112-Peterson: Warum ist Russland nicht westlich?

Warum betrachtet sich Russland eigentlich nicht als Teil des Westens? Warum besteht Russland darauf, sich selbst als vom Westen unabhängige Einheit zu verstehen?

Im Folgenden geben wir einen Auszug aus einem Gespräch zwischen Jordan B. Peterson und dem Historiker und Russlandexperten Dr. Frederick Kagan wieder. Hier geht's zum gesamten Gespräch.

Jordan B. Peterson: Mir gibt der folgende Gedanke Fragen auf. Warum betrachtet sich Russland eigentlich nicht als Teil des Westens? Warum besteht Russland darauf, sich selbst als vom Westen unabhängige Einheit zu verstehen? Vor allem, wenn man bedenkt, dass Putin nicht unbedingt als Bewunderer der Geschehnisse in der Sowjetunion unter Lenin und Stalin gilt. Ich verstehe also nicht, warum es immer heißen muss: „Russland gegen den Westen“. Vertraut Russland nicht dem Westen oder misstrauen wir ihm? Welche Dynamik steckt dahinter? Ich weiß, dass man in Russland versucht, philosophisch betrachtet eine Art vierten Weg zu gehen. Warum befinden wir uns in der Situation, dass sich Russland nicht einfach als Teil des Westens begreift?

Frederick Kagan: Was für eine tolle Frage! Um sie zu beantworten, muss ich geschichtlich etwas weiter ausholen. Zunächst einmal muss man wissen, dass sich Russland noch nie vollständig als dem Westen zugehörig betrachtet hat. Als Peter der Große ein „Fenster nach Europa“ schuf, um es mit den geflügelten Worten Puschkins auszudrücken, er also 1703 St. Petersburg gründete, versuchte Peter der Große – neben Stalin einer von Putins großen Helden der russischen beziehungsweise sowjetischen Geschichte – Russland zu verwestlichen. Seitdem gibt es in Russland eine Debatte, inwiefern Russland wirklich westlich oder Teil des Westens oder nicht doch etwas anderes ist.

Im 19. Jahrhundert manifestierte sich diese Debatte in der Spaltung der Intelligenzija in pro-westlich und slawophil. Es gab Leute wie Leo Tolstoi, die für die dem Land innewohnende russische Seele eintraten, die einzigartig sei. Seit dem Ende der Napoleonischen Kriege hat sich Russland politisch als etwas Größeres als nur europäisch betrachtet. Und die Erringung asiatischer Gebiete hat neben anderen Dingen dazu geführt, dass sich Russen als europäisch, aber noch darüber hinausgehend als etwas anderes definiert haben.

Während des 19. Jahrhunderts bestand der Westen aus Europa. Die USA waren noch kein großer Protagonist, wenn es darum ging, westlich zu sein. Schwer zu sagen, in welche Richtung sich Russland im 20. Jahrhundert entwickelt hätte, wenn nicht 1917 der Bolschewismus triumphiert hätte, der eine explizite Zurückweisung des westlichen politisch-ökonomischen Modells und ein Schritt in eine andere, einzigartige Richtung war.

Es gibt also ein Narrativ der russischen Einzigartigkeit, verbunden mit einem gewissen Hang zum Durcheinander. Das russische Durcheinander geht bis auf Iwan den Schrecklichen zurück. Seit Jahrhunderten gibt es also den russischen Gedanken, dass Russland ein einzigartiger Ort ist und ein einzigartiger Ort sein muss. Später stellte dann die Sowjetunion eine der globalen Supermächte neben den USA dar. Wenn Putin also über den Fall der Sowjetunion spricht, meint er eigentlich den Verlust von Russlands privilegierter Position als einer der beiden Herrscher der Welt. Und nun trachtet er danach, dies wiederherzustellen.

Jordan B. Peterson: Ich versuche schon länger, diesen russischen Sonderweg zu verstehen. Ich bin ein großer Bewunderer der russischen Literatur. Solschenizyn war der Überzeugung, dass Russland die Fesseln des sowjetischen Totalitarismus abschütteln sollte, um zur russisch-orthodoxen Tradition zurückzukehren, die die zaristische Herrschaft untermauert hatte. Er glaubte, dass dies die Grundlage für eine Entwicklung nach vorne schaffen würde.

Dies alles scheint für mich aber nicht die Behauptung zu rechtfertigen, dass es sich bei Russland gewissermaßen um eine nicht-westliche Angelegenheit handeln würde. Da es auf dem orthodoxen Christentum beruht, ist das Land immer noch im Christentum verwurzelt, was es ziemlich westlich macht.

