Gastautor / 17.06.2022 / 11:00 / Foto: Von Stefan Krikowski / 39 / Seite ausdrucken

17. Juni und Ukraine: Berlin entsorgt den Protest

Von Stefan Krikowski.

Vom 17. Juni 1953 bis heute: Die Aggression des Kremls gegen die Freiheit hält an, wie zuletzt der Angriff auf die Ukraine zeigte. Dennoch lässt der Berliner Senat Gedenk- und Protestelemente vor der russischen Botschaft entfernen. Ein Offener Brief an Franziska Giffey.

Sehr geehrte Frau Regierende Bürgermeisterin Giffey,

wir können heute nicht der Opfer der Niederschlagung des Volksaufstands des 17. Juni 1953 gedenken, ohne die Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine zu erwähnen. Wir können heute nicht den damaligen Aufstand gegen die SED-Diktatur würdigen, ohne uns zu schämen, wie Berlin mit hiesigen Protestaktionen gegen die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine umgeht.

An diesem Tag, dem 17. Juni, erinnern wir uns an die Menschen, die vor 69 Jahren in der DDR gegen die Politik der SED aufbegehrten. Und wir erinnern uns daran, wie dieser Volksaufstand von sowjetischen Panzern blutig niedergeschlagen wurde. Diese Panzer wurden vom Kreml befehligt. Lange durften wir meinen, der Aufstand vom 17. Juni 1953 habe sein glückliches Ende im Mauerfall vom 9. November 1989 gefunden. Heute sind wir Zeugen, wie erneut der Kreml seine Panzer schickt, diesmal um eine freie und friedliebende Nation, die Ukraine, zu vernichten. Fassungslos sehen wir Bilder der Zerstörung, Vernichtung und der tausendfachen Kriegsverbrechen.

Am 22. Juni 1953 beschloss der West-Berliner Senat, zum Gedenken an die Opfer des Arbeiteraufstandes in Ost-Berlin und der DDR die Achse zwischen dem heutigen Ernst-Reuter-Platz und dem Brandenburger Tor in „Straße des 17. Juni“ umzubenennen. Am 4. August 1953 erklärte die damalige Bundesregierung den 17. Juni als „Tag der deutschen Einheit“ zum gesetzlichen Feiertag. Bis 1990 war der 17. Juni bundesweiter Feier- und Gedenktag. Östlich des Brandenburger Tors, an der Verlängerung der Straße des 17. Juni, liegt die russische Botschaft („Unter den Linden“). Seit dem jüngsten russischen völkerrechtswidrigen Angriffs-und Vernichtungskrieg auf die Ukraine finden hier häufig Proteste statt.  

Alle Zeichen des Protestes wurden entsorgt

Auf dem Mittelstreifen vor der russischen Botschaft in Berlin standen bis zum 13. April u.a. folgende Gedenk- und Protestelemente: ein Baustellenschild mit dem Namensschild „W. Selenskyj Platz 1“ und ein anderes mit dem Namen „Freedom Square“. Dazwischen waren zwei Seile gespannt mit acht DIN-A2-großen laminierten Farbplakaten. 

Die Plakate hingen seit dem 8. April zwischen den zwei Pfosten, nachdem sie zuvor von den Absperrgittern entfernt wurden. Die Plakate wurden am 13. April 2022 zum zweiten Mal zusammen mit den übrigen Protest-Elementen entfernt. Den Mittelstreifen vor der Botschaft säuberte man von wirklich allen Zeichen des Protestes: Kerzen, Blumen, Plakate, alles wurde entsorgt. Auch die 134 Paar Kindersocken – aufgehängt an einer Leine zwischen zwei Bäumen –, die an die Zahl der bis dahin getöteten ukrainischen Kinder erinnerten, wurden entsorgt, ebenso Fotos von den Gräueltaten der russischen Armee in Butscha oder in Mariupol. 

Es wirkt, als sei es in Berlin politisch nicht erwünscht, dass vor der russischen Botschaft Zeichen des Protestes sichtbar sind. Sie wird von Protesten abgeschirmt: Nicht nur ist der Bürgersteig vor der Botschaft mit Absperrgittern nicht länger begehbar, Absperrgitter stehen auch auf dem Mittelstreifen, noch vor den Bäumen und den Bänken. Und nun wurde auch der Fußgänger-Mittelstreifen geräumt. Wer hat diese „Säuberung“ veranlasst? Es gab keine Hinweise auf eine Zerstörung, sondern auf ein großes Reinemachen. Nichts, aber auch nichts ist liegengeblieben.  

