112-Peterson: Nietzsches brillante Arroganz

Bücher sind interessant. Zumindest manche. Wenn ich auf eine interessante Stelle in einem Buch stoße, markiere ich sie mir mit einem Eselsohr oder indem ich Zeilen hervorhebe, die ich für wichtig halte. In meinem Regal befinden sich sogar Bücher, die doppelte Eselsohren aufweisen, weil ich sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite auf etwas ganz besonders Spannendes gestoßen bin. Manche meiner Bücher bestehen daher nur aus Eselsohren, während andere überhaupt keine Markierungen aufweisen.

Meine Ausgaben von Nietzsche gehören zu der Sorte mit den Eselsohren. „Jenseits von Gut und Böse“ etwa ist eine grandiose Schrift. Nietzsche wartet mit der wohl arrogantesten Äußerung auf, die ein Autor jemals von sich selbst getätigt hat. Wirklich beeindruckend. Philosophische Einzeiler waren gewissermaßen seine Spezialität. Und zwar sagte er sinngemäß: „Für das, was ich in einem Satz auszudrücken vermag, müssen andere ein ganzes Buch schreiben. Wobei – ihnen würde nicht einmal ein ganzes Buch genügen.“

Das Problem bei einem Buch vom Format von „Jenseits von Gut und Böse“ ist, dass jeder einzelne Satz ein tiefer Gedanke für sich ist. Mit jedem Satz wird einem als Leser ein Schlag versetzt. Zunächst, weil man nicht versteht, was Nietzsche schreibt und sich für dumm hält. Dann, weil es doch mal vorkommt, dass man etwas begreift und sich trotzdem erschlagen fühlt: Nietzsche sagte, er würde mit dem Hammer philosophieren, weil er Dinge auseinander schlägt. Nun, daran kann wohl kein Zweifel bestehen. Wenn man also bei Nietzsche auf etwas stößt, das man versteht, reißt einen das auch wieder auseinander.

Man wünscht sich, Nietzsche würde einen einfach in Ruhe lassen

Somit braucht man eine Weile, das Buch zu beenden, da man ständig über vieles nachdenken muss. Oh, weh! Über etwas nachdenken ... das ist gar nicht gut. Im Grunde hat jeder für sich einen persönlichen Weltatlas entworfen, mit dessen Hilfe er sich im Leben zurecht findet. Nur deshalb funktionieren wir. Solange alles gut läuft, gibt es keinen Grund für uns, diesen Kompass neu auszurichten.

Wenn wir jedoch auf etwas stoßen, das uns zum Nachdenken bringt, bedeutet das, dass ein Teil dessen, wie wir dachten, falsch war. Wenn wir also zum Nachdenken gezwungen werden, muss ein kleiner Teil von uns – unsere Karte, unser Kompass – sterben, weil er sich als falsch erwiesen hat. Und durch etwas Neues ersetzt werden. Niemand weiß, wie viel von dem, was uns ausmacht, im Laufe der Zeit sterben muss. Womit wir bei einem Teil des Fehlerproblems wären. Aus diesem Grund gefällt es Menschen nicht, nachzudenken.

Das macht es aber gleichzeitig schwer, anspruchsvolle Bücher zu lesen. Denn sie zwingen einen regelrecht, bis zur Erschöpfung nachzudenken. Irgendwann wünscht man sich, Nietzsche würde einen einfach in Ruhe lassen. Übrigens ist ein Grund, warum man versucht, anspruchsvolle Bücher nicht mehr in der Universität zu behandeln, dass man den Menschen den schwierigen Prozess des Nachdenkens und der Selbst-Transformation ersparen möchte.

Dies ist ein Auszug aus einem Vortrag von Jordan B. Peterson. Hier geht's zum Auszug und hier zum gesamten Vortrag.

Foto: jordanbpeterson.com

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Wilfried Cremer / 19.08.2020

Wer meine Kommentare liest, braucht keinen Nietzsche. Na ja, manche.

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