112-Peterson: Der Preis der Authentizität

Während meiner Tätigkeit als Universitätsprofessor schrieben meine Studenten die besten Essays, wenn sie sich trauten, ihre echten Gedanken zu enthüllen. Doch Authentizität hat auch einen Preis.

In unserer Gesellschaft wird das Heilige immer mehr zum Politikum. Das ist sehr schädlich, denn es gibt einen Raum für das Heilige und einen Raum für das Politische. Darum heißt es in der Bibel auch: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Wenn man diese Sphären durcheinanderbringt, wird Gott zum Kaiser, was keine gute Sache ist. Doch wenn der Kaiser zu Gott wird, hat man es mit einem noch viel schlimmeren Problem zu tun. In dieser Situation befinden wir uns aktuell und stehen damit vor einem Rätsel.

Vielleicht hat Nietzsche genau das prognostiziert, denn er glaubte, dass die Konsequenz des Todes Gottes darin bestünde, dass die Menschen ihre eigenen Werte erschaffen müssten. Und ich glaube, das ist falsch. Ich glaube nicht, dass wir unsere eigenen Werte erschaffen können. Aber um Nietzsche zu seinem Recht kommen zu lassen – was grundsätzlich wichtig ist, denn er war ein Genie – so müssen wir heute sicherlich neu überdenken, was das Grundprinzip von Identität ist.

Wir werden herausfinden, ob wir das überhaupt erfolgreich bewerkstelligen können. Denn der Kulturkampf ist nicht zuletzt ein Krieg wegen der Schwierigkeit, Identität von Grund auf zu überdenken. Worum geht es dabei genau? Um das Politische, das Ethnische, das Ökonomische? Um das Verlangen? Sind wir nichts, als das, was wir wollen oder das, was etwas will, das in uns wohnt? Ist Identität subjektiv, also lediglich etwas, das wir kontrollieren?

Das wären also rund zehn Fragen, jede einzelne von ihnen ist außerordentlich schwierig
und wir scheinen bei allen steckenzubleiben. Also werden wir versuchen,
die Identität von ihren Grundsätzen zu lösen und sehen, wo wir damit landen. Beginnen wir also mit etwas Grundsätzlichem. Während meiner Tätigkeit als Universitätsprofessor habe ich mich ausführlich mit der Frage der korrekten Bewertung der Texte meiner Studenten befasst.

Chaos von Klischees

Wenn man ihre schriftlichen Arbeiten bewertet, bewertet man auch ihr Denken. Der Zweck ist nicht so sehr die Bewertung dahingehend, sie in eine bestimmte Kategorie zu stecken, sondern sie mit dem richtigen korrigierenden Feedback zu versorgen, das es ihnen erlaubt, zu besseren Denkern zu werden. Wenn man jemanden kritisiert und dabei auf kultivierte Weise vorgeht, dann hilft man ihm, die Spreu vom Weizen zu trennen. Als Benoter von Essays habe ich gelernt, dass eines der effektivsten Dinge, die ich Studenten gegenüber machen konnte, war, ihnen nicht anzustreichen, was sie falsch gemacht haben, was oft 95 Prozent des Essays ausmachte.

Es ist mein voller Ernst, dass unser Schulsystem den Schülern nicht besonders gut beibringt, Texte zu schreiben. Es gab zum Beispiel sehr begabte Studenten im vierten Studienjahr, die grottige Essays verfassten. Weil sie klug waren, machten sie dann schnell Fortschritte, aber niemand hatte ihnen jemals beigebracht, einen ordentlichen Text zu schreiben. Eine schreckliche Feststellung, nachdem sich Menschen bereits 16 Jahre im Bildungssystem befinden.

Ich lernte dabei, dass ich mich zunächst durch ein Chaos von Klischees, zweitklassigen Gedanken und halben Plagiaten schlagen musste. Aber immer mal wieder war es, als ob die echte, tatsächliche Intelligenz des Studenten kurz inmitten all des Mülls aufploppte. Sie schrieben dann etwas, das klar und nützlich war.

Wir alle kennen das aus unseren Beziehungen. Der andere bietet uns irgendeinen Mischmasch an. Meistens bestehend aus dem, wovon er glaubt, dass wir es hören wollen oder vielleicht sogar, wovon er glaubt, dass er es selbst hören will oder uns anbieten sollte. Erst wenn man genau zuhört, hört man zwischen den Zeilen, was die Person wirklich sagen will. Wenn man diese authentischen Schimmer in der Rede eines anderen belohnt, weil man gelernt hat zuzuhören, dann wird man immer mehr offene Worte seiner Mitmenschen empfangen.

