Frauen, ethnische Minderheiten, Schwule, Lesben, Transgender – die Opfergruppen sind 2016 so zahlreich wie nie. Wer nicht auf irgendeine Art beleidigt oder diskriminiert wird, ist eben bloss normal. Weil normal aber langweilig ist und man als Normaler zudem Gefahr läuft, selbst zu den Unterdrückern zu zählen, wünschen sich viele das herbei, was man im Fachjargon Mikroaggressionen nennt – etwas, das einem angetan wird und das man als beleidigend empfinden kann. Mikroaggressor ist, wer zum Beispiel die exotisch aussehende Postmitarbeiterin hinter dem Tresen nach ihrer Herkunft fragt. Ob aus reiner Neugier, spielt keine Rolle, es ist rassistisch.
Das Wort "exotisch" selbst ist natürlich strittig, vermutlich steht es auf der Liste der verbannten, weil beleidigenden Wörter, die Studenten der Universität Wisconsin erstellt haben, wie "verrückt" oder "lahm". Letzteres sei verletzend für all jene, die tatsächlich ihre Beine nicht mehr benützen können.
Studenten der Uni North Carolina stören sich derweil an Kostümen. Sie verboten an Halloween das Indianer-Kostüm und den "Hey Amigo Mexican", weil man damit die Tradition der kulturellen Identität verspotten würde. Dass es der Mehrheit jener Minderheiten einerlei ist, wie Leute sich an Partys kleiden: eine Nebensächlichkeit.
Die Spezies "weisser Hetero-Mann" immer angesagter
"Wer ist ze?" heisst es neu an der Oxford Universität. Dort zeigt sich die Sprachpolizei einfallsreich im Ausbrüten neuer Begriffe. Um Transgender nicht zu beleidigen und allgemein Menschen, die sich nicht als Mann oder Frau fühlen (Zwitter, Androgyne etc), empfiehlt die Elite-Uni ihren Studenten, sich mit geschlechtsneutralen Pronomen wie "ze" anzusprechen anstatt mit "er" oder "sie".
Es existieren endlos Gelegenheiten, sich über Beleidigungen aufzuregen – besonders gut eignen sich Männer, die einem unaufgefordert Komplimente machen. "Heute bist du aber nett angezogen" oder "Du trägst schöne Stiefel" – Beispiele sexistischer Erniedrigungen, mit denen Schweizer Frauen im Alltag zu kämpfen haben. Ihr kollektiver #SchweizerAufschrei ging in Zürich und Bern um die Welt. Überhaupt wird der Kreuzzug gegen die Spezies "weisser Hetero-Mann" immer angesagter: Weil der Bürgerrechtler Bernie Sanders im US-Wahlkampf einmal das Wort "Ghetto" benutzte, musste er empörten Black Lives Matter-Aktivisten tagelang erklären, wie er es meinte (oder nicht). Dass er schon als Student gegen Rassendiskriminierung demonstrierte und auch beim legendären Marsch mit Martin Luther King mitlief – irrelevant.
Relevanz erkennen Experten immerhin bei ernsten Problemen wie dem Global Warming. Aus über 190 Ländern reisen sie per Flugzeug nach Marrakesch, debattierten während zwei Wochen in klimatisierten Räumen und stellten auf dem Gelände sogar eine Reihe Ladestationen für Elektroautos auf. Da in Marokko Abgase aber nicht zu den dringendsten Problemen zählen, kam kein einziges Elektroauto je vorbei.
Und was bleibt? Als Gesellschaft legen wir uns ohne Not allerlei Zwänge auf, um unsere Verbundenheit mit Minderheiten zu demonstrieren, während es uns eigentlich darum geht, uns selbst besser zu fühlen. Es macht sich eben gut, auf der Seite der Leidenden zu sein. Besonders dann, wenn man dafür nur ein neues Hashtag zu kreieren braucht, mit dem sich das Leid besser zelebrieren lässt.
Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst. In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen