Solschenizyn beschreibt, wie die Insassen im GULAG selbst zur Aufrechterhaltung des GULAG-Betriebs beitrugen. Dies ist eine perfekte Metapher für den totalitären Staat. Oft wird das anders gesehen, nämlich so, dass der totalitäre Staat aus lauter schuldlosen unterdrückten Opfern besteht, die unter dem Joch eines teuflischen Tyrannen leben und alles Üble ausschließlich von oben kommt.
Ich glaube nicht, dass das stimmt. Der totalitäre Staat hat eine holografie-ähnliche Struktur, in der die Tyrannei in jeder einzelnen Schicht präsent ist. Sie ist psychologisch verankert und existiert innerhalb von Familien genauso wie in Organisationen auf mittlerer Ebene.
Die Tyrannei ist etwas, was gleichzeitig überall da ist und alles durchdringt, wenn sie einmal Fuß gefasst hat. Viele Menschen behaupteten nachträglich, dass sie lediglich Befehlsempfänger waren. Ich will damit keineswegs behaupten, dass ich mich in einer vergleichbaren Lage der Befehlsausführung verweigern würde. Dennoch steht für mich die Notwendigkeit einer individuellen Verantwortung im Mittelpunkt.
Wenn wir die größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts begreifen wollen, sollten wir davon ausgehen, dass Individuen die Verantwortung für sie tragen. Es könnten nämlich auch Individuen sein, die Verantwortung für das Gute im Menschen übernehmen, um das Böse zu verhindern. Dies ist eine Alternative zum nihilistischen Leugnen und auch zur Ideologie-Besessenheit. Wenn die Gruppenidentität zu eng geknüpft ist, agiert man leicht wie ein Zahnrad inmitten aller anderen Zahnräder in der Maschinerie. Ist aber gar keine Gruppenidentität vorhanden, so steht man alleine und verlassen da.
Wo ist der dritte Weg?
Ob also mitten drin oder außen vor – beides sind schlechte Alternativen. Es war nicht einfach, zu erkennen, dass es einen dritten Weg zwischen jenen beiden geben könnte. Menschen brauchen Glaubenssysteme für ihre Existenz, ihre seelische Stabilität und ihre Stabilität in der Gesellschaft. Aber wenn die Glaubenssätze bedingungslos und unflexibel sind, kann das die Menschen in einen wütenden Mob verwandeln. Will man das Spiel nicht mitspielen, verliert man außerhalb der Masse leicht seine Identität, was auch nicht akzeptabel ist. Als ich mir das auf diese Weise zurechtlegte, hatte ich ein großes Problem, weil ich keinen dritten Weg sah.
Erst als ich die zugrundeliegende Struktur der Mythologie verstand, erkannte ich die Bedeutung der Heldenreise als Option: Man bekennt sich als Individuum zur höchsten moralischen Verantwortung.
Im Neuen Testament taucht die Vorstellung auf, dass Christus die Sünden der Menschheit auf sich nimmt. Damit verbunden ist das Konzept der Erlösung. Das ist eine bedrohlich dunkle Ideenwelt. Die Implikation ist, zumindest auf der psychologischen Ebene, dass dem Leser dieser schrecklichen Geschichten bewusst sein muss: Er liest über sich selbst. Wer das nicht versteht, versteht diese Geschichten nicht. Er positioniert sich dann als ein guter Mensch, der niemals solche schlimmen Sachen tun würde, im Gegensatz zu den anderen teuflischen Wesen, über die er liest. Umso schrecklicher die Erkenntnis, dass der Teufel, den man da draußen wähnt, auch in einem selbst wohnt. Wozu man selbst fähig ist, weiß man erst, wenn man sich in einer entsprechenden Situation befindet.
Mit Durchschnittsmenschen in die Katastrophe
Es waren gewöhnliche Durchschnittsmenschen, die die Katastrophen in Nazi-Deutschland, in der Sowjetunion und in Maos China erzeugten. Sie waren zwar nicht die ursprünglichen Verursacher, aber sie hatten die Möglichkeit, in bestimmten Situationen „Nein“ zu sagen, was sie aber nicht taten. Es passiert ja nicht alles auf einmal, die Katastrophen gliedern sich in einzelne Situationen. Das sieht man deutlich im großartigen Buch „Ganz normale Männer“ von Browning*. Darin wird beschrieben, wie ein deutsches Polizeibataillon nach Polen geschickt wird. Es besteht aus lauter alltäglichen Männern mit bürgerlichem Hintergrund, die noch vor der Ära der Hitlerjugend aufgewachsen waren – sie wurden also keineswegs bereits in jungen Jahren indoktriniert. In Polen verwandeln sie sich in Menschen, die schwangere Frauen nackt aufs Feld jagen und sie dort per Kopfschuss von hinten töten.
Der Autor beschreibt die einzelnen Etappen, die zum Verbrechen führen. Den Männern wird gesagt, was ihre Aufgabe ist, aber auch, dass sie nach Hause gehen könnten, wenn sie es wollten. Es gab also einen Ausweg. Aber insbesondere in einer militärisch orientierten Organisation ist Kameradschaft ein starkes ethisches Erfordernis: Es gilt als feige, die ganze Drecksarbeit seinen Kameraden zu überlassen. Einmal in diese Falle hineingeraten, wuchsen die Verstrickungen, die sie in Richtung ihrer Taten trieben. Jedesmal, wenn sie zu einer Grausamkeit Ja sagten, wurde die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie für die nächste auch bereit sein würden. All dies ließ die Männer keineswegs kalt, sie haben gelitten. Sie waren krank, übergaben sich, zerfleischten sich ... aber sie hörten nicht auf.
Es ist ein großartiges Buch* für alle, die wissen möchten, wie Menschen dazu verführt werden können, einen solchen abscheulichen Weg Stück für Stück bis zum Ende zu gehen. Was am meisten erschüttert, ist die Tatsache, dass die Täter lauter unauffällige, alltägliche Durchschnittsmenschen waren.
* Christopher R. Browning: Ganz normale Männer
Dieser Beitrag erschien unter dem Titel How a Totalitarian State is Actually Formed auf dem YouTube-Kanal Jordan B Peterson Clips von Jordan B. Peterson.