Ulli Kulke / 14.01.2021 / 06:00 / Foto: Pixabay / 100 / Seite ausdrucken

150 Jahre deutscher Nationalstaat: Aleman in Deckung!

Stell dir vor, Deutschland, als Nationalstaat, begeht in diesem Jahr, 2021, den rundesten Geburtstag seit einem halben Jahrhundert – und keiner geht hin. Deutschland? Deutsche Nation? War da was? Alles abgeschafft, nie dagewesen?

Nein, im Deutschen Historischen Museum an Berlins Prachtboulevard Unter den Linden sieht man keinen Anlass, durch eine gesonderte Schau oder öffentliche Veranstaltungen den 150. Geburtstag des deutschen Nationalstaates zu begleiten, wie man auf Anfrage mitteilt. Auch keine kritische. Die Pressestelle verweist lediglich auf die Dauerausstellung („Einblick in 1500 Jahre Vergangenheit“, derzeit wegen Corona geschlossen), wo man „u.a. anhand von Gemälden, Grafiken, Karikaturen und Lithografien die Proklamation des Deutschen Kaiserreiches unter preußischer Führung 1871“ nachzeichne, samt ihrer Vorgeschichte. Nicht mal für eine der meist zwei parallelen Sonderausstellungen war dem Haus dieses bedeutende Datum bedeutsam genug. Die staatliche Gründung der deutschen Nation im Januar 1871 – an deren zentralem „Schau-Platz“ ist sie auch zum 150. Jahrestag ein Thema unter unzähligen anderen. Nichts Besonderes.

Und dabei ist das Museum in guter Gesellschaft. Ganz oben – und auch weiter unten.

Im Haus der Kulturbeauftragten der Bundesregierung, Monika Grütters, gibt man sich ähnlich zurückhaltend. Man habe vom 29. auf den 30. Oktober 2020 eine Online-Tagung der „AG Orte der Demokratiegeschichte“ zum Thema unterstützt, heißt es dort, außerdem fördere man eine Sonderausstellung in der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh in der Nähe von Hamburg. Das war es dann. Nichts, was auch der aufmerksame Zeitungsleser überregional irgendwie registriert hätte.

Im Haus der Geschichte in Bonn hat man auf den ersten Blick eine plausible Antwort: Man fühle sich zeitlich nicht zuständig, kümmere sich nur um die Zeitgeschichte, nach 1945. Mag sein. Dass dieser so wuchtige und wichtige Jahrestag allerdings auch tief und – wie all die Jahrzehnte seither uns zeigten – so diskursiv in das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland hineinragt und damit auch in den eigenen zeitgeschichtlichen  Auftrag – auf die Idee ist man im Bonner HDG nicht gekommen: Die Art und Weise, in der die Reichsgründung 1871 bei den bisherigen runden Geburtstagen nach 1945 begangen wurde, die großen Reden dabei, die Debatten und Auseinandersetzungen, die darum geführt wurden, sie sagt schließlich einiges über das Selbstverständnis der Deutschen als Deutsche in ihrer Bundesrepublik, in der Zeitgeschichte der Nation aus.

Das Eisen, mit dem Bismarck die Nation zusammenschmiedete, ist uns heute zu heiß

Der Essay, den der Vorstand jenes kleinen, aber feinen Bismarck-Museums, Ulrich Lappenküper, über diesen Umgang mit dieser Geschichte, über die Erinnerungskultur auch Bundesdeutschlands, verfasst hat („Vom Umgang mit der Reichsgründung in der deutschen Geschichte nach 1871“), er zeigt auf beeindruckende Weise den Stoff auf, mit dem die Kulturverantwortlichen des Landes das Jubiläumsjahr mit den ganz großen Debatten hätten füllen können. Wer weiß schon heute noch, dass Konrad Adenauer von der Nation nichts hatte wissen wollen und lieber Europa aufs Gleis gesetzt hat. Und wer würde ahnen, dass dagegen Willy Brandt, der Gott der Nachkriegs-Sozialdemokratie, den emanzipativen Charakter der Reichsgründung 1871 sehr wohl erkannte. Ausgerechnet zum 100. Jahrestag von Bismarcks Sozialistengesetzen betonte er, wie Lappenküper zitiert: „Der von Bismarck bestimmte Zeitabschnitt vermittle ‚nicht nur Niederdrückendes‘, sondern auch ‚Inspirierendes‘, denn der Freiheitsfaden in der deutschen Geschichte – er konnte immer wieder aufgegriffen werden‘.“ Ja, die Reichsgründung war eine spannende Angelegenheit, und die spätere Rezeption durch die Historiker und Politiker nicht minder. Doch alles nichts für uns in diesen bewegten Zeiten? Lappenküpers glänzender Essay gehört zum Online-Auftritt jener aus dem Hause Grütters geförderten Fachtagung, leider weit unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle. 