Das kann ziemlich entmutigend sein, weil man sich fragen muss, ob man wirklich
wissen will, was beispielsweise die eigene Frau über einen denkt. Aber auf lange Sicht ist es so herum wahrscheinlich deutlich besser, als wenn man es erst 25 Jahre später beim Scheidungsrichter herausfindet.

Über den Tellerrand schauen

Die Menschen verstecken also Weizenstücke in der Spreu. Als beherzter Kritiker hat man nun die Aufgabe, die Spreu zu entfernen und den Weizen zu erkennen. Sich darin auszukennen ist natürlich wichtig, wenn man Menschen führt und sie benotet. Aber auch wenn man im Allgemeinen mit seinen Mitmenschen kommuniziert, ist es immer weise, die Worte des anderen zu belohen.

Wenn man nun die Spreu loswerden will, dann nicht, weil man sich über die andere Person moralisch erheben, sondern weil man an den Weizen kommen will. Bei meinen Studenten gab es öfters den Fall, dass sie die erste Arbeit im Semester geschrieben haben und tatsächlich 95 Prozent von dem, was sie schrieben,
einfach nur schmerzhaft war. Es wäre einfacher gewesen, den Aufsatz einfach umzuschreiben als ihn zu benoten. Aber mir fiel auf, dass, wenn ich eigenständige Gedanken der Studenten mit dem Korrekturstift lobend eingekreist hatte, sie sich riesig darüber freuten. Denn jemandem war aufgefallen, an welchen Stellen sie es gewagt hatten, ihren Kopf zu erheben, über den Tellerrand zu schauen und etwas zu sagen, was sie für wahr und echt hielten.

Das hatte zur Folge, dass beim nächsten Essay schon 30 oder 40 Prozent der Gedanken diese Qualität hatten. Vorausgesetzt, die Studenten hatten das Talent und den Fleiß. Wenn sie dafür weiteres Lob erhielten, bestanden ihre Texte am Ende des Semesters vielleicht aus 90 Prozent echten Gedanken, also echtem Weizen. Dann kam auch die Begeisterung, denn wir alle sind begeistert, wenn wir die Gelegenheit haben, unser Bestes zu geben. Besonders, wenn es auf die richtige Art und Weise empfangen wird.

Genug von dem Risiko, etwas Authentisches zu tun

Viele Menschen machen sich klein und produzieren Zweitklassiges, weil sie in ihrem Herzen Angst davor haben, sich wirklich zu zeigen. Denn wenn man andere sehen lässt, wer man wirklich ist, macht man sich auch verwundbar. Viele fürchten daher, dass sie zurückgewiesen werden, wenn sie sind wie sie sind. Ein Grund, warum meine Studenten am Anfang so eine Grütze ablieferten, lag darin, dass sie die Erfahrung gemacht hatten,
dass das, was sie anboten, gut war, aber ignoriert oder verurteilt wurde. Daher versteckten sie sich oft unter den Klischees und schrieben dem Professor, was er wollte, damit sie eine gute Note bekamen.

Sie hatten genug von dem Risiko, etwas Authentisches zu tun und dann dafür abgelehnt zu werden. Das ist etwas, das wir alle in Bezug auf unsere Beziehungen lernen sollten. Den anderen nicht für etwas Gutes zu bestrafen, weil man es damit ziemlich schnell  auslöschen kann. Es ist von allergrößter Bedeutung zu verstehen, dass man
seine Mitmenschen die ganze Zeit beobachten muss, um zu bemerken, wann sie ins Schwarze treffen und dies positiv hervorzuheben.

Alle lieben das. Wenn sich so gegenüber seiner Umgebung verhält, werden die anderen
so begeistert sein, dass man es kaum glauben kann. Denn alle – bis auf die extrem nihilistischen und ungläubigen – werden von Zeit zu Zeit gerne das Risiko auf sich nehmen, etwas Echtes anzubieten, in der verzweifelten Hoffnung, dass es tatsächlich wahrgenommen und gewürdigt wird. Wenn man sich selbst in so einen wertschätzenden
Menschen verwandeln kann, werdn die anderen ihr Bestes geben. Und das ist nicht zu unterschätzen.

