Thomas Schmid hat in einem Kommentar unter anderem bei Welt-Online das hässliche Gesicht der Deutschen Einheit entdeckt: nämlich die demokratiefeindliche Parole „Wir sind das Volk“.
Wikipedia weiß: Thomas Schmid war einst Aktivist der Frankfurter Studentenbewegung. 1968 wurde er Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Neben Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und Matthias Beltz wurde er Gründer der linksradikalen Gruppe Revolutionärer Kampf. Später wurde er Chefredakteur der Welt-Gruppe.
Nach 29 Jahren Wiedervereinigung meint Thomas Schmid, die Ossis endlich zu durchschauen und macht aus seinem Herzen keine Mördergrube. Schmid sagt verschwurbelt dasselbe, was der spätere Bundesinnenminister Otto Schily meinte, als er nach der Volkskammerwahl im März 1990 wortlos eine Banane in die Kameras hielt. Er war bei einer Bonner Politikerdiskussion auf das gute Abschneiden der CDU bei den DDR-Wählern angesprochen worden. Welche Arroganz!
Herrn Schmids neuer Kommentar mit der alten Leier erregt aber nun doch meinen Widerspruch, und so wende ich mich denn an ihn persönlich – stellvertretend für all die linksintellektuellen Besserwisser, die hinter jedem Busch in Chemnitz einen Nazi wittern und lieber die DDR hätten weiterexistieren lassen – zumindest, so lange sie selbst nicht dort leben mussten.
Sehr geehrter Herr Thomas Schmid,
anlässlich des Tages der Deutschen Einheit vertraten Sie als WELT-Autor die These, die Entfremdung zwischen Ost und West sei bereits in der Revolution des Jahres 1989 angelegt gewesen. Schon 1989, so mutmaßen Sie, während der friedlichen Revolution, hätte sich das demokratieunfähige bis demokratiefeindliche Wesen des Ostens offenbart, nämlich in der Parole „Wir sind das Volk!“ Denn schon damals hätte der Slogan eigentlich bedeutet: „Wir, die in Wut, Zorn und Elitenverachtung Verbundenen, haben allein nationale Prokura. Und weil wir das Volk sind, haben andere – Ausländer, nicht in Deutschland Geborene, Liberale, Zweifler und solche, die sich nicht völkisch verstehen – hier nichts zu suchen.“
Sie unterstellen den Ossis, dass sie 1989 nicht die Freiheit gewollt hätten, sondern eigentlich durch Ordnung eingehegte Freiheit. Und Sie führen Ihren Gedanken fort bis zum „hässlichen Gesicht der deutschen Einheit“ – Sachsen und Chemnitz.
Sehr geehrter Herr Thomas Schmid, Sie wuchsen mit dem goldenen Löffel der Freiheit im Mund als Sohn eines Ärztepaars im freien Westen auf und gehörten von Anfang an zu den 68ern. Sie kennen in Ihrem Leben nichts anderes, nur Demokratie. Meinen Glückwunsch dazu.
Und jetzt mutmaße ich mal ein wenig zurück. Sie waren leidenschaftlicher 68er und sind 68er geblieben. Die 68er empfanden von Anfang an die DDR als das bessere Deutschland. Das war aus den bequemen Polsterkissen des Westens auch leicht anzunehmen. Und richtige 68er haben es uns Ossis nie vergeben, dass wir Ihnen die Illusion vom besseren – nämlich dem sozialistischen – Deutschland, mit unserer Wende kaputt gemacht haben.
Deshalb schreiben Sie heute einen braunen Osten herbei. Sie tun dabei so, als wäre der Osten Deutschlands anfälliger für Nazi-Ideologie als der Westen. Und Sie tun es mit einer unfassbaren Anmaßung. Sie fordern doch sonst immer das Differenzieren von anderen, dass nicht von einem Kriminellen auf die Anderen „zu uns Gekommenen“ verallgemeinert werden dürfe. Und nun diskriminieren Sie eben mal im Vorbeischreiben 15 Millionen Ihrer Landsleute, indem Sie ihnen unlautere Motive und Nazi-Affinität unterstellen.