Es ist wohl so: „Mögen hätt' ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“ Das geflügelte Wort von Karl Valentin dürfte in etwa die Hintergründe der Enthaltsamkeit im Jahr 2021 umreißen. Das Eisen, mit dem Bismarck die Nation zusammenschmiedete, ist im Jahr 150 danach so heiß geworden, dass es kein Verantwortlicher, kein Offizieller anfassen mag. Viel zu stark scheint offenbar die Angst, bei dem quasi als Geist über allem schwebenden, ganz großen Nationalverdacht, dass nämlich 1871 unweigerlich zu 1933 geführt habe, auf dem falschen Fuß erwischt zu werden. Die Angst, der Fragestellung nicht gewachsen zu sein. Womöglich auch aus den Bedenken heraus, dass in einer aufkommenden Diskussion das rechtskonservative Spektrum mitdiskutieren könnte. Bewahre! Da beschweigen wir es lieber, halten den Fall flach, unsichtbar unter der Grasnarbe.

Kinder – wegschauen!

Bei Kulturverantwortlichen für die Hauptstadt sieht es nicht anders aus. Parallel zur Gründung des Nationalstaates wurde schließlich Berlin erstmals zur deutschen Hauptstadt erkoren. Und jetzt, im Januar, steht auch dieser 150. Jahrestag ins Haus. Hallo, ist da jemand? Das Datum war – natürlich abgesehen von den Zerstörungen im Krieg sowie beim Bau und Fall der Mauer – die mit Abstand wirkmächtigste, einschneidendste Zäsur in der Geschichte der Stadt, in wirtschaftlicher, politischer, kultureller, gesellschaftlicher, infrastruktureller Hinsicht – rundum. Doch im offiziellen Berlin, Rotrotgrün, geht man mit der Hauptstadtwerdung im Kaiserreich um, als gehe es nicht um einen großen Geburtstag. Sondern, ganz offenbar, um einen großen Sündenfall, damals. Da sollen 1871 ja auch Leute mit Pickelhauben am Straßenrand gestanden und stolz dreingeschaut haben – Schauder. Schwamm drüber, nicht dran denken. Kinder – wegschauen!

Im Berliner Stadtmuseum, der lokalhistorischen Nummer eins mit einem halben Dutzend Standorten, darunter das traditionsreiche Märkische Museum, kam von der Pressestelle die Nachricht: „Vielen Dank für Ihre Anfrage. Soweit ich weiß, ist bisher nichts zu diesem Thema geplant. Wir werden es aber sicher auf unseren redaktionellen Kanälen (Webseite/Social Media) aufgreifen.“ Bei der Landesregierung duckt man sich gleich ganz und gar weg. Anfrage beim Kultursenat am Montag gestellt, am vergangenen Freitag auf telefonische Nachfrage dann die Antwort: Man habe das an die Senatspressestelle beim Regierenden Bürgermeister weitergegeben. Seither: allseitige Sendepause, trotz nochmaligen Nachhakens.

Man hätte auf Senatsseite vielleicht darauf verweisen können, dass schließlich im vergangenen Jahr erst das 100-jährige Bestehen von „Groß-Berlin“ gefeiert worden sei, weil 1920 die Hauptstadt durch Eingemeindungen auf die dreizehnfache Fläche angewachsen und durch Verdoppelung seiner Einwohnerzahl hinter London und New York die drittgrößte Stadt der Welt geworden war. Konnte man aber nicht, weil auch dieses Jubiläumsjahr ohne nennenswerte Events über die Bühne ging. Obwohl man immerhin davon ausgehen darf, dass es ohne diese Erweiterung 1920 nach dem Krieg überhaupt kein West-Berlin inmitten der DDR gegeben hätte. „Groß-Berlin“, so darf man auch hier vermuten, liegt phonetisch viel zu nahe an „Groß-Deutschland“, als dass man das einfach so feiern dürfte. Und außerdem hatte der Magistrat ja damals, 1920, auch kein klimaneutrales Stadtentwicklungs- und Umweltkonzept. Blieb also nur die Nichtbeachtung.

