einem selbstgebastelten Erdgasballon von Ost nach West über die Mauer schweben. Beim Aufladen der Ballonhülle mit Erdgas wurde der Ballon von einem heimkehrenden Arbeiter gesichtet und an die Volkspolizei verraten. Weil der Ballon noch nicht genügend mit Gas geladen war und die Gefahr bestand, dass er keine zwei Personen tragen könnte, entschlossen sich die Freudenbergs, er solle erst einmal alleine die Flucht wagen. Der überstürzte Ballonstart führte fast zu einer Katastrophe, als die Ballonhülle eine Starkstromleitung schleifte. Über den weiteren Verlauf bleibt vieles im Dunkeln, aber das Glück war Winfried Freudenberg nicht hold. Aus großer Höhe stürzte er mit dem Ballon über Zehlendorf tödlich ab, brach sich fast alle Knochen und verletzte sich alle inneren Organe. Die beim überstürzten Start verlorenen Papiere des Ehepaars verrieten Sabine Freudenberg. Sie wurde festgenommen und verhört, ein Strafverfahren wurde gegen sie eingeleitet. Zum Schluss kam sie mit einer Bewährungsstrafe davon, Ende Oktober 1989 wurde sie amnestiert.

Drei Menschen mussten in den ersten drei Monaten des Jahres 1989 ihr Leben lassen, weil sie frei sein wollten. Sie alle würden vermutlich noch heute leben, wenn sie gewusst hätten, dass nur ein gutes Dreivierteljahr später die Mauer zusammenbrechen würde. Was Angehörige und Freunde 1989 und darüber hinaus an Schmerz und Leid durchmachen mussten, ist kaum zu ermessen. Ihnen allen gilt unser Mitgefühl.

[1] Die Mauer. Fakten, Bilder, Schicksale. Hrsg. Kai Diekmann, Pieper 2011, Seite 97

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Gerd Koslowski / 01.04.2019

Noch heute erinnern sich, dabei ihre Diäten und Pensionen verzehrend, Verantwortliche und ihre ideologischen Erben in der Drachenbrutpartei, gerne der großen Zeit (Frei nach Kästner).

Ulv J. Hjort / 01.04.2019

Hatte das zweifelhfte vergnuegen diesen unrechtsstaat auch von innen kennelrnen zu “duerfen” .  Menschlich und politisch eine einzige katstrophe ! Fuer mich vøllig unverstændlich ist diese ,seit jahren umherschwirrende   “Ostalgie ” . Als die menschen ,ausser sich vor freude auf dem “Antifaschistischen Schutzwall ” umeinander kletterten , stand ich vor der glotze und die freudentrænen liefen mir uebers gesicht . Es war einer der schønsten momente in meinem leben ! Damals hætte doch kaum einer gedacht ,dass sich jahre spæter der sozialistische DDR -giftpilz ueber das ganze land ausbreitet . Hier kann man auch Merkel zitieren : “Nun sind sie halt da !”.

Detlef Dechant / 01.04.2019

Und Unterstützer/innen (dabei einige offizelle ehemalige IMs) dieses Verbrecherregimes sitzen im Deutschen Bundestag und in diversen Landtagen. Sie werden sogar als koalitionsfähig betrachtet und in offizielle Ämter gewählt, so wie Petra Pau als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Aber einer unbescholtenen Kandidatin der AfD, demokratisch gewählt und ohne “problematische” politische Vergangenheit, wird durch die “demokratischen” Fraktionen ein solcher Sitz verwehrt.

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