Frederick Kagan: Nein. Nicht im historischen Konzept der Russen. (Iwan III.) etablierte sich die Vorstellung, dass Moskau das dritte Rom sei, was die Lage unübersichtlich machte. Die Argumentation lautete, dass es zuerst Rom gegeben hatte, wo das Christentum begründet wurde, und die Christenheit danach nach Konstantinopel zog. Als Konstantinopel 1453 an die Osmanen fiel, begann die russisch-orthodoxe Kirche zu argumentieren, dass das Zentrum des Christentums nun in Moskau sei, dem Erben des wahren Glaubens.

In diesem Sinne haben wir also eine christliche Linie, die nicht mehr Rom als Zentrum betrachtete und über Konstantinopel nach Moskau führte und behauptete, das einzige christliche Zentrum zu sein. Vor diesem Hintergrund ist es im ideologischen Sinne Putins und anderer also problematisch, das Christentum als etwas Westliches zu definieren.

Dies ist ein Auszug aus einem Gespräch zwischen Jordan B. Peterson und Frederick Kagan. Hier geht's zum gesamten Gespräch.

Foto: jordanbpeterson.com

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Holger Kammel / 02.03.2022

Ein durchaus interessanter Artikel. Auch wenn längerfirstige Überlegungen durch die gegenwärtigen Ereignisse in den Hintergrund gedrängt werden. Ich halte die Fragen und Anmerkungen von Petersson für wesentlich fundierter und wissensbasierter als die Antworten von Kagan. Nationale Besonderheit ist keine Eigenschaft von Rußland, das nimmt jede europäische Nation für sich in Anspruch. Interessant ist die Hinwendung zu den nationalen, christlichen Wurzeln vieler russischer Intellektueller. Das war nicht nur bei Tolstoi so, Dostojewski ist geradezu ein Paradebeispiel. Selbst in sowjetischen Zeiten gab es den Begriff der “Dorfliteratur”, die das betont Wladimir Below ist einer der bekannteren. Das gibt es auch in Frankreich und England. Auch das halte ich nicht für eine russische Besonderheit. Lesen Sie Gustav Freytag ” Die Ahnen,” dort finden sie Ähnliches. Arne, Ihren ersten Beitrag finde ich erhellend. Offensichtlich verfügen Sie über gründlichere Kenntnisse als die meisten “Welterklärer.” Die Ergänzung des Herrn Bender ist natürlich notwendig. Früher gab einmal den Witz, daß drei neue Irrenanstalten eingerichtet werden - eine bei Frankfurt, eine bei Hamburg und Bayern wird überdacht. Mittlerweile sollte das Land überdacht werden.

Klaus Keller / 02.03.2022

An Kostas Aslanidis: Danke für die Anregungen. ...fuehlen wir uns ueberhaupt nicht als Europaer. - Das war mir neu. Da will ich doch mehr wissen. Ich muss mich mal intensiver damit beschäftigen. Das auflösen von Missverständnissen ist ja immer eine wichtige Aufgabe, da man sonst immer knapp aneinander vorbeiredet und sich unnötig streitet.

Helmut Peters / 02.03.2022

Es erinnert etwas an Tucholsky, Wo kommen die Löcher im Käse her…Rußland liegt eben wo es liegt…in den dortigen Weiten hat man andere Sorgen als im deutschen Wald mit seinen gezählten und ausgerichteten Bäumen. Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit. In Sibirien sind die Menschen ganz anders als in Moskau. Und so ist das Denken auch oft für uns Westler. Wenn man sich mal anschaut, was und wie russische Medien berichten über den Krieg, ist man oft erstaunt und erschüttert. Überhaupt die Vorstellung von der Welt. Noch wenige Tage vor dem Krieg telefonierte mit dem Regierungschef von Luxemburg. Man spürt bei vielen Russen die Sehnsucht nach Anerkennung im Westen. Dabei kopieren sie dann oft vermeintlich westliche Verhaltensweisen, spielen Westler, Superdemokraten. Minderwertigkeitskomplexe, die sich dann oft in Überheblichkeit äußern. Russland ist anstrengend. Die meisten Familien haben ein furchtbares Leben hinter sich seit 100 Jahren. Sie brauchen Ruhe für sich und ihre Entwicklung, Befreiung von Obrigkeit und Ausbeutung, und auch ausländischen Begehrlichkeiten. Mir tun sie oft furchtbar leid, aber sie lassen sich nicht helfen. Ich hab mich früher um Studenten von dort gekümmert. Ihre Dankbarkeit war rührend. Es hat sehr lange gedauert, bis sie auftauten für offenere Gespräche. Begabte, kluge Menschen, zurückhaltend. Vom Wind verweht.