Falls für die 150er-Jahrestage nichts geplant sei, so hatte ich alle Institutionen bei meiner Anfrage gebeten, „wäre ich für eine kurze Auskunft dankbar, warum nicht“, bzw. wie aus der betreffenden Sicht „das Datum im Jahr 1871 zu bewerten ist“. Auf diese Frage kam schon gar keine Antwort. Nur das Deutsche Historische Museum verwies nach vier Tagen darauf, man möge sich in der Dauerausstellung ein eigenes Urteil bilden. Das Land, die Stadt, ist nicht vorbereitet auf so eine Frage. Und man ist offenbar entschlossen, hierzu aus aktuellem Anlass auf keinen Fall einen Diskurs auf den Weg zu bringen.

Thema für den Geschichtsunterricht? Wieso?

Um das ganze abzurunden, will ich jetzt doch auch noch aus dem Privaten plaudern. Ein Lehrerehepaar – beide Geschichtslehrer – bekundete kürzlich beim Plaudern auf entsprechende Anfrage unisono: Der runde Jahrestag sei absolut „kein Thema“ für ihren Unterricht. Ein Deutsches Reich habe es schließlich „auch vorher gegeben.“ Gemeint war das mittelalterliche, das seit der Neuzeit in Agonie verfallen war, in dem trotz seiner Habsburger Kaiser jeder Kleinstaat, jede Grafschaft und schon gar jedes Königreich seiner eigenen Wege ging, in dem man eher Kriege gegeneinander führte als auf den Kaiser hörte. Ein Staatswesen, die meiste Zeit ohne Staat, das man nun mit der Gründung des geschlossenen Nationalstaats auf eine Stufe stellte (in dem wir – wenn auch nicht in derselben Verfassung – immerhin heute noch leben). Den Kritiker des Zeitgeistes beschleicht da ein ganz anderes Gefühl: Natürlich sind die beiden alten Reiche nicht miteinander zu vergleichen, das ist allen klar. Doch wenn das Kaiserreich 1871 ungleich geschlossener, florierender, ja auch mächtiger und stolzer daherkam als das lange Jahrhunderte untote „Heilige Römische Reich deutscher Nation“, dann ist das eben erst recht Anlass, über den runden Geburtstag hinwegzugehen. Ein Bekenntnis zum Stolz wäre schließlich das Allerletzte. 

Die USA haben ihren 150. im Jahr 1926 wie auch ihren 200. Geburtstag 1976 jeweils das ganze Jahr hindurch gefeiert, für den 250. in sechs Jahren werden im Netz schon heute jede Menge Accessoires angeboten. Die Franzosen, voller Stolz, egal ob Gaullisten oder Sozialisten das Land regierten oder heute Macron, bemalen zu jedem auch noch so unrunden Nationalfeiertag den Himmel über Paris tricolor, haben frei, stoßen an und sind fröhlich. Auch unter einem Präsidenten in Gelbweste wäre es wohl nicht anders. Und dies, obwohl zwischen dem Sturm auf die Bastille und heute jede Menge Republiken und gleich zwei Kaiserreiche standen. Und obwohl sich schon Wochen nach jenem Sturm Monsieur Guillotin an die Rationalisierung des Massentötens machte, in Vorbereitung auf das, was dann bald tatsächlich einsetzte. Auch dass die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Unabhängigkeit von Großbritannien in eine Ära eines jahrhundertelangen, unschuldigen Friedens und der Freundschaft mit den zuvor dort lebenden indigenen Völkern gemündet wäre, will wohl niemand behaupten. Nationale Geburtstage mit mehr als Schönheitsfehlern, von denen man freilich jeweils zum Anlass hin wenig vernimmt.