Rücksichtnahme auf russische Befindlichkeiten

Auf wiederholtes Nachfragen beim Polizeiabschnitt 28 (Alt-Moabit 145) konnte man uns keine Auskunft geben. Am 19. April 2022 stellten wir eine Strafanzeige gegen Unbekannt. Am 3. Mai 2022 antwortete die Amtsanwaltschaft Berlin, dass von der Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen abgesehen wurde. Die Protest-Elemente seien im Rahmen eines „Ordnungswidrigkeitsverfahrens wegen Verstoßes gegen das Berliner Straßengesetz im Auftrag der Polizei Berlin durch Mitarbeiter der BSR entfernt“ worden.

Als Sprecher der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion setze ich mich dafür ein, das Unrecht des Kommunismus zu dokumentieren, indem ich die Biografien derjenigen politischen Häftlinge festhalte, die von einem Sowjetischen Militärtribunal in der Sowjetischen Besatzungszone oder in der frühen DDR unrechtmäßig zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden und die diese in einem Straflager – vorwiegend im Lagerkomplex Workuta – in der Sowjetunion verbüßen mussten. 

Dass die Hauptstadt des glücklich wiedervereinigten Deutschlands hiesige Proteste gegen die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine als „Ordnungswidrigkeit“ einstuft und die Gegenstände als Müll entsorgt, erfüllt mich mit Entsetzen und Abscheu. Viele Berliner, ebenso Touristen und auch geflohene Ukrainer, blieben vor den Protestplakaten stehen und waren dankbar für diese öffentlichen Zeichen der Solidarität mit dem ukrainischen Volk. Die Berliner „Säuberung“ ist ein schäbiger Akt, im Auftrag der Polizei durchgeführt durch die BSR. So eine Rücksichtnahme auf russische Befindlichkeiten wäre in den osteuropäischen Hauptstädten Warschau, Prag, Tallin, Riga oder Vilnius unvorstellbar. 

Mit freundlichem Gruß

Stefan Krikowski

 

Stefan Krikowski ist Sprecher der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion, eines Opferverbandes kommunistischer Gewaltherrschaft (Website hier). Er lebt in Berlin.

Foto: Von Stefan Krikowski

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RMPetersen / 17.06.2022

Da haben Sie etwas verwechselt, Herr Krikowski: Die Offiziellen haben nicht die Kritik an Russland entsorgt, sondern die an der DDR-Politik. Der Kommunismus steht wieder hoch im Kurs, die aktuelle Innenministerin ist in einem Boot mit erklärten Kommunisten. (Man könnte auch “Linksextremisten” sagen. ) Den Auftsand am 17. Juni haben Soldaten der UdSSR niedergeschlagen; wenn Sie einige Reden von Putin gelesen haben werden Sie wissen, dass er kein Kommunist ist und harte Kritik am den KPdSU geübt hat. Wenn gegenwärtig Kritik an den Tätern des 17. Juni regierungsseitig unerwünscht ist, dann weil dies die Schaffung der DDR2.0 stören würde.

Dr. med. Jesko Matthes / 17.06.2022

Bis 1944 stand da, wo das Foto entstand, statt der russischen Botschaft das Hotel Bristol, von dem ich noch einen Löffel aus dem Nachlass meiner Eltern besitze. Die Russen waren “hinten” in der Behrenstraße in einem sehr eleganten kleinen Palais. Es wäre mir lieber, diese Kaiserzeiten kämen zurück, natürlich ohne die wahnwitzige Automatik, wegen des Balkans als Auslöser einen ganzen Kontinent in den Untergang zu stürzen. Wohlgemerkt, wer jetzt dasselbe auf die Ukraine überträgt: Gerade diese Automatik gab es nicht, und es gab auch kein Attentat, außer eben jenes, dieses Land ohne Not zu überfallen. Und natürlich erinnert es auch mich an Berlin 1953, Ungarn 1956, Berlin 1961 und Prag 1968. Alle sind fassunglos, die meisten empört, bis auf die üblichen fünften und sechsten Kolonnen - und am Ende gewinnen immer die Russen. Denn das ganze ideologische Gequatsche des Kreml kann man seit 1917 (und vorher auch: “Du bist doch kein verfluchter Tschetschenze!” - Aus: “Ein Held unserer Zeit” von Michail Lermontow) komplett vergessen, es geht immer nur um die Macht Russlands und des jeweiligen “Zaren”, nichts sonst. Wer also lautstark meint, sich von den Russen “befreien” lassen zu können wie 1945, dem wünsche ich anschließend starke Nerven bei Klappehalten unter russischer Führung und noch stärkere beim Absitzen seiner Lagerhaft. Äh, Giffey? Wer war das nochmal?

Volker Kleinophorst / 17.06.2022

@ R.  Knoth Warum hat der böse Volker das so geschrieben? Russophob ist natürlich nicht das Gleiche wie islamophob.

