Gestatten Sie mir einen literarisch, philosophisch und psychologisch erhellenden Rückblick.
Erstens: Sie wissen, dass Friedrich Nietzsche der Philosoph war, der den Tod Gottes verkündete. Er war ein vehementer Kritiker des Christentums, ein bissiger, boshafter Kritiker der institutionell verknöcherten Christenheit – im besten Sinn. Er sagte: „Gott ist tot“ und „Wir würden niemals genug Wasser auftreiben, um das vergossene Blut wegzuspülen.“ Doch es war keine siegestrunkene Proklamation, obwohl sie oft als solche gelesen und ausgelegt wird.
Nietzsches Schlussfolgerung daraus, aus dem Tod Gottes — dass unsere ethischen Systeme zusammenbrechen werden, wenn man ihnen ihre Grundmauern unter den Beinen wegzieht –, führte ihn zu der Überzeugung, dass die Menschheit ihre eigenen Werte finden, also ihre eigenen Werte schaffen müsste. Und darin steckt ein haariges Problem. Denn es hat keineswegs den Anschein, als wären Menschen fähig, ihre eigenen Werte zu schaffen. Es geht wohl mehr darum, diese Werte wiederzuentdecken. (Carl Gustav Jung hat dieses Thema sehr gründlich untersucht.)
Denn wir sind nicht fähig, uns selbst mit einem Meißel zu bildhauern oder in eine Gussform zu gießen, die uns zu dem macht, was immer wir sein wollen – wir alle haben ein Wesen, eine Veranlagung, eine Natur, mit der wir raufen müssen... Also geht es nicht darum, unsere eigenen Werte zu schaffen oder zu erfinden, denn diese Fähigkeit besitzen wir nicht. Es könnte darum gehen, diese Werte wiederzuentdecken, was C.G. Jung anstrebte.
Wie mit einem Blitzlicht ausgeleuchtet
Also denke ich, dass Nietzsche grundlegend irrte, als er diese Empfehlung aussprach; er irrte in psychologischer Hinsicht. – Sie wissen: Dostojewski schrieb auf vielfältige Weise parallel zu Nietzsche und beeinflusste ihn sehr; beider Leben wirkten aufeinander ein in einem Maß, das erstaunt, da es ziemlich übernatürlich erscheint. Dostojewski war eindeutig ein Literat, wogegen Nietzsche ein Philosoph war – ein literarischer Philosoph, aber dennoch ein Philosoph. Dostojewski rang mit exakt denselben Problemen, mit denen Nietzsche rang. Aber er tat es anders, auf literarische Weise.
Wir haben seinen unsterblichen Roman, „Die Brüder Karamasow“, und darin ist der eigentliche Held Aljoscha, ein Novize im Kloster, kein Intellektueller: ein charakterlich untadeliger Mensch. Aber er hat einen älteren Bruder, Iwan, der ein echter Intellektueller ist, ein fescher Soldat, mutig und tapfer noch dazu.
Und wie Dostojewski seine Schurken – Iwan ist nicht wirklich einer, aber Dostojewski schildert seine Bösewichte stets als überaus stark – von ihm stets mit einem Magnesium-Blitzlicht auf eine seiner handelnden Personen dramaturgisch und argumentativ gerichtet, so auch hier: Wenn die Beleuchtung den argumentativen Hintergrund nicht zufriedenstellend ausleuchtet, dann gestaltet er diesen Protagonisten so kraftvoll, so anziehend und intelligent, wie’s nur geht: so stark, so anziehend und so intelligent, wie ein Autor das seinem Tintenfass entlocken kann.
Und dann lässt er ihn von der Leine. Daher greift Iwan seinen Bruder Aljoscha unablässig an, versucht ihn mit allen Mitteln aus seinem „Vogelnest des Glaubens“ zu stoßen, flapsig formuliert. Und Aljoscha? Aljoscha kann keinem einzigen Kritikpunkt Iwans Paroli bieten; dafür fehlt ihm der passende Intellekt. Und Iwan besitzt einen verheerenden Intellekt, der auch auf ihn selbst verheerend wirkt.
Seine Verpflichtung für das Gute ausleben
Was in „Die Brüder Karamasow“ im Wesentlichen abläuft, ist Aljoschas Bestreben, seine Verpflichtung für das Gute auszuleben, sagen wir’s mal so. Auf diese Weise ist er erfolgreich, fast siegestrunken. Es spielt keine Rolle, dass er die Auseinandersetzung verliert, denn um die Streitpunkte geht es gar nicht so sehr; diese sind sinngemäß ein Problem am Rande. Denn die kontroverse Thematik – die essenzielle Frage – liegt nicht darin, woran man glaubt, als wäre dies ein Bündel Tatsachen, sondern wie man sich in der Welt benimmt und verhält. Und Dostojewski, er begriff dies. Was einer der Gründe ist, die ihn zu einer so atemberaubenden Ikone der Literatur gemacht haben, zu einem bewunderten Genie. Denn er war gedanklich und handwerklich in der Lage, diese Gegenpole in Worte zu fassen: auf eine Weise, die niemand sonst beherrschte. (Mögliche Ausnahme: Nietzsche, und der ist eine besondere Ausnahme.)
Darüber hinaus konnte Dostojewski seine poetische Dramaturgie nutzen, konnte Lösungen für die von ihm beschriebenen Probleme, die äußerst zwingend sind, darlegen. In seinem „Schuld und Sühne“, einem verblüffenden, spannenden, packenden Buch, ebenso wie „Die Brüder Karamasow“ – alle großen Werke Dostojewskis kreisen wirklich um jene tiefschürfenden Gewissensfragen, um Moral. Von ihm habe ich unendlich viel gelernt, indem ich ihn mehrfach las. Was ich auch Ihnen empfehle.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich als Videovortrag „Nietzsche, Dostoevsky, and The Brothers Karamazov“ auf dem Youtube-Kanal „Jordan B. Peterson Clips“