Dies ist ein Auszug aus einem Video von Jordan B. Peterson.

Jordan B. Peterson (* 12. Juni 1962) ist ein kanadischer klinischer Psychologe, Sachbuchautor und emeritierter Professor. In seinen Vorlesungen und Vorträgen vertritt er konservative Positionen und kritisiert insbesondere den Einfluss der Political correctness und die Genderpolitik. Sein 2018 erschienes Buch 12 Rules for Life war internationaler Bestseller.

Foto: Gage Skidmore CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Holger Kammel / 08.01.2025

Es gab mal Zeiten, als man Schülern das kritische Denken gelehrt hat. Denken läßt sich schulen und sogar disziplinieren, dabei sowohl das eigene, kreative Denken steigern und Klarheit des Denkens herstellen. Formell klingt es mechanistisch. These, Antithese, Synthese. Eigentlich verbirgt sich hinter den drei Wörtern die Erkenntnistheorie. Konkurrierende Thesen aufstellen, diese bis in Details formulieren und nach befürwortenden und ausschließenden Faktoren betrachten, das ist Grundlage jedes rationalen, wissenschaftlichen Arbeitens. Dabei zu einem Urteil kommen, eine These ausschließen, eine zur (vorläufig) richtigen erklären, dies erläutern oder zu einem neuen Ergebnis kommen, ist das Ergebnis. Im nicht eindeutigen Bereich wird das interessant., da ist Raum für Kreativität. Selbst dort gibt es bewährte Mechanismen, bekannt unter dem Begriff Brainstorming. Einerseits streng logisches Denken, andererseits Raum für jede Form der (undisziplinierten) Phantasie. Dem Artikel nach kennen selbst populäre Dozenten das nicht mehr. Bei Sherlock hieß das noch: “Wenn man alle falschen Theorien ausschließt, muß die verbleibende, so phantastisch sie auch erscheint, die richtige sein.” Auch der war ziemlich eindimensional. Das klassische wissenschaftliche Beispiel ist der Streit der Vulkanisten mit den Neptunisten. “Alle Gesteine sind im Meer” - “aus Vulkanen entstanden” Tja wir wissen’s heute besser. Die himmlischen Heerscharen haben allen Müll auf die Erde geworfen und anschließend diversen Leichtgläubigen eingeredet, das hätte etwas mit “Geologie” zu tun.

Ralf Pöhling / 08.01.2025

Will man eine humane Gesellschaft, muss man diese an den bekannten Eigenschaften, den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Menschen ausrichten. Das ist eigentlich alles. Wobei das einfacher gesagt als getan ist, denn in einem Punkt haben die Christen absolut recht: Bei der Erbsünde. Menschen sind von Natur aus hinterhältig, verlogen und brutal. Als Kinder sind sie das üblicherweise noch nicht. Aber wenn sie durch die Pubertät durch sind und sich im gesellschaftlichen Kampf um die Ressourcen durchsetzen müssen, werden sie das irgendwann automatisch. Es sei denn, man erzieht alle Kinder von klein auf zu sportlicher Fairness. Was in einem Fußballspiel funktioniert, funktioniert auch in der gesamten Gesellschaft. Das ist der Trick bei allem. Wenn die Fairness fehlt, wird aus freiem Wettbewerb Mord und Totschlag. Was wiederum zu restriktiven Systemen führt, die im Nachgang die mangelnde Erziehung durch extreme Strafen wieder ausgleichen soll. Einen Gott oder einen Kaiser, vor dem alle in Ehrfurcht einknicken, bräuchte es dann gar nicht. Nicht jeder Mensch besitzt die Fähigkeit zur Empathie. Aber Fairness kann man antrainieren. Das geht. Muss man nur durchgehend machen.

Ilona Grimm / 08.01.2025

@Thomas Szabó: Meine Aufsätze waren bei meinen Deutschlehrern in der Oberstufe nicht besonders beliebt: zu kurz, girlandenfrei, zu klar strukturiert – These, Antithese, Synthese. Ein einziger Lehrer gab mir dafür Einsen. Auch bei meinen Achse-Kommentaren bemühe ich mich um Klarheit. Klischees gibt’s bei mir nicht (?), Plagiate auch nicht. Wenn ich zitiere, nenne ich stets die Quellen, wenn irgend möglich zurück bis an den Ort, wo sie entspringen. Nie habe ich den Wunsch gehabt, Schriftstellerin zu werden, aber geschrieben habe ich schon immer gern. Einst waren es Briefe, von denen manche allerdings für ihre Kürze (Prägnanz?) berüchtigt waren. Böse Zungen behaupteten, ich könne doch auch Postkarten verwenden, das spare Porto.