Beim 3. Oktober muss man nicht so viel nachdenken

Natürlich, wir haben gerade den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung gefeiert und werden das auch weiter tun. Unser neuer Nationalfeiertag sozusagen. Er ist vergleichsweise einfach zu handeln, Gut und Böse sind einigermaßen sauber getrennt, das offizielle Deutschland muss unter sich nicht über die Schuld an der Teilung und deren unmittelbare Folgen streiten. Höchstens darüber, ob das Glas der Einheit heute halb voll oder halb leer ist. Und die einschlägigen Kandidaten zwischen SED und Stasi, inwieweit sie mitgemacht oder eher doch gar nichts gewusst haben.

So wie es auch, was Berlin als Hauptstadt angeht, im Jahr 1987 ohne irgendwelche konfliktbeladenen Debatten ablaufen durfte, als ganz Berlin seinen 750. Geburtstag feierte. Man gedachte der schriftlichen Erwähnung eines größeren Dorfes im tiefsten Mittelalter, so weit weg, dass man sich an einstige etwaige Konflikte zwischen Herrschern und Volk oder zwischen dem Ort und seinen äußeren Feinden ohne besondere Emotionen erinnern durfte. Alles weit weg. Womöglich deshalb war man dann das ganze Jahr gut gelaunt, gab Großveranstaltungen, Partys, Konzerte, bei denen sich die Bürgermeister Ost und West trafen, Sonderbriefmarken, Sondermünzen, öffentliche Diskussionsrunden. Sogar der US-Präsident kam, brachte mit zwei in die Weltgeschichte geworfenen Sätzen die Idee auf, die Mauer einzureißen, was zwei Jahre später auch geschah.

Mehr ging nicht beim Andenken an einen kleinen Ort vor 750 Jahren, weit hinter den märkischen Wäldern und Heiden. Heute dagegen: Weniger geht nicht angesichts des 150. Jahrestages eines Datums, das europäische Geschichte im Herzen des Kontinents geschrieben hat: nämlich gar nichts. Man will nichts zu tun haben mit „unserem Kaiser Wilhelm, mit dem Bart“, nicht mit Bismarck, nicht mit dem Kaiserreich, will es abschütteln, kann es aber nicht.

Das Deutsche Reich – nur noch Schatten

Historiker wie Eckart Conze, der in seinem jüngsten Buch über die Reichsgründung vor allem „Schatten“ sieht, in ihrer Folge lediglich Kriege und Auschwitz, dominieren die spärliche Debatte dieser Tage. Es ist gut, dass sie da sind. Auch sie hätten in die Diskussion, die dem Land in diesem Jahr gut zu Gesicht gestanden wäre, gehört, an zentraler Stelle. Schon allein, weil sie den Zeitgeist spiegeln, der freilich auch ohne sie vorherrscht, von der offiziellen Politik, den Reden des Bundespräsidenten, der es ähnlich wie Conze sieht, über die Feuilletonisten großer Blätter bis zu den Geschichtslehrern an Gymnasien. Aber es hätte spannende Diskussionen geben können, inwieweit der Einigungsprozess – auch meinetwegen im Sinne der marxistischen Dialektik – eben auch vom gesellschaftlichen Fortschritt getrieben wurde und ihn wiederum beflügelt hat. Auch dafür hätte es schließlich Protagonisten mit guten Argumenten gegeben.

„Revolution von oben“ ist das Stichwort, nein, das Schimpfwort, auch von Conze, mit dem man die Erinnerung an das Datum am liebsten für den großen öffentlichen Diskurs unter dem Deckel halten würde (nebenbei: als strotze die Weltgeschichte nur so von Beispielen, in denen sogenannte Revolutionen von unten dauerhaft segensbringend waren). Als hätten Bismarck und der Kaiser gemeinsam dem Volk die Einheit aufgezwungen. Schwarzrotgoldene Fahnen haben auch die Bürgerlichen, haben auch Proletarier geschwungen. Und der Kaiser? Er war einfach da, genauso wie der verbreitete Patriotismus. Und: Deutscher Bund hin oder her – auch auf seiner Bühne dachte man nicht an die Abschaffung der Monarchie.

