„Gott ist tot”, das wohl berühmteste Zitat Nietzsches, wird oft vollständig aus dem Zusammenhang gerissen und falsch zitiert. Und wo es nicht falsch zitiert wurde, wurde es wenigstens falsch verstanden. Denn Nietzsche war einer der seltsamen Menschen, die in der Lage sind, gedanklich 50 oder sogar 100 Jahre in die Zukunft zu gehen. Und obwohl er im Allgemeinen als Feind des Christentums und des Aberglaubens angesehen wird und sicherlich ein unglaublich offener Gegner des christlichen Traditionalismus war, wusste er auch, dass, wenn man die alten Götter sterben lässt, die Wahrscheinlichkeit, dass es zu blutigen Auseinandersetzungen kommt, praktisch bei 100 Prozent liegt.
Daher kommt hier das Zitat im Original:
„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: 'ich suche Gott! Ich suche Gott!' – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken.
'Wohin ist Gott?' rief er, ich will es euch sagen! 'Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?
Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt dieß Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser That zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?"
Wo ist oben und unten?
Es ist also leicht zu erkennen, dass die Vorstellung dahinter eine ganz andere ist als das landläufige „Gott ist tot”-Zitat, das ganz allgemein mit Nietzsche in Verbindung gebracht wird. Was will er damit aber ausdrücken?
Ein System wie das Christentum oder jedes andere System, das eine Gesellschaft tausende von Jahren ausgerichtet hat, kann nicht einfach durch eine spontane Laune ohne anschließende Konsequenzen ausgelöscht werden. Welche Konsequenzen? Nietzsche sagt: „Wir werden nicht mehr wissen, wo oben und unten ist." Was meint er mit dieser Metapher? Nun, wir wollen doch alle nach oben, oder? Und umgekehrt wollen wir uns von dem, was unten ist, fernhalten. Wenn man aber die grundlegendsten Voraussetzungen seines Wertesystems auslöscht, dann gibt es kein Oben und Unten mehr. Und wo befindet man sich dann? Das ist schwer zu sagen, man war ja vorher noch nie in dieser Situation.
Wie ist das Leben, wenn man nicht weiß, wo oben und unten ist? Ist es einfach neutral? Gibt es einfach keine Werte mehr? Oder könnte es vielleicht der Fall sein, dass, wenn Oben und Unten beide abgeschafft wurden, dass der Ort, an dem man zurückgelassen wird, eher einem permanenten Leidenszustand ähnelt? Denn vielleicht ist es einfach nur so, dass die ständige Fähigkeit, sich anzustrengen, also ein Aufwärtsstreben, an das man glaubt, tatsächlich das ist, was das Leben für uns erträglich macht. Und wenn wir das Gefühl von oben und unten verlören, wäre das Ergebnis nicht so sehr neutral, sondern vielmehr schrecklich.
Die Alternative kennt keiner von uns
Jeder, der ein Glaubenssystem hat, tut folgendes. Nehmen wir an, Sie sind ein Verfechter der linken Politik, Sie vertreten eine umweltfreundliche oder konzernfeindliche Haltung. Unter Studenten also eine übliche Einstellung. Was tut man, wenn man diesem Glaubenssystem anhängt? Man betrachtet die Welt, wie sie sich darstellt und erklärt, wie sie sich manifestiert in Hinblick auf die Grundsätze dieses Glaubenssystems. Das haben Sie bestimmt schon an sich selbst beobachten können. Sie können eine glaubwürdige Geschichte darüber erzählen, warum die Welt so ist, wie sie ist, indem Sie beispielsweise eine unternehmensfeindliche Perspektive einnehmen, denn es gibt alle möglichen schrecklichen Dinge auf der Welt, die eine Folge von Unternehmenssteuerung sind.
Man könnte also sagen, dass das eben Beschriebene eine notwendige Entwicklungsphase ist, um die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Glaubenssystem zu erlangen. Warum? Nun, jedes Oben ist besser als gar nichts. Das wäre die erste Beobachtung. Selbst wenn Ihr Glaubenssystem relativ unzureichend und intellektuell leicht infrage zu stellen und möglicherweise auch nicht sehr vollständig ist: Die Tatsache, dass es für Sie eine moralische Struktur ausarbeitet und Sie Gut von Böse und Recht von Unrecht unterscheiden lässt, macht es in jedem Fall zu einem Vorteil. Womöglich zeugt es von intellektueller Schwäche und Widersprüchlichkeit, was in jedem Fall einen Mangel darstellt. Aber das bedeutet nicht, dass der Aufwand, ein solches System aufzubauen, sich nicht lohnen würde, im Gegenteil, es lohnt sich. Und Nietzsche sagte, in Bezug auf das Christentum in Europa: „Die intellektuellen und moralischen Fehler des institutionellen Christentums sind im Wesentlichen unzählbar.”
Dennoch sollte man folgendes nicht vergessen: Eine derartige Ordnung ist nötig. Denn die Alternative, die noch keiner von uns erfahren hat, da wir uns alle in einem moralischen System bewegen, ist viel schlimmer. Chaos ist viel schlimmer.
Dies ist ein Auszug aus einer Vorlesung von Jordan B. Peterson. Hier geht's zum Auszug und hier zum gesamten Vortrag.