Ilona Grimm / 08.01.2025

„Chaos vor Klischees“, »Meistens bestehend aus dem, wovon er glaubt, dass wir es hören wollen oder vielleicht sogar, wovon er glaubt, dass er es selbst hören will oder uns anbieten sollte.« Kürzlich schrieb mir jemand eine E-Mail an die Adresse, die ich vor Jahren mal bei achgut genannt hatte. Er/sie lobte einen Kommentar von mir (Dachte er/sie, ich müsse das haben?), nannte aber seinen/ihren Namen nicht, obwohl meiner über all meinen Kommentaren steht. Der Absender blieb für mich also anonym. Das halte ich nicht nur für unhöflich, sondern auch für verschlagen; ich fühle mich hereingelegt. Auf diese Weise kommt keine Kommunikation zustande, obwohl ich mich darüber gefreut hätte. Was treibt Menschen an, mir anonym zu e-mailen oder auch anonym Geschenke zu schicken? (Ich werfe alles in die Mülltonne, was keinen Absender trägt.) Ja, Menschen sind kompliziert. Den besten und nützlichsten Leitfaden für das Leben und das menschliche Miteinander bietet die Bibel – seit 3.000 Jahren. Sie fördert auch Denk-, Sprach- und Ausdrucksvermögen. Allerdings muss man sie regelmäßig lesen und das, ich gebe es offen zu, ist durchaus herausfordernd.

Frauke Postelt / 08.01.2025

“es gibt einen Raum für das Heilige und einen Raum für das Politische”. Da weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Zwischen dem “Heiligen” und dem Politischen gibt es keinen Unterschied! Das “Heilige” ist, wie alle Gedankengebilde, nur Machwerk der Menschen. Mir scheint Peterson viel zu verkopft. Ich würde ihm mal die Auseinandersetzung mit den Gedanken von Vera F. Birkenbihl (leider schon verstorben) empfehlen, da würde er sehr schnell geholfen. Würde übrigens jeden weiter bringen.

Thomas Szabó / 08.01.2025

Habe ich bei Herrn Peterson studiert? Nein, aber er beschreibt exakt meine Schüleraufsätze: “...Chaos von Klischees, zweitklassigen Gedanken und halben Plagiaten ... die echte, tatsächliche Intelligenz des Studenten kurz inmitten all des Mülls aufploppte…” Im Unterschied zu seinen Studenten scheute ich mich nie davor zurück meine echten, authentischen Gedanken zu offenbaren. Mein junger Geist, ein leeres zu beschreibendes weißes Blatt Papier, hielt die Klischees, Plagiate, Banalitäten für meine echten Gedanken; was auf die Banalitäten tatsächlich zutrifft. Mein Vater machte mich auf meinen Mist aufmerksam. “Der Lehrer der all das lesen muss tut mir leid.” Ich nahm die Kritik dankbar an und ich übe mich seitdem darin mich einfach, klar, verständlich, geradlinig, logisch, sachlich auszudrücken. Nie ein überflüssiges Wort zu schreiben, klar zwischen meinen eigenen Gedanken und fremden Gedanken zu differenzieren. Die späte Krönung meiner schreibenden Karriere erfolgte als “Leserkommentar der Woche” bei der Achse des Guten. Die frühe Krönung erfolgte als ich auf Dating Plattformen kurze, pointierte, witzige, spritzige, bissige Texte zu allen möglichen sexuellen & beziehungsdramatischen Themen schrieb. 25 Jahre später schrieb mich wer darauf an und erinnerte sich sogar an meinen User-Namen, der mir inzwischen selber entfallen war. Das tat mir wohl. Im Gegensatz zu meinen Schüleraufsätzen waren diese Texte kurz und auf Wort, Punkt & Komma genau berechnet. Ich habe sie noch und ich finde sie gut. Zwar nicht völlig frei von Klischees, Plagiaten, Banalitäten, aber zu 95% authentisch. Auf meinem Grabstein steht mal: “Hat ein paar gute Leserkommentare geschrieben.” (Gut, jaja, das war jetzt ein Plagiat.) Ich empfehle Herrn Peterson diesen Artikel seinen Schülern vorzulesen.

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