Es wäre geradezu geschichtsvergessen, im bisweilen ja beliebten kontrafaktischen Geschichtsdenken sich ein Ausbleiben der Reichsgründung auszumalen und anzunehmen, dass die Fortsetzung der exzessiven Kleinstaaterei den breiten Massen damals auf die Dauer ein angenehmeres Leben beschert hätte. Die Reichsgründung hatte zur Folge, dass sich das „neue“ Deutschland binnen weniger Jahre in wirtschaftlicher wie wissenschaftlicher Hinsicht an die Spitze Europas setzte. Natürlich mit den Folgen von Proletarisierung und auch Verelendung. Aber wenn der Diskurs im heutigen Wissen um diese Zustände Kaiser und Reich ablehnt, so klingt dies bisweilen, als wollten jene Historiker und Feuilletonisten über die große Zeitdistanz hinweg die Menschen von damals überzeugen, sie sollten sich doch bitteschön lautstärker gegen die Reichsgründung aussprechen, sie hätten davon nur Nachteile und es werde bestimmt böse enden.

Die Reichsgründung bot durchaus emanzipative Ansätze

Dabei bot die Reichsgründung – vor allem aus damaliger Sicht, aber eben nicht nur – durchaus emanzipative Ansätze. Der zügige Aufstieg der Sozialdemokratie, mit dem nationalen Parlament, dem Reichstag, als Katalysator, wäre ohne sie gar nicht denkbar gewesen. Natürlich auch ihre Unterdrückung durch Bismarcks Sozialistengesetze nicht. Die allerdings erst die Reaktion auf ihren Aufstieg war, der wiederum durch diese vorübergehende Repression nicht gestoppt wurde. Gewiss, all dies war Folge der Proletarisierung, aber die Historiker wären reine Nostalgiker, wollten sie den Menschen etwa aus Warte des 21. Jahrhunderts sagen, in Fürstentümern wie Reuß-Gera jüngere Linie oder Schwarzburg-Sondershausen läge die Zukunft Deutschlands. Ich habe deshalb übrigens auch die Pressestelle der SPD gefragt, ob die Partei etwas plant im Jubiläumsjahr. Mal sehen, nach vier Tagen habe ich keine Antwort. Ob im Willy-Brandt-Haus jemand in jenem Essay Lappenküpers gelesen hat, dass der Namensgeber der Parteizentrale, wie bereits erwähnt, ausgerechnet zum Jahrestag der Sozialistengesetze die emanzipativen Momente des Kaiserreichs herausgestellt hat? Womöglich war Brandt dabei ja auch sein eigener Radikalenerlass in den Sinn gekommen – ein gemeiner Bezug, zugegeben, der aber zeigt, wie nah doch Bismarck und der SPD-Kanzler waren, irgendwie jedenfalls.

Und nicht nur die Sozialdemokratie, die Arbeiterbewegung wuchs stark an. Der Kampf um die Frauenrechte, um gesellschaftliche Modernisierung, erhielt nach 1871 einen ungeheuren Schub, allein schon durch die weit umfangreichere Vernetzung, die Infrastruktur, die Bahn, das Postwesen, ab den 1880er Jahren auch das Telefon. Auch brachte die schlagartige Industrialisierung nicht nur die Proletarisierung mit sich. Im Kaiserreich erst machte der Mittelstand mit seinen Beamten und Angestellten überhaupt von sich reden. Und der Name Bismarck steht übrigens auch für den Kulturkampf, der die Macht der Kirche einschränkte, und für eine Außenpolitik, die nach der Reichsgründung eher von filigranem Geschick zur Friedenssicherung als durch Aggressionsgelüste gekennzeichnet war. Der Reichskanzler war alles andere als der Motor für die damals aufkommende Kolonialbewegung.

Selbst die Süddeutsche Zeitung (Kurt Kister), frei von jedem Verdacht, ihm huldigen zu wollen, bescheinigte Bismarck erst kürzlich, die Emser Depesche „nicht falsch und eigentlich auch nicht sehr provozierend“ redigiert zu haben. Wer ihm und Preußen die Alleinschuld für den letzten der drei Einigungskriege zuschanzt und die so kriegswillige französische Führung davon freispricht, verdreht die Geschichte – so wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dem bei seiner Rede vom letzten 3. Oktober, 2020, als er auf den bevorstehenden Jahrestag der „erzwungenen“ Reichsgründung zu sprechen kam, außer dem preußischen Nationalismus und Militarismus und dem angeblich geraden, dem unausweichlich vorgegebenen Weg in den Ersten Weltkrieg nichts einfiel. Gar nichts.