Es gab in Wahrheit nie so etwas wie „die Ossis“, die Sie in Ihre verächtliche Schublade stecken. Es mag 1989 wohl DDR-Bürger gegeben haben, die den westlichen Wohlstand gerne mitgenommen haben. Und es gab auch Mitläufer des DDR-Regimes. Die sitzen heute mehrfach umbenannt und unbehelligt im Bundestag und brauchen sich vor Ihrer Kritik nicht zu fürchten.
Aber es gab viele Millionen Ossis, die in erster Linie frei sein wollten. Die eigenen Fleiß belohnt sehen wollten, um sich eine freie Existenz aufzubauen. Die reisen wollten, um sich eine Weltanschauung durch Anschauen der Welt bilden zu können. Die ohne Flüstern und Furcht ihre eigene Meinung frei sagen wollten. Die freie Zeitungen lesen wollten – Medien, die nicht nur die Regierungsmeinung nachplapperten. Die demokratisch eine Regierung wählen wollten, die sie nicht unterdrückt, sondern beschützt. Die sich einen Bundestag mit Regierung und echter Opposition vorstellten. Die Demokratie herbeisehnten, nach vierzig Jahren Unterdrückung.
Sehr geehrter Herr Schmidt, erlauben Sie mir, Ihnen meine ganz persönliche Geschichte der friedlichen Revolution zu erzählen. Während Sie an Ihrem Artikel schrieben, besuchte ich aus meiner Pariser Heimat einen Ort in Ihrer Stadt Berlin, der eine ganz persönliche Erinnerung für mich beherbergt: Berlin Köpenick. Vielleicht denken Sie beim Lesen meiner kleinen Geschichte ja nochmal über Ihre Meinung zu den Ossis nach.
Oktober 1989, Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen*
Ich ahne dumpf, dass sie mich entsorgen müssen. Ich spüre, dass sich über meinem Haupt etwas zusammenbraut. Ich weiß nicht wie und wann. Ich weiß nur, dass sie völlig skrupellos vorgehen werden. Ich weiß auch nicht, wie ich mich im Angesicht meines Endes verhalten werde. Schaffe ich es, meine Würde zu wahren? Das ist meine größte Angst. Immer wieder habe ich alle möglichen Szenarios in Gedanken durchgespielt. Es hat meine Angst nur noch schlimmer gemacht. Ich will noch nicht verrecken. Ich habe doch Paris noch nicht gesehen.
Die Stärke der Stasi sind Konspiration und der Überraschungseffekt. So konnten sie schon immer ihre Feinde besiegen. Und wenn es legal nicht geht, dann eben illegal, schließlich ist es für die gute Sache. Ich hatte eine weitere schlechte Nacht. Das monatelange Aufwecken alle 15 Minuten hat mich völlig zermürbt und auf ein stumpfes Bündel von Elend reduziert, das vor sich hinstarrend seine Stalintorte verzehrt. So nennen wir das morgendliche Marmeladenbrot.
Urplötzlich kommen sie mit fünf Mann in die Zelle und zerren mich raus. Ich kann mich nicht mal von Bartschi verabschieden. Er liegt grau in seinem Krankenbett und streckt mir die Hand zu, als sie mich an ihm vorbeizerren. Seine Augen sagen: Leb wohl. Er ahnt wohl, was mir jetzt bevorsteht; ich habe ihm erzählt, dass ich als Schichtleiter im Kernkraftwerk Geheimnisträger war.
Sie sperren mich erst mal in eine andere Zelle. Sie ist völlig kahl. Wieder einmal sitze ich nackt in der Mitte eines leeren Raums auf dem Fußboden. Nach ein paar Stunden öffnet sich die Klappe in der Tür und meine Zivilsachen fliegen auf den Boden. Meine Sachen. Ich ziehe mich an. Meine Hose ist viel zu weit. Meine Verhaftung war im Frühling. Jetzt ist fast Winter, ich habe nur ein T-Shirt an. Trotzdem tut es gut, die eigenen Sachen zu tragen. Ich setze mich wieder auf den Boden und starre die Wände an. Was haben sie jetzt mit mir vor? Ich habe Angst.