A. Buchholz / 17.06.2022

Sehr geehrter Herr Krikowski, wir werden bereits auf das Frieren und Hungern für die Ukraine im Winter medial vorbereitet (Habeck), ebenso wie auf das Maskentragen von Oktober bis Ostern (Lauterbach). Darüber beklagt sich auch niemand, denn die Leute sind sehr eingeschüchtert und niemand will als Dissident und Staatsfeind gelten. Eine Bundeswehr, die mit der Ukraine in einen Krieg gegen Russland zieht, haben wir (in diesem Fall glücklicherweise) auch nicht. Erwarten Sie weiterhin deutsche Demut und Angepasstheit von uns, aber bitte keine Klatschorgien wie bei der CDU. Um allgemeine Begeisterung hervorzurufen, braucht man entweder wirkliche Überzeugung oder extremen Druck. Beides liegt meiner Meinung nach momentan (noch) nicht vor.

Paul Sperling / 17.06.2022

Butter bei die Fische: Russland führt in der Ukraine einen völkerrechtlich nicht gedeckten Krieg - keinen Vernichtungskrieg. Ein Vernichtungskrieg ist das was die Wehrmacht ab 1941 in der Sowjetunion aufgeführt hat und vier Jahre später mit 27 Millionen getöteten Sowjetbürgern endete. Hier waren von vornherein der Tod von 30 Millionen Slawen, das Verhungernlassen großflächiger Siedlungsgebiete, Umsiedlungen, das Niederbrennen tausender Dörfer Programm und nicht Kollateralschaden. Der Tod von 3 Millionen sowjetischer Kriegsgefangener war kein Unfall, sondern Plan genau wie die Ermordung von Juden, Zigeunern und anderen als minderwertig Eingestuften. Unbescholtene Wehrmachtsgeneräle und hunderte Mitarbeiter in Stäben und Ministerien hatten nichts anderes als die vollständige Vernichtung im Sinn, von vornherein war Völkermord Programm. Davon ist Russlands Kriegsführung Lichtjahre entfernt. Die Verbrechen des Stalinismus, die Verbrechen der DDR-Führung und sonstige Untaten kommunistischer Regimes sollten nicht den Blick auf die objektive Bewertung des jetzigen Krieges in der Ukraine verstellen. Zum 17.06.1953: die UdSSR sah den Volksaufstand kommen und mahnte immer wieder Mäßigung bei Ulbrichts Wirtschaftsprogrammen an, um einen bewaffneten Konflikt mit der Bevölkerung zu vermeiden. Die Aufständischen richteten auch sofort eine Adresse an die sowjetische Militärkommandatur dass man sich nicht gegen die UdSSR auflehne, sondern gegen Ulbrichts Regime. Da die junge DDR-Staatsgewalt außerstande war, den Aufstand selbst niederzuschlagen, musste die Sowjetunion wohl oder übel eingreifen und einen ungeliebten Vasallen retten um die DDR nicht zu verlieren. Man sollte Geschichte nicht einseitig in Gut und Böse einteilen so wie es der Autor des Artikel, wohl auch aus persönlicher Betroffenheit, tut. Beide Machtblöcke waren nicht zimperlich, wenn es um ihre Einflusszonen ging.

Jörg Themlitz / 17.06.2022

@Volker Kleinophorst: Sehe ich genauso. Aus eigener Sicht im ´Namen einer guten Sache` zu handeln, heilt doch keinen Rechtsbruch, keine Ordnungswidrigkeit.  Hier wird für zweierlei Recht plädiert. Ein Recht für die Guten und ein Recht für die…. Anderen? Bösen? Doofen? Empathielosen? Das Totschlagargument und Rechtfertigungsargument für alle Verfehlungen des Regimes in der DDR: Bist Du etwa nicht für den Welfrieden?

Michael Scheffler / 17.06.2022

Ach Du Sch… Immer wieder wird hier so getan, als ob die Sowjetunion nur aus Russland bestand. Das war mitnichten so. Die örtlichen Potentaten - gerade in der Ukraine - oder den mittelasiatischen Ländern mutierten flugs zu Demokraten. Natürlich unter tätiger Mithilfe ihre landeseigenen Oligarchen. Trotzki ist auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren, Stalin war Georgier. Achgut ist nur noch wegen der Corona-Artikel lesbar.

Günter Schaumburg / 17.06.2022

Wenn ich zu meinem Hausarzt muß, komme ich am russischen Konsulat vorbei. Gegenüber haben Ukrainer eine Theaterkulisse zum Drama “Ukraine und Teufel Putin” aufgebaut. Das musische Gedudel strapaziert das Trommelfell und die Plakate stehen nutzlos herum - keiner liest sie, viele Passanten wechseln rechtzeitig die Straßenseite. Zu viel Propaganda war nicht immer zum Nutzen einer Sache.

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