112-Peterson: Das neue kollektivistische Weltbild

Was sich gerade an den Universitäten und in der Gesellschaft abspielt, ist eine Debatte zwischen zwei Weltbildern, die fundamental unterschiedlich sind, aber gleichzeitig recht unscharf gehalten werden. Keines dieser zwei Wertesysteme kann Anspruch auf Vollständigkeit erheben, da sie jeweils im Detail nicht ausformuliert werden. Um aber irgendwie auf einen Nenner zu kommen, ist es wichtig, sich wenigstens auf einen groben, gemeinsamen Wertekontext zu einigen. Sonst können wir uns nicht verständigen.

Nun ist es so, dass jeder Mensch eine individuelle Komponente und eine kollektive Komponente in sich trägt, nennen wir letztere einfach Gruppenkomponente. Die Frage ist, welche dieser beiden an erster Stelle steht. Für mich lässt sich zunächst Folgendes feststellen:

Im Westen haben wir einigermaßen funktionierende, freie, bemerkenswert produktive und stabile Hierarchien, die sich auch um die Abgehängten kümmern, welche in jeder hierarchisierten Gesellschaft entstehen. Unsere westlichen Gesellschaften sind freier und funktionieren effektiver als jede andere Gesellschaft auf der Welt, jetzt und jemals zuvor. Ich denke – wie ich finde mit gutem Grund – das liegt daran, dass das grundlegende, unscharfe Weltbild, an dem wir uns im Westen orientiert haben, das der Selbstbestimmtheit des Individuums ist. Und diese individuelle Souveränität basiert auf der Annahme, dass der beste Weg, um untereinander zu agieren, die Interaktion zwischen Individuum und Individuum ist. Dazu gehört auch, die andere Person als Partner im selben psychologischen Prozess zu betrachten. Auf diese Weise können wir Dinge entdecken, die wir noch nicht verstehen oder auch Probleme in unserer Gesellschaft lösen.

Der Grund, warum wir als Individuen – sowohl im Hinblick auf unsere Rechte als auch auf unsere Pflichten – wertvoll sind, ist, dass unsere individuelle Existenz unser Zweck, unsere Würde und unsere Funktion ist. Was sich aber nun in meinen Augen ausbreitet – vor allem ausgehend von den Universitäten – und mittlerweile in der breiteren Gesellschaft, auch in der Arbeitswelt angekommen ist, ist ärgerlicherweise ein kollektivistisches Wertesystem. Natürlich hat dies zunächst einen gewissen Nutzen, denn wir alle sind auf verschiedene Weise Teile von Gruppen.

Die Welt als Schlachtfeld

Aber das kollektivistische Wertesystem, das ich für das „politisch korrekte“ halte, ist eine merkwürdige Mischung aus Postmodernismus und Neomarxismus. Und seine grundlegende Behauptung ist, dass wir nicht vordergründig Individuen, sondern Teile einer Gruppe sind. Diese Gruppe kann unsere Ethnie, unser Geschlecht, unsere Rasse oder irgendeine andere der unendlich vielen potenziellen Gruppen sein, zu denen wir gehören, denn wir gehören zu vielen. Wir sollen nach diesem Wertesystem also im Wesentlichen mit den anderen, die wie wir sind, in einer bestimmten Gruppe kategorisiert werden. Behauptung Nummer Eins.

Behauptung Nummer Zwei ist, dass der richtige Weltblick darin besteht, die Welt als Schlachtfeld zwischen Gruppen mit unterschiedlich viel Macht zu betrachten. Also definieren wir zuerst die Gruppen, und dann betrachten wir das Individuum von der Gruppenkomponente aus. Wir betrachten den Kampf zwischen Gruppen aus der Gruppenkomponente heraus, und wir sehen die Geschichte selbst als nichts anderes als die Folge von Machtkämpfen zwischen verschiedenen Gruppen. Dies verhindert ein mögliches Heranziehen des Individuums von vornherein. Und auch jegliche Idee der freien Rede.

Denn wenn man ein eingefleischter Kollektivist ist, gibt es keine freie Rede. Es ist noch nicht mal so, dass die verschiedenen Wertesysteme zwischen der radikalen Linken und, sagen wir mal, dem Rest der Welt diskutiert werden. Es gibt nach dieser Auffassung keine freie Rede, denn für den Individualisten ist freie Rede Teil seines Weltverständnisses, mit der man die Gesellschaft sinnvoll umgestalten kann.

