Sabine Drewes, Gastautorin / 13.05.2019 / 16:00 / Foto: Tim Maxeiner / 11 / Seite ausdrucken

30 Jahre Aufbruch in die Freiheit: Mut und Vertrauen

Während ich mich im ersten Teil dieses Beitrags auf die Ereignisse im Mai 1949 konzentrierte, ist heute das Jahr 1989 dran. Auch in dem Jahr bündelten sich einige bemerkenswerte Vorkommnisse im Mai, das erste am 2. des Monats. An diesem Tag entfernten ungarische Beamte die Zäune an der Grenze nach Österreich (siehe hier und hier). Dieser noch nicht rein symbolische Akt – die Grenzpfähle waren marode und sollten nicht ersetzt werden, weil sie, so die ungarische Regierung, „technisch, politisch und moralisch veraltet“ seien – ging dem öffentlichkeitswirksamen Teil der Ankündigung voraus. Am 27. Juni 1989 zerschnitten der österreichische Außenminister Alois Mock und der ungarische Außenminister Gyula Horn ein Stück des "Eisernen Vorhangs" am Grenzübergang Klingenbach/Sopron. „Wir sind Zeugen eines historischen Ereignisses", sagte Horn damals. "Wir haben die jahrzehntelange Trennung beider Völker beendet, die Freundschaft verhindert hat." Der Zaun war eigentlich schon Anfang Mai entfernt worden: „Wir mussten den Eisernen Vorhang aufbauen und direkt danach wieder abbauen", erinnerte sich Miklós Németh, 1989 ungarischer Ministerpräsident, in einer späteren Tagesschau.

Auch wenn das Bild gestellt war, seine Wirkung sollte im Sommer im wahrsten Sinne des Wortes durchbrechend sein: Ungarn war schon immer ein beliebtes Reiseziel für jene Deutschen, die eben nicht frei überall hin reisen durften, außer in die sozialistischen „Bruderländer“. Ungarn war für sie so etwas wie ein „Ersatzwesten“; nicht wirklich frei, aber freier als daheim oder in anderen sozialistischen Staaten. Am 19. August 1989, einem Samstag, veranstaltete Otto von Habsburgs Paneuropa-Union im Grenzgebiet von Sopron ein Picknick. Dieses österreichisch-ungarische Begegnungsfest wurde für 661 Deutsche als einmalig erscheinende Gelegenheit erkannt und genutzt, um durch ein geöffnetes Grenztor nach Österreich in die Freiheit zu fliehen. Die ungarischen Grenzer hielten sie dabei nicht auf. Auch die Hilfsbereitschaft der Burgenländer im Sommer 1989 war überwältigend, und sie hatten dies mit selbstgebastelten Schildern unterstrichen: „Sie sind in Österreich – wir helfen!“ Für diese echte, von Herzen kommende Hilfsbereitschaft gebührt den Österreichern an dieser Stelle ein großer Dank. Und den Ungarn, dass sie die Zeichen der Zeit erkannten und der Freiheit in Osteuropa zu einem Durchbruch verhalfen.

Noch aber war „nirgendwo am Horizont ein deutscher Gorbatschow“, so titelte und zitierte die WELT am 2. August 1989 die Stimmungslage der Deutschen, die noch immer hinter Mauer und Stacheldraht gesperrt waren. Dazu kamen die Wahlen am 7. Mai, die nicht umsonst „Zettelfalten“ genannt wurden, weil es nichts zu wählen gab. So – nur so – kam die „Einheitsliste der Nationalen Front“, vulgo die SED, immer wieder auf 98,9 bis 99,9 Prozent. Doch 1989 gab es aktiven Protest gegen die Wahlfälschungen (siehe hier und hier), die schließlich in die bekannten Montagsdemonstrationen in Leipzig mündeten, und die nach dem Zusammenbruch des SED-Staates auch tatsächlich nachgewiesen werden konnten. Mitglieder diverser Oppositionsgruppen hatten die Stimmauszählung versteckt beobachtet und teilweise bis zu zehn Prozent vom offiziellen Wahlergebnis abweichende Ergebnisse ausgemacht. Von mutigen Bürgern wurden Anzeigen und Einsprüche wegen Wahlfälschungen gestellt. Diese wurden nach altbekannter Manier als „staatsfeindliche Aktivitäten“ zurückgewiesen. Auch Protestkundgebungen wurden unterdrückt oder unterbunden, so durch „Personenkontrollmaßnahmen“, „Zuführungen“ und Verhaftungen. Der damalige Wahlleiter Egon Krenz (SED) bestritt, dass es Wahlmanipulationen und -fälschungen gegeben habe. Zeitgleich erreichten die Zahlen der Übersiedler in den freien Teil Deutschlands eine neue Rekordhöhe. Gegenüber dem Vorjahr hatte sich ihre Zahl in den ersten vier Monaten des Jahres verdreifacht. Ein Ende sollte sich noch lange nicht abzeichnen. Die Mauer stand zwar weiterhin, aber sie begann mehr und mehr zu bröckeln.

