Peter Grimm / 30.06.2017 / 06:15 / Foto: Bundesarchiv / 17 / Seite ausdrucken

30.6.2017: Grundrechte einschränken für alle

Die letzte planmäßige Bundestagssitzung dieser Legislaturperiode am heutigen Freitag, dem 30. Juni 2017, bekommt ungeahnt große Aufmerksamkeit. Die Medien berichten ausführlich und bei der scheinbar wichtigsten Entscheidung des Tages hatte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann zwischenzeitlich gar über eine namentliche Abstimmung nachgedacht, damit die Öffentlichkeit weiß, welcher Abgeordnete in dieser entscheidenden Frage wie abgestimmt hat.

Leider gibt es all das Getöse nur um die „Ehe für alle“, während der Deutsche Bundestag im Schatten dieser aufgesetzten Aufregung beinahe heimlich die Einschränkung der Grundrechte für alle beschließen kann. Denn das ist die Folge des sogenannten Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, das soziale Netzwerke zur schnellen Löschung als rechtswidrig angezeigter Inhalte zwingen soll, bevor ein Gericht prüfen kann, ob tatsächlich Recht mißachtet oder nur das Grundrecht der Meinungsfreiheit in Anspruch genommen wurde. Es wird jetzt leicht werden, bei Facebook oder Twitter mit gezielter Denunziation für die Beseitigung missliebiger Botschaften oder Meinungsäußerungen zu sorgen.

Hatte die erste Lesung des von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) initiierten Gesetzentwurfs noch für etwas Aufmerksamkeit gesorgt, auch wegen der breiten und fundierten Kritik an der von der Bundesregierung beschlossenen Vorlage, so sprechen heute alle nur noch von der „Ehe für alle“. Und das während alle tatsächlich um einen Teil ihrer Freiheit gebracht werden.

Das klingt zu pathetisch? Weil wir deshalb nicht gleich in einer DDR 2.0 angekommen sind? Vielleicht. Aber es ist in jedem Fall nötig, denen, die Rechte und Freiheiten Stück für Stück beschneiden wollen, rechtzeitig in den Arm zu fallen.

Vielleicht schämen sie sich wenigstens ein bisschen dafür

Die Bundestagsabgeordneten werden wahrscheinlich mehrheitlich für das Gesetz stimmen, obwohl etliche von ihnen, wurden sie darauf angesprochen, auf Distanz zum Maas-Entwurf gegangen sind. Vielleicht ist es denen, die trotz Bedenken nun zustimmen, ein wenig peinlich. Vielleicht schämen sie sich ein bisschen dafür und sind deshalb froh und dankbar, dass alle Welt von der „Ehe für alle“ spricht.

Die kosmetischen Änderungen, die es nach der ersten Lesung am Gesetzentwurf gegeben hat, kann das Gewissen sicher nur oberflächlich beruhigen. Zwar soll nun beispielsweise nicht mehr das Unternehmen allein über Löschungen entscheiden, sondern auch eine „Einrichtung regulierter Selbstregulierung“ nach dem Vorbild der Freiwilligen Selbstkontrolle. Der können Netzwerkbetreiber einen Fall übergeben, doch an der Verpflichtung, innerhalb enger Fristen zu löschen, ändert sich nichts. Es bleibt also bei weitgehend außergerichtlichen Eingriffen, obwohl hier Grundrechte berührt werden.

An manchen Stellen wurde der Gesetzentwurf durch die Änderungen sogar verschärft, beispielsweise bei der Liste der Tatbestände, die zur Löschung verpflichten. Hendrik Wieduwilt hat in der FAZ dankenswerterweise auf diesen Umstand verwiesen:

Entfernt wurden aus der Löschliste Tatbestände wie die Verunglimpfung des Bundespräsidenten. Doch findet sich im Straftatenkatalog nun die „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen“ gemäß Paragraph 201a Strafgesetzbuch. Diese von Heiko Maas vor zwei Jahren deutlich verschärfte Vorschrift umfasste in der Ministeriumsversion lapidar das „bloßstellende“ Fotografieren, bis der Rechtsausschuss Ausnahmen für Künstler (etwa Straßenfotografen) und Medien einfügte. Nun verbietet der Gummiparagraph, einem Dritten ein Foto zugänglich zu machen, das „geeignet ist, dem Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu schaden“.

Das große Schweigen hinter aufgeregten Scheindebatten

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz wird nun sicher ein Fall für das Bundesverfassungsgericht. Doch bis dahin ist es in Kraft, vor allem in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs. Das Klima im Land verbessert sich aber nicht dadurch, dass man die öffentlichen Äußerungen anwachsender Stimmungen verhindert. Auch dann nicht, wenn man das große Schweigen hinter aufgeregten Scheindebatten über die „Ehe für alle“ verstecken kann.

