Gunter Weißgerber / 08.10.2017 / 06:00 / Foto: Pelz / 9 / Seite ausdrucken

Zum 25.Todestag von Willy Brandt

Am 8. Oktober 1992 starb mit Willy Brandt ein wahrhaft großer Deutscher, Europäer und Sozialdemokrat. Diese Aufzählungsabfolge ist mir wichtig, denn verantwortungsvollen Politikern muss immer das Wohlergehen des gesamten Landes wichtiger sein als das Wohlergehen der eigenen Partei. Je näher beides zusammenkommt, desto besser ist es auch für die eigene Partei. Wer klug ist, vergisst nicht, dass vier Jahre lang die Parteien am Zuge sind, aber am Wahlabend ist es die Wahlbevölkerung. In einer Demokratie ist das eine unauflösbare Schicksalsgemeinschaft.

Willy Brandt gehört seit meiner Kindheit quasi zur Familie. Mein Elternhaus war sehr politisch und in ständigem Widerspruch zu den Verhältnissen in der DDR. Als Kind hörte ich in den Gesprächen der Älteren, aber auch in den Nachrichten- und Diskussionssendungen der ARD und des Deutschlandfunks oft von dem standhaften Regierenden Bürgermeister von West-Berlin. Manchmal musste man sehr genau zuhören, denn der Empfang war sehr oft unter aller Kanone. Anfangs versteckten wir die Antennen noch unter dem Dach, denn Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre holte die FDJ die Antennen, die auf West-Empfang ausgerichtet waren, von den Dächern. Das konnte die Festigung eines sehr positiven Willy-Brandt-Bildes nicht verhindern. Im Gegenteil. Die tägliche Unfreiheit stärkte bei mir den Wunsch nach Freiheit und damit auch den Wunsch nach Willy Brandt und seiner SPD.

Am 13. August 1961 wollten meine Eltern mit meinem Bruder und mir über Berlin in den Westen flüchten. Der Mauerbau kam ihnen an diesem Tag zuvor. Willy Brandts Auftreten in diesen dramatischen Zeiten beeindruckte mich sehr: Einerseits seine klare ablehnende Haltung gegenüber Moskaus Handlangern in Ost-Berlin, andererseits die Verhandlungen, um den Menschen Erleichterungen zu verschaffen, wie das Passierscheinabkommen. Das verschaffte ihm auch bei den Bewohnern des SED-Staats Glaubwürdigkeit. Die neue Ostpolitik weckte Hoffnungen, sein Motto „Mehr Demokratie wagen“ war das glänzende Gegenmodell zur Diktatur, der Kniefall in Warschau berührte auch die Ostdeutschen.

Die richtigen Dinge zur richtigen Zeit

Für die SED-Führung war es ein Schock, als sie beim Besuch des Bundeskanzlers Brandt in Erfurt zusehen musste, wie ihm Massen von Menschen zujubelten. Das war eine unerwartet deutliche Demonstration gegen die Machthaber in Ost-Berlin, aber auch des Zuspruchs für einen Hoffnungsträger.

Als 1989 die Mauer fiel, erntete er wieder Jubel, als er - wie der junge Willy Brandt, nur um Jahrzehnte reifer - mit dem Blick eines sehr weisen Mannes die richtigen Dinge zur richtigen Zeit mit seinem tollen Satz: »Wir sind jetzt in einer Situation, wo zusammenwächst, was zusammengehört« zusammenfasste. Der Mann war wunderbar, denn er stand auf unserer Seite. Mit ihm, statt mit Oskar Lafontaine, als Spitzenkandidat wären unsere Niederlagen in den Wahlen des Jahres 1990 nicht so herb ausgefallen.

Die persönliche Krönung für mich war es, dass ich den Mann, den schon mein Vater bewunderte, als ostdeutscher Sozialdemokrat nach 1989 persönlich kennenlernen durfte. Ich stand mit ihm sogar gemeinsam auf einer Wahlkampftribüne in Görlitz am 24. November 1990, an meinem 35. Geburtstag. Christian Müller, MdB a.D., Willy Brandt und ich sprachen zu den vielen Menschen. Das war ein gutes Jahr zuvor noch völlig undenkbar, umso mehr habe ich dies als wunderbaren Moment genossen.

