Die öffentliche Diskussion in Deutschland ist von einer Vielzahl vermeintlicher und tatsächlicher Rede- und Denkverbote geprägt. Sarrazin, Islam, der Nahe Osten, das sind die heiklen Themen, welche die Gemüter in Wallung bringen. Verglichen damit erscheint eine Diskussion über Föderalismus geradezu harmlos - ein Gesprächsthema, das man auch bei einem heiteren Kaffeekränzchen anschneiden könnte. Doch selbst hier gibt es ein Tabu, das gebrochen werden kann: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer bundesstaatlichen Ordnung ist, um es vorsichtig zu sagen, in sich widersprüchlich, oder, wenn wir es deftig ausdrücken wollen, schizophren. So richtig in Frage stellen möchte den Föderalismus keiner. Trotzdem scheint er, wenn wir der veröffentlichten Meinung glauben, im Grunde genommen eine mehr oder weniger liebenswerte Schrulle zu sein: die Ministerpräsidenten werden von den Kommentatoren als „Landesfürsten“ verhöhnt, die Politik in den Landtagen gilt ihnen als „provinziell“ und letzten Endes ist der ganze Föderalismus ja eh nur „Kleinstaaterei.“
Eines der Dogmen, über das sich Politiker aller Parteien und Journalisten jeder Couleur einig sind, betrifft die Anzahl der Bundesländer: 16, so glaubt man, sind zu viel, also muss fusioniert werden. Kleine Bundesländer sind von Übel, weil ineffizient, also sollen möglichst große Einheiten angestrebt werden. Aber warum eigentlich? Die Schweiz, die kleiner ist als Baden-Württemberg, hat 26 Kantone und scheint damit nicht schlecht zu fahren. Während man in Deutschland glaubt, es wäre besser, weniger Länder zu haben, werden es in der Schweiz sogar mehr: 1979 spaltete sich der französischsprachige Jura vom Kanton Bern ab. Dass die Kantone unterschiedlich groß sind, stört in der Schweiz niemanden: der größte Kanton, Zürich, hat eineinhalb Millionen Einwohner, der kleinste, Appenzell-Innerhoden, gerade mal 15.000. Dass kleinere Einheiten ineffizienter als große sind, würde auch kein Schweizer unterschreiben, im Gegenteil: Kantone und Gemeinden sollten möglichst überschaubar sein. Nur so können sie Keimzellen der direkten Demokratie sein, in denen der Bürger - in einem überschaubaren Rahmen - über die öffentlichen Angelegenheiten entscheidet. Gerade diese Kleinräumigkeit ist es, die die große Zufriedenheit der Schweizer mit ihrem politischen System erklärt: „Der Kleinstaat“, so schreibt der großer Schweizer Historiker Jacob Burkhardt, „ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die größtmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind.“ In Deutschland denkt man anders: kleine Bundesländer wie Bremen, Berlin oder das Saarland sollten am Besten in größeren Einheiten aufgehen. Als Argument dafür wird meist vorgebracht, dass diese Länder am Tropf des Finanzausgleichs hingen. Dass das Unsinn ist, zeigt ein Blick auf Hamburg: dieser Stadtstaat ist wirtschaftlich erfolgreich, während umgekehrt Flächenstaaten wie Sachsen Anhalt oder Brandenburg große Probleme haben. In der Schweiz ist es sogar so, dass konservative Kleinstkantone wie Glarus und Zug wirtschaftlich an der Spitze stehen. Die Stärke und Lebensfähigkeit eines Gemeinwesens hat also mit seiner Größe zunächst einmal gar nichts zu tun.
Wem verdanken das antike Griechenland und das Italien der Renaissance ihre wirtschaftliche und kulturelle Blüte? Nicht zuletzt ihrer politischen Zersplitterung: die polis Athen wollte prächtigere Tempel haben als ihre Rivalin Korinth; die Medici in Florenz strebten danach, beeindruckendere Kunstsammlungen aufzubauen als die Gonzaga in Mantua oder die Päpste im Kirchenstaat. Konkurrenz belebte das Geschäft. Das ist auch heute noch so: im Gegensatz zu deutschen Bundesländern dürfen Schweizer Kantone ihre eigenen Steuersätze festlegen. Die Schweiz als ganze profitiert davon. Der einzige bedeutende Bereich, über den deutsche Länder bestimmen können, ist das Schulsystem. Entsprechend groß sind die qualitativen Unterschiede. Vielen Deutschen ist das ein Dorn im Auge. Der Bund solle koordinierend eingreifen, um die Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse zu gewährleisten, am besten solle gleich ein bundesweites Zentralabitur eingeführt werden. Das Problem dabei ist nur: eine Angleichung führt in den meisten Fällen zu einer Nivellierung nach unten: auf längere Sicht würden nicht Nordrhein-Westfalen und Bremen die Bildungsstandards Bayerns und Sachsens übernehmen, sondern umgekehrt.
Das deutsche Grundgesetz fordert den Gesetzgeber auf, eine bundesweite „Gleichheit der Lebensbedingungen“ anzustreben. Im Grunde genommen ist dieses Ziel mit dem Geist des Föderalismus nicht zu vereinbaren. Fragte man einen Amerikaner, was er zu den enormen wirtschaftlichen und sozialen Unterschieden zwischen Massachusetts und Mississippi sage, erhielte man als Antwort höchstwahrscheinlich ein schulterzuckendes „so what?“ Niemand in den USA käme auf den Gedanken, einen Finanzausgleich zwischen den Gliedstaaten einzuführen, durch den die Erfolgreichen bestraft würden. Gerade die Unterschiede zwischen den Teilstaaten sind es, durch die sich eine föderale Republik auszeichnet. In Deutschland denkt man anders: regionale Unterschiede sollen so weit wie möglich eingeebnet werden. Den Bildungsföderalismus möchte man einschränken und Steuerhoheit für die Länder, die - sowohl in Amerika als auch in der Schweiz - das eigentliche Kernstück des Föderalismus darstellt, fordert nicht einmal die bayrische CSU. Am liebsten hätten die Deutschen einen Föderalismus ohne Föderalismus. Aber warum nur? Sieht man denn nicht, dass die hyperföderalistische Schweiz blüht, während das zentralistische Frankreich politisch, wirtschaftlich und kulturell stagniert? Die italienischen Kleinstaaten der Renaissance haben Michelangelo, Leonardo und Tizian hervorgebracht. Und was hat der vor 150 Jahren gegründete italienische Zentralstaat geschaffen? Das scheußliche Nationaldenkmal für Viktor Emanuel II., das von den Römern als „Schreibmaschine“ verspottet wird (http://bit.ly/fHvkQM).
Wenn also das nächste Mal die Forderung nach nur noch neun Bundesländern erhoben wird, sollte man zurückfragen: warum nicht 32 Bundesländer? Oder gleich 48? Und wenn gefragt wird, ob der Bund im Schulbereich nicht mehr Kompetenzen haben sollte, könnte man antworten: nein im Gegenteil, Berlin sollte Kompetenzen an die Länder abgeben, vor allem was die Steuerhoheit betrifft. Und den Länderfinanzausgleich sollte man abschaffen, um den Wettbewerb zwischen den Ländern zu fördern. Erst dann könnte sich Deutschland mit Fug und Recht als „Bundesrepublik“ bezeichnen.
Hansjörg Müller schreibt auch für „El Certamen“, eine kolumbianische Online-Zeitschrift (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/