Washington und Bonn „Partner in Führungsrolle“

Im Westen Deutschlands wurde vierzig Jahre Bundesrepublik Deutschland gefeiert. Ich zitiere hier Passagen des Werbespruchs der damaligen Bundesregierung zu diesem Ereignis aus dem Gedächtnis heraus: „Vierzig Jahre Bundesrepublik Deutschland. Herzlichen Glückwunsch. Vierzig Jahre Frieden und Freiheit. […] Dabei vergessen wir nicht, daß unser Vaterland nach wie vor geteilt ist.“ Der amerikanische Präsident George Bush dachte schon deutlich weiter. Auf seinem Deutschland-Besuch am 31. Mai 1989 verkündete er in der Mainzer Rheingold-Halle unter anderem

Wie Sie wissen, ist dies nicht nur der vierzigste Jahrestag des Bündnisses (Anmerkung: der NATO), sondern auch der vierzigste Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland – einer Republik, die aus der Hoffnung geboren wurde, aber auch Herausforderungen bestehen mußte. Auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise fordert Ernst Reuter die Deutschen auf, Standhaftigkeit und Vertrauen zu zeigen, und das haben sie getan – mutig und großartig. Die im Verlauf der deutschen Geschichte oftmals unter Beweis gestellten Gaben des deutschen Volkes (sic!) kommen in diesem Zeitalter des Friedens zum Tragen. […] Aber noch wichtiger ist die Tatsache, daß Sie der Welt ein Zeichen gesetzt haben, indem Sie sich wirkungsvoll für Grundwerte wie Menschenrechte, Demokratie und Freiheit einsetzten. Die Amerikaner und die Bundesrepublik waren immer enge Freunde und Verbündete. Heute übernehmen wir darüber hinaus noch eine gemeinsame Aufgabe  – als Partner in einer Führungsrolle.

Der letzte Satz verursachte vor allem an der Themse heftige Schluckbeschwerden. Doch der amerikanische Präsident ließ sich nicht beirren und führte weiter aus: „Natürlich ist diese Führungsrolle fest mit einem weiteren Element verbunden – Verantwortung.“ Deutliche Worte fand Bush zu Frieden und Freiheit: „Aber der leidenschaftliche Wunsch nach Frieden kann nicht ewig verwehrt werden. Die Welt hat lange genug gewartet. Die Zeit ist reif. Europa muß frei und ungeteilt sein. […] Der Kalte Krieg begann mit der Teilung Europas. Er kann nur beendet werden, wenn die Teilung Europas aufgehoben ist. […] In meiner Eigenschaft als Präsident werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um die geschlossenen Gesellschaften Osteuropas zu öffnen. Wir streben die Selbstbestimmung für ganz Deutschland und alle Länder Osteuropas an. Wir werden nicht ruhen und uns nicht beirren lassen. […] Diese Öffnung hat bereits begonnen. Die Grenze aus Stacheldraht und Minenfeld zwischen Ungarn und Österreich wird Fuß um Fuß, Meile um Meile beseitigt. Ebenso wie in Ungarn müssen diese Schranken in ganz Osteuropa fallen. Berlin muss die nächste Station sein.“ 

Ohne Grundvertrauen keine moderne Politik

So sprach der amerikanische Präsident George Bush sen. am 31. Mai 1989 vor den Deutschen, und er hielt sein Versprechen. Derart wohlwollend und zugleich ehrlich konnten wohl nur Amerikaner über Deutsche sprechen. Bush ist nicht der Einzige, der dies bewies – auch sein Vorgänger im Amt tat es. Im siebzigsten Jahr der Bundesrepublik Deutschland sollten wir uns auch an jene erinnern, die wirkliche Freunde der Deutschen waren und denen wir letztlich unsere Freiheit und Einheit nicht allein, aber doch maßgeblich zu verdanken haben. Der sehnliche Ruf nach Freiheit im östlichen Teil Deutschlands und Europas verhallte bei den Amerikanern nicht ungehört. Bush verlangte gegenüber Gorbatschow nicht nur Freiheit für den Osten, er unterstützte diese Rufe nach Freiheit auch durch eine tatkräftige Politik, ohne dabei aufzutrumpfen. Die heutigen deutsch-amerikanischen Beziehungen, um die es schon länger nicht mehr zum besten bestellt ist, lassen erahnen, wie wenig selbstverständlich man diese rückhaltlose Unterstützung des damaligen amerikanischen Präsidenten nehmen darf. Deutschland hatte 1989/90, in einer geschichtsbewegenden Zeit, viel Glück und einen mächtigen Freund an seiner Seite, auf den es sich blind verlassen konnte, weil die Bundesrepublik selbst ein verlässlicher Partner für die USA war. 