Der Präsident fühlte sich dabei, wie er anmerkte, durch die Ausstellung „Krieg Macht Nation“ im Militärhistorischen Museum bestätigt. Wohlgemerkt, als Einrichtung der Bundeswehr hatte das Dresdner Haus in seiner Sonderausstellung zur Reichsgründung – die bundesweit einzige bisher – den Blick allein auf die drei Einigungskriege 1864–1871 gelegt. Dies allerdings beileibe nicht in der beengten Interpretation Steinmeiers.

Mutlosigkeit gegenüber der Geschichte

Der Reichstag nach 1871 ist in seiner Kompetenz und Macht nicht zu vergleichen mit dem Bundestag von heute. Ein unsinniger, ahistorischer Vergleich. Sinnvoll dagegen wäre ein Vergleich mit den Mitspracherechten der Bevölkerung oder deren Vertretern (falls es so etwas überhaupt gab) vorher, in den Einzelstaaten. In Preußen galt das Dreiklassenwahlrecht, bei den Wahlen zum Reichstag ab 1871 hatte jede Stimme gleiches Gewicht (wenn auch Frauen noch nicht wählen durften). Die Abgeordneten hatten das Recht, Gesetze zu erlassen, und sie verabschiedeten den Haushalt – auch den fürs Militär, wobei dieser nur alle fünf Jahre neu bestimmt wurde. Zwar hatten Bismarck und seine Regierung das Recht, den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, doch angesichts etwa einer wachsenden Sozialdemokratie war dies ein wenigstens zweischneidiges Schwert der Mächtigen.   

Dass vor und nach 1871 viele Menschen nicht zufrieden waren mit ihrer Lebenssituation, ist eine Binse, die allerdings nur sehr bedingt mit der Krönung Kaiser Wilhelms zu tun hat (der sie selbst in Wahrheit auch gar nicht so toll fand). Daraus abzuleiten, dass die Menschen damals durchweg gegen die – angeblich „erzwungene“ – Einigung hin zum Kaiserreich waren, wie es Steinmeier tut, ist die selbstgewisse Sichtweise eines Sozialdemokraten aus dem Abstand von 150 Jahren, aus einer saturierten linksdominierten Republik. Sie verkennt Leidenschaften von damals im Zeitalter der Nationalstaaten und die Hoffnungen der Deutschen, für deren Verwirklichung viele kämpften, im schwarzrotgoldenen Nachgang der 48er-Erhebungen. Und für die sie auch einen Protagonisten hatten: Kaiser Wilhelms Sohn, Friedrich III., aus eher liberalem Holz geschnitzt, der 1888 leider nur 99 Tage bis zu seinem Tod auf dem Thron saß und seinem Sohn Platz machte, der dann alles andere als eine glückliche und kluge Hand hatte.

Nun gut, diese Aufzählung mag dem einen oder anderen einseitig erscheinen. Insoweit allerdings wäre sie lediglich die andere Seite der offiziellen, weit einseitigeren Sichtweise, der fast selbstverleugnenden Interpretation der deutschen Geschichte und der Begründung ihres Nationalstaates unter anderem durch den Bundespräsidenten. Natürlich zählt zu den Minuspunkten der damaligen Einheit der Umgang mit Frankreich, die sicher unnötig provozierende Kaiserkrönung in Versailles und das vielleicht unnötige Heim-ins-Reich-Holen von Elsass-Lothringen, dessen Einwohner darüber mehrheitlich nicht begeistert waren. Doch genau diese Spannweite wäre ein trefflicher Ansatzpunkt, über die Frage der deutschen Nation zu debattieren, in einem klug und öffentlichkeitswirksam inszenierten, von Prominenz aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft besetzten Diskurs. Dies gerade in Zeiten der unsäglichen Reichsbürger, gerade in Zeiten der AfD. Doch wie es aussieht, hat sich das offizielle Deutschland leider dafür entschieden, bei dieser Thematik wegzutauchen.