Gibt es vielleicht doch noch einige couragierte Bundestagsabgeordnete aus der Koalition, die gegen das Maas-Gesetz stimmen? Bei der Homo-Ehe darf doch jeder Christdemokrat mit Kanzlerinnen-Segen allein seinem Gewissen folgen und keiner Fraktionsdisziplin. Warum nicht, wenn es um die Meinungsfreiheit geht? Es ist vielleicht kein schlechter Moment, um an manchen altbekannten und dennoch vergessenen Satz im Grundgesetz zu erinnern. Artikel 38 sagt über Bundestagsabgeordnete: Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Nachtrag vom 30. Juni 11:30 Uhr: Bundestag beschließt Netzwerkdurchsetzungsgesetz

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Wilhelm Entenmann / 30.06.2017

Hab’ ich das jetzt richtig verstanden, also dass wenn ca. 1.000 Sponties einen Beitrag auf der Facebook-Seite eines Heiko Maas als “Hass” bzw. “verfassungswidrig”  kennzeichnen Facebook binnen 24 Stunden den so gemeldeten Beitrag löschen, zumindest aber prüfen muss? Das klingt nach viel Arbeit für Facebook, wenn solche Sponti-Aktionen Schule machen sollten.

Martin Landvoigt / 30.06.2017

Es stimmt bedenklich, wenn der Bundestag Gesetze beschließt, die nicht Verfassungskonform sind. Das ist doch ein Fall für den Verfassungsschutz!

Erwin Gabriel / 30.06.2017

@ JF Lupus / 30.06.2017: “Wenn ich heute schreibe, dass Maas ein ähnlich schlimmer Finger ist wie der Reichspropagandaminister, ist das dann im Sinne des Netzwekdurchsuchungsgesetzes schon strafbar?” Nein. Denn der Geltungsbereich dieses Gesetz gilt zwar für Facebook, Twitter & Co, nicht aber für achgut.com oder etwa bild.de – hier dürfen Sie vom Leder ziehen. Ist eine der zahlreichen Ungereimtheiten des Gesetzes ... Ob Sie mit der Formulierung an anderen Gesetzen anecken, vermag ich nicht zu beurteilen.

Brigitte Mittelsdorf / 30.06.2017

Warum fällt mir bei Maas immer gleich Mielke ein? Und das nicht erst seit heute?

Leo Lepin / 30.06.2017

Im Artikel der WELT von heute wird zwar von einigen Einwänden berichtet, aber es wird nicht gesagt, dass mehrheitlich von Verfassungsrechtlern und Juristen dem Gesetz verfassungsfeindlichkeit, Kollision mit dem EU - Recht u.a. vorgeworfen wird. Das wird vollkommen unterschlagen und es entsteht der Eindruck, dass nur die üblichen Spontis gegen das Gesetz gestimmt haben. Diese Art der Berichterstattung trägt dazu bei, dass unser Rechtsstaat sich auflöst…

Karla Kuhn / 30.06.2017

Wenn Sie es mit Fragezeichen schreiben Herr Lupus wahrscheinlich nicht, NOCH stehen Fragen nicht unter Strafe aber kann ja sein, daß Maas das als nächstes Ziel anpeilt.  Frau Steinbach gebührt Hochachtung !!! Ich darf mir nicht vorstellen, daß schwule Paare Kinder adoptieren dürfen.  Herr Steinhöfel hat für seine Rede den idealen Platz gewählt. Das Stasimuseum, wo die Schreckensherrschaft der Stasi gezeigt wird. Ein elendes Unrecht im Unrechtsstaat DDR.  So etwas darf sich nie wiederholen !!

Gottfried Kämpfen / 30.06.2017

Vielleicht passiert (nachdem das Gesetz steht) auch Folgendes: Es gibt unzählige Klagen von Nutzer deren Inhalte vorschnell gelöscht oder gesperrt wurden. Auch zu bedenken: Die Zahl und Intelligenz der Nutzer ist nunmal größer als die von ein paar Juristen und Politikern welche sich ein Gesetz ausdenken. Es wird anders wirken als diese planten. Es steht ja wirklich im Konflikt zur gesetzlich garantierten Meinungsfreiheit. Unglaublich.

Andreas Huber / 30.06.2017

Ich halte nichts von der aktuellen Besetzung in Parlament und Regierung. Aber hier wurde doch nahezu genial taktiert: die “Ehe für alle” wird fraktionsübergreifend ebenso intensiv wie völlig einseitig diskutiert. Daß hier die Basis für die Integration von Kinderehen gelegt wird, daran mag doch niemand ernsthaft denken? Früher durfte man das “Salamitaktik” nennen. Tja, so läuft das eben, wenn das Volk sich einen Käfig voller Krimineller hält, und diesem die Gestaltung der Zukunft überlässt.

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