112-Peterson: Die Programmierung unseres Gehirns
Jeder weiß, dass wir eine soziale, religiöse, intellektuelle und kulturelle Identität haben. Aber niemand hat sich mit der Frage beschäftigt, wie etwa unsere kulturelle Identität die Art und Weise, wie wir fühlen, wahrnehmen und handeln, beeinflusst. Mich interessiert sehr, wie die gehirn-interne Abbildung unserer Kultur unsere Gefühlsäußerungen beeinflusst.
Das Gehirn wird im Laufe unserer Sozialisation programmiert. Gleichzeitig prägt Sozialisation auch unsere kulturelle Identität. Es ist also offensichtlich, dass, während der Prozess der Sozialisation unsere kulturelle Identität formt, sie gleichzeitig auch unser Denken, unsere geistigen Funktionen und die Funktionen des Gehirns mitbeeinflusst. Die US-amerikanische Neuropsychologie war der Idee abgeneigt, dass kulturelle Transformation unsere physiologischen Funktionen mit beeinflussen könnte. In Russland hingegen spielte genau diese Beeinflussung eine zentrale Rolle in der neuropsychologischen Theoriebildung, wie insbesondere die Arbeiten von Lurija und Wygotski zeigen.
Diese Beeinflussung ist ziemlich klar, wenn man es beispielsweise in Bezug auf unsere Fähigkeit, lautlos zu lesen, bedenkt. Es ist eine relativ neue Errungenschaft, wie ja das Lesen an sich neu ist, denn vor 500 Jahren konnten die Menschen nicht lesen. Noch kürzer ist die Zeitspanne für die allgemeine Verbreitung dieser Fähigkeit, und das lautlose Lesen ist erst recht eine relativ neue Entwicklung. Diese Fähigkeit des stummen Lesens ist in einem bestimmten Teil des Gehirns verankert. Wenn sich dieser Teil des Gehirns genau für diese Funktion spezialisiert hatte, dann ist dies bei jedem Menschen in gleicher Weise der Fall – zumindest mehr oder weniger, abgesehen von individuellen Variationen in der Lateralisierung des Gehirns.
Es verhält sich also so, dass das lautlose Lesen in einer hierfür spezialisierten und für alle Menschen mehr oder weniger gleich positionierten Stelle im Gehirn verankert ist, die es vor 2.000 Jahren nicht gegeben hat (oder die nicht für diese Aufgabe spezialisiert war). Ich habe mal gelesen, dass die Menschen Julius Caesar für einen Zauberer gehalten haben, weil er stumm lesen konnte, ohne den Text gleichzeitig laut zu sprechen. Bemerkenswert war also nicht das Lesen an sich, sondern das stumme Lesen.
Die „Suborgane“ des Gehirns
Das Gehirn ist ein Organ, das für die eigene Kultur spezifische „Suborgane“ produziert, so wie Lurija es gesehen hat – und dies ist eine beachtenswerte Fähigkeit. Dank seiner Programmierung durch die jeweilige kulturelle Umgebung kann das Gehirn für bestimmte Aufgaben spezialisierte Module generieren. Das bedeutet nichts anderes, als dass unsere Kultur die Arbeit unseres Gehirns zumindest auf einer bestimmten Ebene einer physiologischen Analyse mitbestimmt.
In der Kindheit ist das Gehirn äußerst plastisch. Ein Kind mit einem enormen Ausmaß kortikaler (die Großhirnrinde betreffenden, Anm. d. Red.) Schädigung kann sich trotzdem zu einem normalen Erwachsenen entwickeln. Stark epileptischen Kindern wird manchmal die eine Gehirnhälfte entfernt – alles weg! Und trotz einer solchen Hemisphärektomie können sich betroffene Kinder relativ normal, ja eigentlich ganz normal entwickeln. Es gibt andere Fälle, Menschen mit Hydrocephalus, wenn das Ventrikelsystem im Gehirn nicht richtig funktioniert und sich im Schädel zu viel Gehirnflüssigkeit ansammelt, so dass diese Menschen einen etwas größeren Kopf haben, was nicht unbedingt auffällig sein muss. Aber es kann dazu kommen, dass ihr Schädel wie ein Ballon voller Flüssigkeit ist, mit bloß einer dünnen Schicht Gehirnmasse drum herum. Es wird über Menschen mit nicht mehr als fünf Prozent intakter Gehirnmasse berichtet, die dennoch normale Persönlichkeiten mit hochfunktionaler Intelligenz sind.
Insbesondere höhere kortikale Ebenen sind in der Kindheit funktional sehr flexibel. Das Bild ändert sich dann im Erwachsenenalter. Das Gehirn „erstirbt sich“ seine erwachsene Konfiguration, denn wir haben anfangs, insbesondere vor der Geburt, sehr viel mehr Neuronen, als wir brauchen. Unsere Umgebung stutzt das Gehirn auf das im Erwachsenenalter notwendige Maß zurück.
Es entstehen zwar auch eine Menge neuer Verbindungen, aber wir verlieren ganz schön viele Neuronen. Ist man dann erwachsen, gibt es jene Flexibilität der Kindheit nicht mehr. Entstehen Schäden irgendwo im Gehirn zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Spezialisierung bereits abgeschlossen ist, dann behält man den Schaden und muss sich durch andere Strategien behelfen.
Ideen dank biologischer Mutation
Damit wären wir bei der Lamarckschen Ideenübertragung. Denkt man darüber nach, dann hat es revolutionäre Implikationen. Zum Beispiel, wenn ich eine wirklich radikale Idee habe, in dem Sinn radikal, dass sie die Konfiguration meiner Großhirnrinde ändert, kann ich diese Idee übertragen. Vielleicht nicht auf Sie, Ihr Gehirn mag bereits zu wenig Plastizität haben, aber übertragen auf die nachfolgenden Generationen, so dass sich diese Änderungen verbreiten können – dann kann man behaupten, dass Ideen auf genau diese Art und Weise eine Population durchdringen können. Das wäre Ideen-Übertragung im Sinne von Lamarck!
Noch interessanter ist die zugegeben spekulative Vorstellung, dass mancher revolutionäre Durchbruch in der Welt der Ideen tatsächlich eine Folge biologischer Mutation sein könnte. Nehmen wir an, dass jemand – rein vom genetischen Gesichtspunkt her – ziemlich seltsam oder einzigartig ist und als Folge davon auch in einer einzigartigen Art und Weise denkt. Wenn diese Gedanken dennoch problemlos kommuniziert werden können, bedeutet das, dass der Effekt der genetischen Einzigartigkeit auf die Population übertragbar ist, und zwar ohne jegliche biologische Änderung auf der genetischen Ebene. Und dies ist in der Tat interessant, denn wenn es stimmt, bedeutet das, dass die kognitive Konsequenz genetischer Mutationen mit der Geschwindigkeit der Kommunikation auf die Population übertragbar ist. Das wäre dann eine auf nicht-genetischer Übertragung erfolgte Zunahme biologischer Ressourcen.
Dies ist ein Auszug aus einem Seminar, das Jordan B. Peterson 1996 in Harvard gegeben hat. Hier geht's zum Originalbeitrag.