Konservative Repräsentationslücke auch auf intellektueller Ebene

Was waren das für Zeiten, als 1971, zum 100-jährigen Jahrestag. noch in der Ruine des Reichstags, dem denkbar geeigneten Ort, eigens eine erkleckliche Anzahl von Räumlichkeiten im Erdgeschoss hergerichtet wurden, um die große Jubiläumsschau zu inszenieren, die jahrelang lief: „Fragen an die Deutsche Geschichte“ – ein durchaus passendes Motto. Natürlich hätte man auch heute zunächst Fragen stellen können. Oder, zehn Jahre später, im Gropius-Bau, die noch viel imposantere Ausstellung: „Preußen – Versuch einer Bilanz“. Auch dies ein vorsichtiger Name für die Schau. Doch selbst für so etwas fehlt, wie es aussieht, bei den Verantwortlichen der Mut.

Ein großes Problem, nicht nur in Deutschland, hier aber besonders, bildet für das konservative Spektrum der Gesellschaft die Repräsentationslücke auf Ebene der Parteien: eine Ursache dafür, dass die AfD trotz ihrer rechtsradikalen Ausfransungen nach wie vor präsent ist und bleiben wird. Wie es aussieht, setzt die offizielle Politik und die offiziöse Kulturverwaltung des Landes alles daran, diese Lücke auch auf intellektueller Ebene aufrechtzuerhalten und zu stärken. Ja, aus Feigheit. Es ist nicht schwer, sich auszumalen, welche Entwicklungen dadurch gefördert werden.

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Karl Eduard / 14.01.2021

Und? Ist das ein Wunder? Seit wann genau wurde den Deutschen die Geschichte ausgeprügelt und auf die Zeit von 33 - 45 reduziert? Und wer hat das veranlasst? Wer bekommt denn Schreikrämpfe, wenn Höcke von einem Mahnmal der (deutschen) Schande spricht und Gauland von einem Vogelschiss (im Zeitraum der gesamten Deutschen Geschichte)? Das hängt doch Alles zusammen. Die Franzosen haben kein Problem damit, ein Ereignis zu feiern, währenddessen die Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Kaste geradewegs unters Fallbeil führte. “Du bist adelig, eine Nonne, ein Priester? Kopf ab! Königstreu? Kopf ab!” Die Greuel in der Vendee waren furchtbar.  Die feiern den Terror und verdrängen, daß sich im Rausch der Siege ein Korse zum Kaiser über Frankreich krönte. Den verehren sie übrigens auch. Ein Eroberer, der die besetzten Staaten zwang Truppen zu stellen. Die Engländer sind immer noch stolz darauf, daß Britannia die Meere beherrschte, davon, daß zwei ganze Kontinente unterworfen wurden, Indien und Australien, macht keinem ein schlechtes Gewissen. Und muß es auch nicht. Aber weil die Leute nur noch die Zeit von 33 - 45 um die Ohren gehauen bekommen, wissen sie nichts darüber wie ihre Vorfahren litten und kämpften. Sie wissen nicht, daß Frankreich regelmäßig in die deutschen Fürstentümer einfiel und dort mordete und plünderte und daß die Gründung des Kaiserreiches ein Akt der Selbstverteidigung war. Ab da war man stark genug, jeden kriegerischen Einfall abzuwehren. Die Leute waren ja nicht blöde. Die konnten sich erinnern, was passiert, wenn die Fürstentümer und Königreiche gespalten sind und jede Großmacht machen kann was es will. Und Bayern? Bayern war immer nur Spielball. Erst von Österreich-Ungarn, dann von Frankreich. Souverän war es nur so lange, wie man es gelassen hat.

Ferdinand Baptist Braunmüller / 14.01.2021

Aus bayrisch-süddeutscher Perspektive sehe ich überhaupt keinen Grund, die Ausrufung des preußisch-dominierten “ersten deutschen Nationalstaates” zu feiern, für den sich Ludwig II. hat kaufen lassen. Aber dafür haben wir jetzt ja Neuschwanstein. Übrigens halte ich die These, dass das zweite deutsche Reich in die Katastrophen des 20. Jhs. geführt hat, auch aus konservativer Perspektive für richtig.