Keine Hierarchie ohne Tyrannei

Aber der radikale linke Kollektivist, der meistens mit dem Standpunkt der politischen Korrektheit assoziiert wird, glaubt, dass, wenn man spricht, man nur ein Machtspiel im Namen seiner Gruppe spielt. Und man kann nichts dagegen tun, denn es gibt keine andere Möglichkeit. Zunächst einmal hinsichtlich unserer Identität als Individuen und unseres Blickes auf die Welt, aber beispielsweise auch bezogen auf den grundlegenden Wertekontext der Geschichte. An unseren Universitäten geht man weitreichend davon aus, dass die beste Variante, die westliche Zivilisation zu konzeptionalisieren, die These des unterdrückerischen, männerdominierten Patriarchats ist. Und dass die beste Variante, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen über die Jahrhunderte zu rekapitulieren, die Annahme der Unterdrückung der Frau durch den Mann ist.

Was soll ich sagen? Keine Hierarchie ohne Tyrannei. Dies ist eine unumstößliche Wahrheit, die die Menschen buchstäblich für Jahrtausende hingenommen haben. Und Hierarchien haben nun mal eine Tendenz zur Tyrannei und zur Usurpation durch Menschen mit Macht. Aber dies geschieht nur, wenn sie korrupt werden. Wir haben sehr wirksame Mechanismen in unserer Gesellschaft, die Hierarchien davon abhalten, nicht untolerierbar korrupt zu werden.

Aber um eins klarzustellen: Nicht, dass Sie denken, dass ich in Frage stelle, ob Empathie nützlich ist oder nicht. Oder dass Sie denken, dass Gegner der politischen Korrektheit unempathisch wären. Ich weiß natürlich genau, dass Hierarchien öfters dazu führen, dass einige Menschen ganz unten landen. Und dass die in Hierarchien Abgehängten eine politische Stimme brauchen. Dies ist die überaus nötige Stimme der Linken.

Es ist aber etwas ganz anderes, als Ausgangsbasis für ein gemeinsames Wertesystem die Behauptung aufzustellen, dass alle von uns grundsätzlich durch ihre Gruppenzugehörigkeit identifiziert werden sollten und demzufolge die gesamte Welt als Schlachtfeld zwischen verschiedenen Gruppen zu begreifen sei. Dieses Wertesystem wird definitiv kein fortschrittliches sein, wie man bereits an den Universitäten sieht. Stattdessen kam es zu Vorkommnissen wie jene an der Wilfrid Laurier University (die wissenschaftliche Mitarbeiterin Lindsay Shepherd löste dort 2017 einen Skandal aus, als sie in einem Seminar Ausschnitte aus einer TV-Diskussion mit Jordan B. Peterson zeigte, in welcher es um das Für und Wider genderneutraler Pronomen ging, Anm. d. Red.). Nochmal: Wir werden damit keinen Fortschritt erreichen. Stattdessen werden wir beim von der Linken vorgeschlagenen Stammessystem landen.

Dies ist die Übersetzung einer Rede, die Jordan B. Peterson auf einer Podiumsdiskussion zum Thema „Politische Korrektheit in der modernen Gesellschaft“ gehalten hat. Hier geht's zu einem Mitschnitt der gesamten Veranstaltung mit Petersons Beitrag.

Foto: jordanbpeterson.com

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Leserpost

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Gert Köppe / 20.02.2019

Da jeder Mensch nun mal ein Individuum ist funktionieren solche kollektivistischen Systeme nicht, oder nur zeitlich begrenzt und dann meistens schlecht. Auch der Kommunismus ist deshalb vorn vornherein zum Scheitern verurteilt. Mit Kollektivismus muss zwangsläufig auch Gleichmacherei einher gehen. So bald einer z.B. ein blaue Hose an hat und der Andere eine schwarze Hose, fängt einer früher, oder später an, das ihm die Hose des Anderen besser gefällt, als die eigene Hose. Die Folge ist irgendwann Neid, Mißgunst, Streit u.s.w.. Das zerstört aber das Kollektiv. Mao hat das damals schon erkannt und deshalb den Chinesen die blaue “Einheitskleidung” verpasst. Man landet also unweigerlich im Maoismus, weil es nicht anders geht. Einschließlich aller Repressalien für das “Volkskollektiv”.

