112-Peterson: Wenn Papa nicht mehr Gott ist

Carl Jung sprach von einem Phänomen, das er als „regressive Wiederherstellung der Persona” bezeichnete. Es ist ein kompliziertes Konzept, aber im Grunde bedeutet es, dass man manchmal einen Sprung nach vorne macht und neue Erfahrungen sammelt, man aber dadurch noch keine neue Identität erwerben kann. Daher versucht man zurückzugehen und sich in seiner alten Identität zu verstecken. Das funktioniert aber nicht, weil sich die Dinge geändert haben und man etwas Neues gelernt hat, und man nicht mehr der ist, der man einmal war.

Es ist fast so, als ob man mit Gewalt ein Stück seiner selbst abtrennen müsste, um wieder die Person zu werden, die man einmal war. Das Kinderbuch „Pinocchio“ liefert ein gutes Beispiel für diese tyrannische Situation. Pinocchio macht einen Abstieg ins Chaos durch, aber er versucht dennoch, nach Hause zurückzukehren. Er versucht, zu dem zurückzukehren, was er einmal war. Aber das geht nicht mehr. Sein Vater ist nicht mehr da, und als er nach Hause geht, merkt er, dass es kein Zuhause mehr gibt.

So etwas kann passieren, und es ist meist ein Schock für denjenigen, der das durchmacht. Eines der Dinge, die ich an Peter-Pan-Typen bemerkt habe – ich spreche hier hauptsächlich von Männern, weil ich es öfter bei Männern beobachtet habe – ist, dass sie oft unter der Fuchtel ihres Vaters bleiben. Man fragt sich: Warum macht jemand so etwas? Denn es bedeutet, sich dem tyrannischen Urteil des Vaters zu unterwerfen. Diese Männer müssen sich ständig fragen, was ihr Vater über sie denkt, und ob er einverstanden ist mit dem, was sie tun. Das muss unangenehm sein.

Manchmal schlage ich meinen Patienten und anderen Bekannten eine komische Übung, ein kleines Gedankenexperiment, vor: Sie haben Eltern, und natürlich haben Ihre Eltern Freunde im selben Alter, und einige dieser Freunde kennen Sie nicht besonders gut. Und dann frage ich: Kümmert es Sie mehr, was Ihre Eltern denken, oder was diese Bekannten Ihrer Eltern denken? Die Antwort darauf lautet fast immer: „Natürlich kümmert mich mehr, was meine Eltern denken.“

Auch die Natur und Kultur sind wie Eltern

Die Frage, die sich daraus ergibt, ist: Warum? Für andere Menschen sind Ihre Eltern schließlich nur flüchtige Bekannte, und deren eigene Eltern stehen im Mittelpunkt. Warum soll es also selbstverständlich sein, dass die Meinung Ihrer Eltern für Sie wichtiger ist als die Meinung einiger zufällig ausgewählter Leute, die ungefähr so alt sind wie Ihre Eltern? Warum denken Sie, dass Ihre Eltern mehr als andere wissen? Ich meine, ich weiß natürlich, dass Ihre Eltern Sie besser kennen, aber das ist nicht der Punkt.

Zu einer Person, für die die Meinung ihrer Eltern mehr zählt als die Meinung einiger zufällig ausgewählter Leute im selben Alter, würde Jung sagen: „Sie haben sich noch nicht von dem Gottesbild, das Sie von Ihren Eltern haben, getrennt. Also stehen Sie immer noch unter deren Einfluss.“

Es ist ein komplexes Thema, aber denken Sie an die Harry-Potter-Serie. Harry hat zwei Elternteile. Er hat die Dursley-Eltern und er hat diese magischen Eltern, die irgendwie im Hintergrund schweben. Aber er sollte den Unterschied zwischen beiden kennen, sie sollten nicht ein und dasselbe sein.Und das sind sie für ihn auch nicht.

Menschen haben biologische Eltern, aber auch die Natur und Kultur sind wie Eltern. Die biologischen Eltern sollten nicht auch noch die Rolle der Natur und Kultur einnehmen. Sie sollten keine endgültige Herrschaft über einen haben. Wenn das doch der Fall ist, ist man noch kein Individuum. Freud sagte zum Beispiel: „Niemand kann ein Mann sein, bevor sein Vater nicht gestorben ist.“ Und Jung sagte: „Ja, aber dieser Tod kann auch symbolisch stattfinden.“

„Was soll ich tun?“

Das ist der eine Teil des Konzepts. Ein anderer Teil ist Folgendes: Es gibt Zeiten im Leben, in denen man tatsächlich realisiert, dass man ein Individuum ist. Nämlich wenn man seine Eltern fragt, was man in einer bestimmten Situation tun soll, und dann merkt, dass diese eigentlich auch nicht mehr wissen, als man selbst. Diese schmerzhafte Erfahrung ist einer der Gründe, weshalb Menschen oft bereit sind, eine Tyrannen- / Sklaven-Beziehung mit ihren Vätern aufrechtzuerhalten. Einerseits muss man in einer solchen Beziehung der Unterlegene sein; man hat immer eine Art Richter, der einen beobachtet. Aber andererseits gibt es immer jemanden, der weiß, was zu tun ist. Es gibt immer jemanden, der zwischen einem selbst und dem Unbekannten steht, so dass Sie fragen können: „Was soll ich tun?“

Und irgendwann stellt man fest, dass man das nicht mehr fragen kann, weil die Eltern auch nicht mehr wissen, als man selbst. Das fühlt sich echt scheiße an, es ist eine Art symbolischer Tod. Ab diesem Zeitpunkt entwickelt man eine individuellere Beziehung zu den Eltern. Man ist erstmals in der Lage, sich um sie zu kümmern, anstatt umgekehrt. Das ist eine wünschenswerte Entwicklung. Aber um dorthin zu kommen, muss man sich von dem Bild der Vollkommenheit der Eltern befreien, und das macht einen verletzbar.