K.Sauer / 14.01.2021

Bei einem Gespräch mit einem promovierten Theologen ( Jahrgang 1942 ) beklagte ich das mangelnde Geschichtswissen der heutigen Jugend, es beschränke sich im wesentlichen darauf das Deutschland zwei Kriege vom Zaun gebrochen habe. Er meinte darauf: „Mehr bräuchten sie auch nicht zu wissen“.

Wolfgang Nirada / 14.01.2021

Bei aller Liebe… Aber wenn ich mir dieses “beste Deutschland das wir je hatten” so ansehe, seine hirntoten Duckmäuser die sich selbst mutterseelenallein im Auto oder unter Gottes (unserem - den ohne Mörder und Terroristen) freiem Himmel mit einen versifften Stofflappen ihre Atemwege verstopfen und die politische Versagertruppe und Horrorclowns die diese (vermutlich identischen) Dumpfbacken sich (und verflucht nochmal auch mir!!!) an den Hals gewählt haben dann gibt es wahrlich ausser dem Datum absolut keinen Grund zum Feiern!!!

Helmut Bachmann / 14.01.2021

Komisch. Dieser „erste deutsche Nationalstaat“ war schon das zweite deutsche Reich. Aber egal, feiern kann man ja trotzdem. Eben eher im kleinen Rahmen. Mit einem Besucher ;)

Klaus Jürgen Dr. Bremm / 14.01.2021

Sie schreiben zwei Wochen zu spät. Das Deutsche Reich trat gemäß den Verträgen schon am 1. Januar 1871 in Kraft. Am 18. Januar erfolgte lediglich noch die Kaiserproklamation (nicht Krönung!) Literatur zu der Thematik 1870/71 hat es genug gegeben. Die Reichsgründung und der vorausgehende Krieg gegen Frankreich wurden in der Presse hierzulande auch ausreichend gewürdigt. Es gab viele Besprechungen der erschienenen Titel, auch etliche Interviews und eigene Artikel etwa anlässlich der 150 Jahre zurückliegenden Kriegserklärung. Mindestens Arte und DLF griffen das Thema auf und vom ZDF weiß ich, dass eine Spieldoku produziert wurde ( mit Iris Berben als Kaiserin Eugénie und Thomas Thieme als Bismarck). Seien wir im Übrigen froh, dass die aktuelle Riege der Politikdarsteller im Bundestag die Finger von der Thematik gelassen hat. Etwas Sachgemäßes wäre da nicht zu erwarten gewesen. Schließlich haben wir ja einen FWSteinmeier, der den Mullahs in Teheran lieber zu 40 Jahren Mord und Totschlag gratuliert. Da können wir ihm doch nicht mit der Reichsgründung kommen.

D.Kempke / 14.01.2021

Bzgl. des “Heim-Holens” von Elsaß-Lothringen kann man sicher sein, dass auch die Einwohner des Elsaß und besonders von Straßburg als freie Reichsstadt alles Andere als glücklich waren als sie Ende des 17.Jh. nach Frankreich “geholt” wurden. Doch 200 Jahre in Frankreich haben bei entsprechender Indoktrination, besonders nach 1789 als eine massive Assimilationspolitik nationaler Minderheiten einsetzte, eben das ihrige bewirkt. Wie übrigens auch die 50 Jahre im Kaiserreich. Auch 1919 waren die Elsässer alles Andere als begeistert, wieder nach Frankreich zu müssen. Und wo man es war, änderte sich das sehr schnell, angesichts der brutalen Unterdrückung alles Deutschen (auch der jahrhundertealten regionalen Dialekte) ab 1920. Wäre das Elsaß noch 50 weitere Jahre bei Deutschöland geblieben, wäre zumindest dort (weniger im franzöischsprachigen Teil Lothringens) wohl von einigen üblichen grenznahen Affinitäten abgesehen kaum noch etwas genuin französisches übrig geblieben.

Joerg Haerter / 14.01.2021

Es gibt wohl keine Nation auf der Erde, die sich auf diese Art und Weise selbst verleugnet, wie die deutsche. Dann hat sie es auch nicht besser verdient. Alles andere war einmal, Nation, Nobelpreise, Fortschritt. Wir sind abgehängt und verschwinden langsam in der Bedeutungslosigkeit, selbstverschuldet.

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