Nachdem ich eine Ewigkeit dagesessen habe, werde ich abgeholt. Sie kommen wieder zu fünft, schwer bewaffnet. „Hauptmann Winter“ steht im Hintergrund und sieht wütend aus. Im Gang verbinden sie mir die Augen. Das kann doch nicht wahr sein, ich protestiere. Ich bin aber offensichtlich an Stasi-Leute fürs Grobe geraten, die mir unmissverständlich klarmachen, dass ich meine Fresse zu halten habe, sonst setzt es was.
Sie drehen mir die Arme auf den Rücken und zwei Mann halten mich fest. Ich stolpere durch die Gänge, die Schritte hallen laut wider. Ein großes Metalltor öffnet sich geräuschvoll und sie führen mich auf einen Hof? Auf jeder Seite hält mich immer noch einer fest am Arm gepackt. Soll ich jetzt und hier erschossen werden? Sie fesseln mir die Arme auf dem Rücken. Es scheint nicht sehr fest zu sein, vielleicht kann ich mich daraus befreien?
Trotzdem fange ich an, zu zittern. Ich höre die Schritte von mehreren Leuten und bekomme Panik. Ich höre ein doppeltes metallisches Klacken, wie eine Pistole, die durchgeladen wird. Das können die doch nicht machen! Draußen bricht das Regime zusammen und hier drin soll ich vorher noch abgeknallt werden wie ein Stück Vieh? Gott im Himmel, bitte nicht das! Ich will doch noch Paris sehen. Ich zittere am ganzen Körper und habe furchtbare Angst, mir in die Hose zu pissen.
Ich kann nichts sehen. Sie halten mich an beiden Armen. Ich fange an, mich zu wehren, und versuche, mich loszureißen. Jemand verpasst mir einen Leberhaken, dass mir die Luft wegbleibt. Sie schieben mich in ein Auto und fahren mit kreischenden Reifen los. Wollen sie mich woanders beseitigen? Ich kann nach wie vor nichts sehen, spüre aber, dass jemand neben mir sitzt. Es ist ein großer Wagen, wohl ein „Wolga“.
Ich versuche, die Augenbinde mit der Schulter zu verschieben. Ein weiterer Schlag in die Rippen belehrt mich, dass dies nicht erlaubt ist. Die Situation ist grotesk. Sie fahren mich im Wolga zur Hinrichtung? Viel ausrichten kann ich nicht. Ich bin geschwächt und gefesselt, sie sind zu mehreren. Ich fürchte jetzt am meisten, dass sie meine Angst sehen und riechen können. Diesen Triumph kann ich ihnen nicht gönnen. In meiner Hilflosigkeit fange ich an, unmotiviert zu lachen. Ich will ihnen zeigen, dass ich sie auslache, wenn sie mich abknallen. Der Mann fürs Grobe haut mir nochmal in die Rippen und droht mir weitere Prügel an. Es ist mir schon egal. Kläglich sitze ich mit verbundenen Augen auf dieser beschissenen Rückbank des beschissenen Stasiautos und lache meine beschissenen Peiniger aus. Es ist das erbärmliche Hohnlachen eines armen beschissenen Feiglings auf seinem letzten Gang. Mehr schaffe ich nicht.
Plötzlich kreischen die Reifen. Der Wagen bremst scharf, ich fliege nach vorn, mit dem Gesicht an die Lehne des Vordersitzes. Der Wagen hält aber nicht an. Jemand verpasst mir einen Schwinger, dass ich gegen die linke Wagentür fliege. Die gibt nach. Ich kann nichts sehen, kann mich mit den Händen auf dem Rücken nirgendwo festhalten.