Willy Brandt fiel es dann in unserer Bundestagsfraktion nach dem Wahldebakel im Dezember 1990 sichtlich schwer, mit dem Versagen Lafontaines nicht noch deutlicher abzurechnen, als es ohnehin durchgesickert war. Mir, auch vielen anderen gegenüber, machte er jedenfalls kein Hehl aus seiner großen Enttäuschung. Die Generation Brandt, Schmidt, Renger war 1989/90 auf Augenhöhe mit den Ereignissen. Die führenden Enkel verharrten hingegen im Sandkasten der parlamentarischen ›Du-bist-doof‹-Spiele.

Meine damalige Fassungslosigkeit war grenzenlos. Die SPD war 1990 nicht in der Lage, die Ernte ihrer eigenen Saat - Ostpolitik und Doppelte Nulllösung - selbst einzufahren. Was nicht an Willy Brandt lag.

Kein Herummogeln um drängende Fragen

Manchmal stelle auch ich mir die Frage, wie würde Willy Brandt heute entscheiden oder Entscheidungen reifen lassen? Hätte er, wie Frau Merkel es 2015 tat, die Dublin-Regelungen eigenmächtig, ohne den Bundestag, außer Kraft gesetzt? Vorstellen kann ich mir das nicht. Wer wie er Leib und Leben für die Demokratie eingesetzt hatte, der ignoriert ihre Regeln nicht einfach mal so. Der Bundestag wurde schon oft zu Sondersitzungen zusammengerufen. Dies angesichts der möglichen Folgen für das Grundvertrauen der eigenen Bevölkerung in die Institutionen der Demokratie nicht sofort und unverzüglich zu beantragen – Willy Brandt wäre das nicht eingefallen.

Hätte sich Willy Brandt um die drängendsten Fragen des letzten Bundestagwahlkampfes herum gemogelt? Auch diese Vorstellung gelingt mir nicht.

Würde er zuerst in Moskau anrufen, wenn es um Probleme der souveränen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion geht? Ich bin überzeugt, er würde zuerst in den betreffenden Hauptstädten anrufen, ehe er selbstverständlich mit allen Nachbar-Hauptstädten, auch mit Moskau, konferieren würde. So wie sich das völkerrechtlich gehört. Willy Brandt achtete das Völkerrecht.

Stark in Erinnerung ist mir noch die Gedenkveranstaltung zu Ehren von Julius Lebers 100. Geburtstag am 16. November 1991 in der Berliner Gethsemanekirche. Richtig! In der Ost-Berliner Kirche der Friedlichen Revolution von 1989 (Ob die heutige SPD auf so eine unsozialistische Idee vor dem Hintergrund ihrer Linksaußenliebesbeziehung käme?) ehrte die SPD Julius Leber und präsentierte sich mit Willy Brandt, Helmut Schmidt sowie dem Parteivorsitzendem Björn Engholm beeindruckend.

Ballast abwerfen?

In den Stunden vor ihren Reden besprachen Brandt und Schmidt ihren gegenseitigen Umgang nach dem Ableben eines von beiden. Sie versprachen sich, das Erbe und Andenken des jeweilig anderen wie ihr eigenes zu achten. Schmidt hielt sich nach dem 8. Oktober 1992 daran. Brandt hätte sich ebenso daran gehalten. Bei allen Unterschieden, beide wussten, zusammen waren sie einfach besser. Mich hatte das beeindruckt.

Am 9. Oktober 1992 schrieb ich an den damaligen Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube:

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

die Sozialdemokratische Partei Deutschlands erlitt am 8. Oktober 1992 einen überaus schmerzlichen Verlust. Willy Brandt, die Idenditätsfigur schlechthin für die SPD und die Mehrheit der Deutschen, starb nach schwerer Krankheit in seinem Haus in Unkel.

Mit uns Deutschen trauern viele Menschen aller Nationen um einen zutiefst humanistischen Streiter für den Konsens zwischen den VöIkern. Wir Deutschen verdanken Willy Brandt vor allem die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen sowie die Ostpolitik, welche einen erheblichen Anteil an der späteren staatlichen Einheit unseres Landes hat.

Die Nationen der Erde werden zudem den glaubhaften Ausgleichspolitiker zwischen Nord und Süd vermissen.

In Anbetracht der historischen Größe Willy Brandts bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, Überlegungen in die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Leipzig hinsichtlich einer möglichen Namensgebung eines Platzes oder einer Straße zu tragen. …

Seit dem 18. Dezember 1993, dem 80. Geburtstag Willy Brandts, gibt es in Leipzig einen Willy-Brandt-Platz. Für die heutige SPD habe ich noch einen heißen Tipp von Willy Brandt. Bezüglich hinderlicher ideologischer Vorräte sagte er 1955:

Ich möchte nicht von Ballast abwerfen reden. Aber der Kapitän entledigt sich toter Ladung, wenn er dadurch lebendiges Gut erhalten kann. … Die Zeit der Postkutsche ist vergangen. Das Gesicht der Partei muss vor dem Gericht der Epoche bestehen können…Die SPD müsse sich von einer Partei der Nein-Sager zu einer Partei entwickeln, die ihre Forderungen positiv vertrete. (Peter Koch, Willy Brandt. Eine politische Biographie, Bergisch-Gladbach 1989, Seite 232)

Gunter Weißgerber (Jahrgang 1955)  trat am 8. Oktober 1989 in das Neue Forum ein und war am 7. November 1989 Gründungsmitglied der Leipziger SDP. Gunter Weißgerber war von 1990 bis 2009 Bundestagsabgeordneter und in dieser Zeit 15 Jahre Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion (1990 bis 2005).

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D.Schroeder / 08.10.2017

Bei aller Lobhudelei, mit der Anerkennung der Oder-Neisse Grenze hat er Ballast abgeworfen, den viele Schlesier Danziger und Preussen als Heimat definiert haben. Seine Unterwerfung hat den Bruch Völkerrechts und das Unrecht an den Deutschen legitimiert. Wenn man Herbert Ernst Karl Frahm zu einer Lichtgestalt der Politik stilisiert, sollte man auch den Schatten benennen, den er geworfen hat.

Willi Wonka / 08.10.2017

Tja schade. Früher hatte die SPD Charakterköpfe. Heute weit und breit nichts zu sehen davon. Von einer Volkspartei zur “Bei der Wahl auch dabei”- Partei. Sie hat sich in der Zeit ihrer Mitwirkung in der GroKo selbst zerstört.

Christiane Brauckhoff / 08.10.2017

Willy Brandt fand ich als Kind schon sympathisch, weil ich seine Stimme und seine Art zu sprechen mochte. (Wenn meine Eltern am Fernseher Bundestagsdebatten mitverfolgten, fragte ich manchmal, warum die Leute da so viel schreien.)  Seine großen Verdienste um die Versöhnungspolitik sind mir erst später wirklich bewusst geworden, als ich ein Interview mit Egon Bahr gesehen habe. Willy Brandt war für mich einer der letzten authentischen Politiker. Unvergessen ist sein Kniefall in Warschau, der aus dem tiefen Gefühl heraus erfolgte, dass diese Geste an diesem Ort die einzig angemessene war.  Zu ähnlichen Gesten wären heutige Politiker allenfalls imstande, wenn ihnen ihre PR-Abteilung dazu raten würde. Zum Schluss noch ein Brandt-Zitat für die Gabriels, Schulzens, Schröders und alle anderen, die die Sozialdemokratie verraten haben: „Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“ Willy, ich vermisse Dich! Ich danke Dir! Ich verneige mich vor Dir!“

Henry Melscher / 08.10.2017

Die Altparteien, vor allem CDU, haben sich in infantiler regressiver Verhaltensweise dem 68er-Irrsinn des Extremfeminismus unterworfen. Fähige Leute wie Merz wurden auf mütterlichen Befehl einer, durch den Zufall hochgespülten, sozialistisch sozialisierten Männerhasserin aus der Partei gemobbt. Jetzt reiben sich die entmännlichten Feministenschleimer wie Altmaier ungläubig die Augen und fürchten um ihre leistungsfreien Fressplätze am Diätentisch, denn sie wissen, wenn der Funke der Wut auf die bislang träge staatsfunkverblödete Masse der Bevölkerung überspringt, dann wird es eng für die hochnäsigen “Volksvertreter” in den Systemparteien.

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