Bei „Pinocchio“ passiert genau das. Pinocchio geht nach Hause und will, dass alles so ist, wie es einmal war. Er will unter der sorgsamen Pflege des wohlwollenden Vaters bleiben, aber das ist nicht mehr möglich. Er hat diesen Punkt überschritten und deshalb ist der Vater weg. Im Disney-Film sehen wir, dass im Inneren des Hauses alles mit Spinnweben überzogen und alles leer ist. Pinocchio und die Grille sitzen auf den Treppenstufen und sind sehr beunruhigt. Erstens fragen sie sich natürlich, wo der Vater hingegangen ist. Sie sind besorgt, dass er weg ist. Aber sie wissen auch nicht, was sie tun sollen, weil es jetzt kein Heimkommen mehr gibt.

Jeder erreicht irgendwann in seinem Leben diesen Punkt. Die Antworten, nach denen man sucht, sind nicht im Haus der Eltern zu finden. So einfach ist das. Natürlich kann man seine Abängigkeit künstlich aufrechterhalten, aber wenn man das zu lange tut, nimmt es kein gutes Ende.

Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus dem Vortrag „Maps of Meaning 4: Marionettes and Individuals (Part 3)“. Hier geht’s zum Original-Vortrag auf dem YouTube-Kanal von Jordan B. Peterson.

Foto: jordanbpeterson.com

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Leserpost

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Wiebke Lenz / 24.10.2018

Es ist mir bewusst, Herr Peterson, aus der Sicht eines Psychologen schreiben. Im Grunde geht es um den alten Grundsatz: “Irgendwann ist die Amme nicht mehr Schuld.” Und aus diesem Grunde ist es auch (vielfach) einfach ein Versagen der Eltern, die die Kinder zu selbstständigen Wesen erziehen sollten. Ich schreibe dies aus Sicht einer Mutter - von Anfang an habe ich gesagt, wenn ich etwas nicht wusste: “Warte, da muss ich auch nachschlagen.” Ich bin auch derart gestaltet, dass ich von Anfang an meine Kinder dazu erzogen habe, im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten zu handeln. (Selbstredend nicht ohne vorherige Absprache, dieses wäre grob fahrlässig. Stets habe ich dennoch ein Auge darauf.) Es klappte und klappt dann auch mit Vertrauen und Selbstvertrauen. Und selbstredend gab es damals “Hahnenkämpfe” zwischen meinem 23-jährigen Sohn, der mittlerweile aus dem Haus ist und meinem Mann. Dies ist ein einfaches natürliches Verhalten. Was den Absatz über die Eltern angeht: Auch dieses ist doch natürlich. Zu den Eltern besteht im Normalfall ein gegenseitiges emotionales Verhältnis. Im Gegensatz zu den Freunden von den Eltern. Wessen Meinung ist Ihnen wichtiger, Herr Peterson: Die von Menschen, die Sie lieben, die Ihnen vertraut sind, Freunde nennen oder die, die lediglich Bekannte von Ihnen sind? Oder sind wirklich alle Meinungen gleich wichtig für Sie?

Werner Arning / 24.10.2018

Es gibt Menschen, die ihr Leben lang emotional abhängig von ihren Eltern bleiben. Meistens beruht die Abhängigkeit auf Gegenseitigkeit. Ein Loslassen ist für beide Seiten mit übermäßigen Ängsten verbunden und wird deshalb vermieden. Die seelische Abhängigkeit führt dazu, dass derjenige, der sie erlebt, große Schwierigkeiten dabei hat, eigene, dauerhafte, erwachsene Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Oft bis hin zur Beziehungsunfähigkeit. Er bleibt in gewisser Weise auf emotionaler Ebene lebenslang behindert. Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern ihre Kinder „freigeben“, sie ihr Leben leben lassen und es ist wichtig, dass sich ein junger Mensch neue gleichberechtigte Bezugspersonen sucht. Das bedeutet nicht, dass er seine Eltern nicht mehr liebt, oder diese ihn nicht lieben. Im Gegenteil, echte Liebe drückt dich im Fall von Eltern und Kind, in dem Wunsch aus, das eigene Kind möge eine eigenständige Persönichkeit werden, die den elterlichen Schutz über ein gewisses Alter hinaus nicht mehr nötig hat. Doch emotional „geschädigte“ Eltern haben in der Regel auch Schwierigkeiten ihre Kinder „gehen zu lassen“. Die Kinder antworten darauf, indem sie den unausgesprochenen Wunsch der Eltern, oder des Elternteiles „erfüllen“. So ergeben sich mitunter verhängnisvolle, gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse. Liebe bedeutet den Anderen ein selbstbestimmtes, freies Leben führen zu lassen. Ihn nicht mit Ansprüchen, Vorwürfen, schlechtem Gewissen usw. zu fesseln. Einige Menschen sind ihr Leben lang auf der Suche nach Anerkennung und Liebe seitens ihrer Eltern. Oft bildet eine erfolglose Suche den Grund für ihr Unglücklichsein. In Partnerschaften „spielen“ sie die Beziehung zum „vermissten“ Elternteil unbewusst immer wieder durch. Solange sie sich nicht von dem Elternteil lösen, verbleiben sie in einem negativen Bann, der jede glückliche Beziehung zu „guten“, passenden Partnern verhindert.

Elmar Schürscheid / 24.10.2018

Danke Herr Peterson. Hab ich so durchgemacht und knabber heute noch dran. Super Analyse!

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