Gunter Weissgerber hat diesen Umstand auf seiner Website so schön zum Ausdruck gebracht, dass ich seine Worte gerne zitieren möchte, denn sie taugen als krönender Abschluss und sind von bleibendem Wert:

Daher zum Schluss: Was kann man eigentlich lernen aus dieser Situation? Erstens: Es gibt immer, auch wenn es noch so schwierig ist, es gibt immer Fenster in der Geschichte, so „Windows of Opportunity“, da kann was geschehen, die muss man erkennen, die musst du erstens erkennen und sehen und dann musst du den Mut haben, diese Fenster aufzustoßen oder durch diese Türen durchzugehen. Das erfordert Mut. Da braucht es Vertrauen, Németh hat Gorbatschow vertraut, dass er ´56 nicht wiederholen wird. Kohl hat Gorbatschow vertraut, dass der seine Zusagen halten wird. Németh hat Kohl vertraut. Kohl hat Bush vertraut. Ohne das Vertrauen, Freunde, das ist die wirkliche Währung des 21. Jahrhunderts, ohne ein solches Grundvertrauen in Personen kann auch moderne Politik nicht funktionieren und dann braucht es natürlich Menschen, die zu hören und auch Antwort geben können.“

So ist es. Ohne den Mut der Ostdeutschen und der Osteuropäer auch nur einen Deut schmälern zu wollen, dieser Mut einzelner Personen auf der großen Bühne der Politik hatte es vermocht, der deutschen Geschichte eine glückliche Wendung zu geben. Das sollte im Jubiläumsjahr 2019 nicht vergessen werden.

 

Lesen Sie hier den Artikel vom Vortag: 70 Jahre Grundgesetz: Sieg der Freiheit

Foto: Tim Maxeiner

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Marcel Seiler / 13.05.2019

Ein schöner Text. Und traurig stimmt einen, wie das deutsche Volk jetzt dabei ist, diese Gelegenheit zu Dankbarkeit, Demokratie, Freiheit und Selbstbewusstsein bei gleichzeitigem Respekt gegenüber anderen in sein Gegenteil zu verkehren: Selbstverachtung bei gleichzeitiger Hybris, Antiamerikanismus, autoritär-sozialistische Träumereien, Gewaltaffinität bei gleichzeitigem Pazifismus. Sehr traurig.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Sabine Drewes, Gastautorin / 03.10.2023 / 06:15 / 159

Nein, ich will Deutschland nicht einfach aufgeben!

Zum Tag der Deutschen Einheit: Viele Deutsche empfinden heute einen Heimatverlust, ohne aus ihrer Heimat physisch vertrieben worden zu sein. Das steigende Entsetzen zeigt: Den…/ mehr

Sabine Drewes, Gastautorin / 21.09.2023 / 16:00 / 20

Die CDU wählt lieber Bilder aus einem „sicheren Herkunftsland“

Die CDU hat in ihrem neuen Imagefilm bekanntlich statt des Berliner Reichstags lieber den ehemaligen georgischen Präsidentenpalast in Tiflis gezeigt. Vielleicht, weil Georgien jetzt in Deutschland offiziell als…/ mehr

Sabine Drewes, Gastautorin / 25.08.2023 / 16:00 / 13

Der Sieg der Jutta Gallus

Wohin es führt, wenn eine staatlich verordnete Ideologie ins Familienleben hineinregiert, zeigt das Beispiel Jutta Gallus (heute: Fleck) mit ihren beiden Töchtern Beate und Claudia.…/ mehr

Sabine Drewes, Gastautorin / 24.06.2023 / 12:00 / 9

Wie ich Berlin lieben lernte

Meine ganz große Städteliebe in meinen jungen Jahren hieß – na, wie denn: Berlin! Das hatte nicht nur, aber auch mit der Berliner Luftbrücke zu…/ mehr

Sabine Drewes, Gastautorin / 17.06.2023 / 14:00 / 17

70 Jahre 17. Juni: Gestohlene Erinnerung

Den Deutschen Untertanengeist und mangelnde Freiheitsliebe vorzuwerfen, ist reichlich wohlfeil. Den besten Gegenbeweis liefert der 17. Juni 1953. Setzen wir denen, die an diesem Tag…/ mehr

Sabine Drewes, Gastautorin / 07.04.2023 / 14:00 / 13

Der Freikäufer ist gestorben

Mit Ludwig A. Rehlinger ist vor einigen Tagen eine Schlüsselfigur des Freikaufs politischer Gefangener in den Westen gestorben. Ein Nachruf Ludwig A. Rehlinger ist tot. Er…/ mehr

Sabine Drewes, Gastautorin / 18.12.2022 / 14:00 / 23

Ewig deutscher Untertan?

Waren und sind die Deutschen wirklich so schrecklich untertänig und freiheitsfeindlich? Wagen wir doch einmal einen Blick auf die freundlichen Seiten unserer Geschichte! Henryk M.…/ mehr

Sabine Drewes, Gastautorin / 04.12.2022 / 16:00 / 21

Advent in Zeiten der Dunkelheit

Die Weihnachtsgrüße bleiben einem immer mehr im Halse stecken. Doch wie mit dem täglichen Irrsinn umgehen, ohne verrückt zu werden? Zynismus und Resignation sind jedenfalls…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com