J. Polczer / 20.02.2019

“An unseren Universitäten geht man weitreichend davon aus, dass die beste Variante, die westliche Zivilisation zu konzeptionalisieren, die These des unterdrückerischen, männerdominierten Patriarchats ist. Und dass die beste Variante, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen über die Jahrhunderte zu rekapitulieren, die Annahme der Unterdrückung der Frau durch den Mann ist.” Nun ich nehme an, da Sie ein Mann sind, wollen Sie es gerne so sehen, als ob es diese Unterdrückung nie gegeben hätte. Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen hiermit entscheiden widerspreche. Leider ist die Unterdrückung von Frauen durch Männern kein Märchen, dass sich die bösen Feministen ausgedacht haben. Es gibt zu viele Beispiele um dieses “Märchen” zu stützen. Von der legalen “Vergewaltigung” in der Ehe die erst seit c.a. 20 Jahren strafbar ist, bis zu der Tatsache, dass Frauen leider in vielen Gesellschaften später mit einem Wahlrecht bedacht wurden.    

Marc Stark / 20.02.2019

Sehr guter Kommentar Herr Werner Arning! Schlussendlich sind die Linken nichts anderes als Neo-Kolonialisten, die Kapital aus echtem oder halluzinierten Elend der anderen schlagen wollen. Kein finanzielles Kapital, sehr wohl aber “moralisches” Kapital, ein “gutes Gefühl”. Sie wollen keine selbstständigen “Unterdrückte”, sie wollen kleine Kinder, dessen Fürsprecher man sein darf! Was für eine Anmassung!

Thomas Taterka / 20.02.2019

Immer wenn mich jemand einem ” Stamm ” zuordnen möchte,  empfinde ich einen leichten Schauder von “voreiliger Vertrautheit ” ( Musil ). ” Overhasty Intimacy ” ( in der Übersetzung von Sophie Wilkins ). Das Beste wird leicht übersehen.

Werner Arning / 20.02.2019

Der linke Kollektivist versucht sich in zwanghafter Weise zum Fürsprecher anderer „Kasten“ zu machen. Er unterstellt dabei, dass er selber einer „überpriviligierten Kaste“ angehört und dass er sich aus Gründen der Gerechtigkeit für die Belange der „unterprivilegierten Kasten“ einsetzt. Er unterstellt, deren Interessen zu vertreten. Dass er die Mitglieder ihm „fremder“ Kasten dabei häufig entmündigt, da er davon ausgeht, besser als diese selber zu wissen, was gut oder schlecht für sie ist, interessiert ihn nicht. Er steigert sich in seine eingebildete Robin-Hood-Rolle und badet, von sich selber begeistert, in einem Gefühl von „Bessermenschlichkeit“. Er sieht sich nicht nur als Gutmenschen, sondern als Bessermenschen. Er „opfert“ ja seine überpriviligierte „Kastenzugehörigkeit“ zu Gunsten der Benachteiligten. Das tut er jedoch nur scheinbar, denn er gibt seine Kastenzugehörigkeit nicht auf, sondern erlaubt sich „Ausflüge“ zu anderen Gruppen und kehrt danach „nach Hause“ zurück. Seinem Ego jedoch wird durch seine Aktivitäten enorm geschmeichelt. Auch wenn dieser „Aktivist“ für Andere kämpft und die Gleichheit aller Kasten wünscht, wird er sein Ziel letztlich nur unter Anwendung autoritärer Mittel erreichen. Die dabei entstehende, neue „Überkaste“ ist die des Aktivisten. Diese überwacht und koordiniert die neue Gleichheit. Das ist wohl die Vorgehensweise der Kommunisten. In diesem wird es nie Gleichheit, sondern immer nur die Macht einer „Überkaste“ geben, die die alte Ungleichheit durch eine neue Ungleichheit ersetzt. Die „Rechte“ des Individuums sind dem Aktivisten ein Fremdwort. Diese gilt es zuvorderst zu beseitigen. Denn in seinen Augen kann es per se kein Individuum geben. Es gibt nur Gruppenmitglieder. Und wer das Gegenteil behauptet, ist in ihren Augen ein Rechter. Er „gehört bekämpft“, denn „in Wirklichkeit“ will er nur seine Privilegien absichern. Und diese sind eigentlich schon für den Aktivisten reserviert, ob es ihm bewusst ist, oder nicht.

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