Fred Burig / 02.03.2022

“Es gibt also ein Narrativ der russischen Einzigartigkeit, verbunden mit einem gewissen Hang zum Durcheinander.” Oh, das trifft mit Sicherheit auch auf einige Autoren hier auf der Achse zu !!! Herr Peterson, sie sollten versuchen, sich davon zu distanzieren! MfG

Dirk Jungnickel / 02.03.2022

Und warum , Herr Höldergrün, werden in Russland Stalinstatuen restauriert, und warum wird MEMORIAL verboten ?  Ich behaupte ja nicht, dass der Stalinismus fröhliche Urstände feiert, aber ich bin mir sicher, dass der Putin, der ihn mit der Muttermilch aufgesogen hat,  leider immer noch “umnachtet” , sonst würde er keinen Krieg anzetteln.

Fred Burig / 02.03.2022

@Werner Grandl :”... Nation, Glaube, Familie, etc., sind in den Augen des westlichen Mainstreams Werte von vorgestern, die es zu überwinden gilt. Zusätzlich sind die Rohstoffe Sibiriens (und der Ukraine) eine lohnende Beute für westliche Konzerne.” Wenn das keine treffende Erklärung ist - mir fällt da auch nichts anderes ein, Prima! MfG

Hans, Michel / 02.03.2022

Sir haben drei Machtzentren in dieser Welt - Russland, USA und China. Europa spielt keine Rolle. Russland betreibt gerade eine, wie sie meinen, nach vorn Verteidigung. Dabei geht es nicht nur um politische Interessen, nein, es tobt auch ein Kulturkampf. Die meisten Menschen in Europa, besonders in Deutschland haben mit Glauben nichts mehr am Hut. Sie haben überhaupt keine Ahnung von Gläubigkeit als einen Ausdruck des Bedingungslosen Vertrauens auf Gott und Christus. Die meisten Russen vertrauen darauf, dass der christliche Gaube sie sicher durch ihren Lebensweg führen wird. Ich finde es z.B. schändlich, dass die Kirchen wegen Corona durch die Pfarrer geschlossen wurden. Wo bleibt deren Glauben an Gott und Christus. Dazu noch die ganzen ideologischen Verwerfungen wie Feminismus, Gender, politisch korrekte Sprache, Glauben sie wirklich das die Russen, in diesem Fall nicht nur die orthodoxe Kirche, sich nicht vor dem Wahnsinn schützen will?

Arne Ausländer / 02.03.2022

@Markus Baumann; Putin konnte mit deutlicher Hilfe westlicher, v.a. US-amerikanischer Akteure/Agenten die Jelzin-Nachfolge antreten. Er zeigte seine Westlichkeit durch False-Flag-Attentate, die - ganz in westlicher Manier - den zweiten Tschetschenien-Krieg legitimieren sollten. Etwas weniger westlich schien, jedenfalls damals noch, seine umgehende Gleichschaltung des einzigen objektiven (West- und Ost-Perspektive bietenden) TV-Senders NTV mittels Polizei-Überfall. Aber da war er dem Westen nur ein paar Schritte voraus, wie wir “seit Corona” spätestens erleben. Etwas voraus ist er auch im Corona-Zirkus, gebremst nur durch “unwestliche” Unwilligkeit seiner Untertanen, besonders in der Provinz.—Zur Rolle der orthodoxen Kirche im Verhältnis zum russischen Staat: In diese symbiotische Richtung begannes sich schon während des Zweiten Weltkriegs, also unter Stalin, zu entwickeln. (Ähnlich in Rumänien und Bulgarien.)—Ich stehe zu meiner Einschätzung, daß Rußland und die Russen nicht wesentlich aus dem Spektrum der westlichen Nationalkulturen herausfallen. (Als ich 2000 über das Sajan-Gebirge ins erst 1944 angegliederte Tuwa kam, merkte ich dagegen sehr deutlich, daß ich eine Kulturgrenze überschritten hatte. DORT ist wirklich Osten, Sibirien bis zur Pazifikküste aber ist kaum anders als Osteuropa. Oder Mittelwest-Arme-Leute-USA.)

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