Dann fliege ich aus dem fahrenden Wagen und schlage hart auf die Pflastersteine auf. Ich rolle ein Stück. Mit quietschenden Reifen höre ich den Wagen davonbrausen. Das Pflaster ist nass. Ich habe mir beim Fall den Ellenbogen aufgeschlagen. Die Fessel sitzt so lose, dass ich mit ein bisschen Anstrengung unter Zurücklassung von Hautfetzen meine Hand herausziehen kann. Es ist kalt. Ich nestele mir die Augenbinde vom Gesicht, ein dunkelbrauner Putzlappen. Es nieselt. Ich sitze mitten auf einer menschenleeren Straße bei einer Brücke mit grauem Kopfsteinpflaster inmitten von grauen, unansehnlichen Häusern aus den 50er Jahren. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin.
Ich lebe noch! Wo, um Gottes Willen bin ich? Ich bin von dem Rollen auf der Straße ziemlich dreckig. Ich rappele mich hoch und sammle hastig meine leere Reisetasche ein, die ein paar Meter weiter in der Gosse liegt. Ich bin ziemlich ratlos. Kommen sie wieder? Ist das hier der Westen? Haben sie mich in den Westen entsorgt?
Ich laufe aufs Geratewohl los, bis ich eine Straßenbahnhaltestelle sehe. Dort ist eine ältere Frau, die mich mit unverhohlenem Misstrauen mustert. Als ich sie frage, wo ich hier wäre, nennt sie einen Straßennamen. Ich frage sie, in welchem Stadtteil, in welcher Stadt? Sie erschrickt und hält mich wohl für irre. Dann erklärt sie mir verängstigt, Das ist hier Berlin-Köpenick. Sie wartet nicht mehr auf ihre Bahn, sondern geht schnell weg. Ich bin völlig fertig. Ich bin in Ostberlin. In der Bahn muss ich schwarzfahren, weil ich kein Geld habe.“
Drei Tage später wurde mir die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt und ich musste innerhalb von 24 Stunden das Land verlassen. Das, geehrter Herr Schmid, ist meine Geschichte von 1989.
Da stehe ich nun dreißig Jahre später mit meiner Frau an jenem Ort in Köpenick. Die Straße, kaum wiederzuerkennen, doch mit den Pflastersteinen, dicht bei der Brücke. Ich drehe mein Gesicht zur Seite. Wie könnte ich meiner Frau erklären, warum mir hartem Mann die Tränen übers Gesicht laufen.
Sehr geehrter Herr Schmid, viele der von Ihnen herablassend beschriebenen Ossis haben einen hohen Preis für die Freiheit bezahlt. Einen Preis, den Sie sich nur schwerlich vorstellen können, ja von dem Sie keine Ahnung haben. Deshalb ist uns im Osten die Freiheit lieb und teuer und darf nicht in Menschenexperimenten (Min. 1:50) – auch wenn sie noch so „historisch einzigartig“ sind – aufs Spiel gesetzt werden. Die Ossis haben ein 40-jähriges Menschenexperiment hinter sich.
Deshalb machen sich viele Ossis vielleicht mehr Sorgen um die Demokratie, als Sie, Herr Schmid, sich vorstellen können. Sie mussten die Abwesenheit von Demokratie ja nie kennenlernen. Wir hingegen, die sozialistischen Versuchskaninchen, sollen uns von Linken, die es gerne nochmal versuchen würden, von oben herab als „besorgte Angstbürger“ beschimpfen, wenn nicht gar als Nazi-Anfällige verdächtigen lassen.
Abschließend wünsche ich Ihnen, dass jenes Experiment, dass Sie mit Ihrer Feder so vehement unterstützen, gut ausgehen möge. Damit Sie die Abwesenheit von Demokratie nie in Ihrem Leben kennenlernen.
Hochachtungsvoll Manfred Haferburg
*Der Textabschnitt „Oktober 1989, Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen“ ist ein Auszug aus dem autobiografischen Roman „Wohn-Haft“, der nach dem Hardcover und E-Book demnächst auch als Paperback im KUUUK-Verlag erscheint.