112-Peterson: Das Weibliche im Mann, das Männliche in der Frau

Carl Gustav Jung behauptete, dass man das Kind mit dem Bade ausschüttet, wenn man lediglich versucht, sich zu entwickeln, um eine gesellschaftsfähige Persönlichkeit zu werden. Für ihn geschah dies bei Männern und Frauen jeweils auf unterschiedliche Art und Weise. Und so kam er auch zu der ziemlich modernen Schlussfolgerung, dass wir einen Preis für unsere ausgeprägt geschlechtsspezifische Gesellschaft zahlen. Nämlich den, dass es für Männer ziemlich leicht ist, die Elemente ihres Charakters zu unterdrücken und nicht zu entwickeln, die als klassisch weiblich angesehen werden, während es für Frauen schwierig ist, die Aspekte ihrer Persönlichkeit zu entwickeln und auszudrücken, die als klassisch männlich angesehen werden.

Jung glaubte, dass diese gegengeschlechtlichen Aspekte in gewisser Weise in den sogenannten Schatten eines Menschen eingebettet sind. Für einen Mann könnte dies bedeuten – wenn wir von den unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Temperamenten ausgehen – dass Männer wahrhaftiges Mitgefühl und Fürsorge entwickeln können, wenn sie entdecken, dass diese Fähigkeiten in ihren Schatten ausgelagert wurden. Und Frauen könnten dort beispielsweise die Fähigkeit entdecken, aggressiv und durchsetzungsfähig zu sein, denn das ist ein Teil dessen, was sie während ihres Entwicklungsverlaufes in den Schatten ausgelagert haben, da es für sie als unangemessenes Verhalten gilt.

Natürlich bedeutet das nicht, dass Jung dachte, dass Menschen ohne geschlechtsspezifische Identität erzogen werden sollten. Davon ist bei ihm nie die Rede. Er glaubte nur, dass man zunächst eine Persönlichkeit etablieren sollte, die ausreichend entwickelt ist, um auf individueller Ebene sozial und funktional akzeptabel zu sein. Dies befähigt dann, diese Persönlichkeit zu erweitern und Elemente der Wahrnehmung, des Denkens und Verhaltens in sich aufzunehmen, mit denen man in einem früheren Stadium seiner Entwicklung nicht hätte umgehen können. Jung würde also vielleicht sagen, dass man, wenn man ein Mann ist, männlich werden muss, bevor man weiblich werden kann. Wenn man eine Frau ist, ist das Gegenteil der Fall. Dass uns aber, wenn unsere Entwicklung bei einer engen und kategorischen Geschlechtsidentität aufhört, bestimmte unterstützende Elemente des Seins nicht zur Verfügung stehen, was uns schwach werden lässt.

Einfach den Mund halten

Der Schatten unterteilt sich in Anima und Animus. Die Anima ist sozusagen das Weibliche im Mann, und der Animus ist das Männliche in der Frau. Und Jung glaubte, wahrnehmen zu können, wie sich diese Teilaspekte im Verhalten der Menschen manifestieren. Er nennt ein paar typische Verhaltensweisen, von denen er dachte, dass sie entweder mit der Anima-Besessenheit in Verbindung gebracht werden, im Falle eines Mannes oder mit der Animus-Besessenheit im Falle einer Frau. Wenn man beispielsweise eine Frau trifft, die auf jeden Vorschlag aus Prinzip mit einem Gegenargument reagiert, würde Jung dies mit einer Animus-Besessenheit beschreiben. Und wenn man einen Mann trifft, der auf unvernünftige Weise von Gefühlsduselei bestimmt wird, würde Jung dies als Anima-Besessenheit betrachten.

Wenn man an dieses Schema glaubt, kann man Allerlei in dieser Richtung beobachten. Das Beste, was man tun kann, wenn man mit jemandem konfrontiert wird, der vom Animus besessen ist, ist einfach den Mund zu halten, denn man wird nicht zum Zuge kommen. Ein solcher Animus-Streit soll das Gegenüber zum Streiten und nicht zum Gewinnen bringen. Denn indem wir vom Animus dazu gebracht wurden, zu argumentieren, gewinnt der Animus und nicht wir selbst.

Dies ist ein Auszug aus einem Seminar von Jordan B. Peterson. Hier geht's zum Auszug und hier zum gesamten Seminar.

Foto: jordanbpeterson.com

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Leserpost

netiquette:

Thomas Taterka / 02.10.2019

@Dr.Freud : Jetzt schummeln Sie aber! Lassen Sie uns mal schön bei den ” Halbgebildeten ” bleiben und auf den Ball schauen ! Worum geht’s hier?

Dr. Freud / 02.10.2019

“Einfach den Mund halten” Guter Tip für den achtelgebildeten Peterson.

Werner Arning / 02.10.2019

In der Entwicklung des Kindes laufen die allermeisten Weichenstellungen wahrscheinlich über Identifikation. Identifiziert sich das Kind mehr mit dem Vater als mit der Mutter, wird das Kind in der Regel zu „männlichen“ Verhaltensweisen tendieren und auch zu einer eher männlich geprägten Gefühlswelt. Steht das Kind eher der Mutter nahe, ist gar der Vater physisch oder „psychisch“ entfernt, wird das Kind weibliche Neigungen entwickeln. Es identifiziert sich dann auch häufig mit der Gefühlswelt der Mutter. Das kann bis hinein in die spätere sexuelle Orientierung reichen. Auch der Junge kann dann die Welt etwa aus „weiblicher Perspektive“ sehen und richtet sein Gefühlsleben, gegebenenfalls auch seine sexuellen Wünsche, quasi zwangsläufig entsprechend ein. Er trifft keine bewusste Wahl, sondern kann gar nicht anders. Der jeweilige Charakter des entsprechenden Elternteiles spielt natürlich eine große Rolle. Beiderseitige „Anziehung“ verstärkt den Effekt. Das trifft häufig auf Fälle zu, in denen etwa das Elternteil emotional vereinsamt ist und einen „Ersatzpartner“ „sucht“. Meistens spielen sich diese Ereignisse auf unbewusster Ebene ab. Nichtsdestotrotz können sie prägend und „lebensbestimmend“ sein. Bei der Entwicklung von homosexuellen Neigungen wird gerne die These einer Dominanz gewisser Gene benutzt. Diese „Gen-These“ macht Erklärungen leicht. Gerade in linken Kreisen scheint sie beliebt zu sein. Wer jedoch genau hinschaut, kommt häufig zu anderen Schlüssen.

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