Menschen, die gegenüber religiösen Strukturen eine zynische Einstellung haben, halten Glauben nicht selten für die Bereitschaft, seinen Verstand im Dienste des Aberglaubens zu zerstören. Diese Perspektive hat etwas für sich, allerdings nicht viel. Weil die Realität nämlich viel anspruchsvoller ist. Ein Teil des Glaubens, um den es im Alten Testament geht, besteht darin – hier spreche ich psychologisch – dass es nützlich ist, ein hohes Ideal zu postulieren und dies anzustreben. Auch unsere Forschung zeigt ziemlich deutlich, dass es lohnenswert ist, Menschen dazuzubringen, ein ausgewogenes Ideal für sich zu konzipieren. Was wünschen wir uns für unsere Familie? Was wünschen wir uns für unsere Karriere? Was wünschen wir uns für unsere Bildung? Was wünschen wir uns für unsere Charakterentwicklung? Wie wollen wir unsere Freizeit nutzen? Wie gehen wir mit unserem Alkohol- und Drogenkonsum um? Wie können wir vermeiden, in ein Loch zu fallen?
Wenn man das einmal durchdenkt, sich ein ganzheitliches Ideal überlegt, und es über sich stellt, um danach zu greifen, wird man sich der Welt auf positive Weise stärker verpflichtet fühlen und weniger von Angst und Unsicherheit geplagt werden. Das macht absolut Sinn. Denn wir bestehen nun einmal aus Fleisch und Blut und sind absolut lebendig. Wenn wir nicht in der Lage sind, eine positive Beziehung mit der Tatsache unseres Seins einzugehen, wäre unsere Existenz einfach nur die Hölle. Denn das Leben wäre nichts anderes als Angst auslösend und schrecklich, weil wir verletzlich sind und ohne Sinn nichts Nützliches zu tun hätten. So eine Einstellung ist für niemand eine Erfolgsstrategie. Natürlich kann man einen rationalen Standpunkt vertreten. Beispielsweise, indem man sagt: „Es gibt keine harten empirischen Beweise für eine transzendente Moral.“ Mir scheint jedoch, dass es auch existentielle Beweise hierfür gibt, die berücksichtigt werden müssen. Und natürlich haben viele Psychologen bereits darüber gesprochen.
Carl Rogers, Carl Gustav Jung und Sigmund Freud zum Beispiel. Die meisten der großen Psychologen haben darauf hingewiesen, dass man in dieser Hinsicht aus der eigenen Erfahrung vernünftige, solide Informationen ableiten kann, natürlich vor allem durch Gespräche mit anderen Menschen. Auch im eigenen Leben kann man derartiges beobachten, wenn man auf einem produktiven Weg ist, der einen veredelt und erleuchtet, aber auch, wenn man einen destruktiven Weg geht. Die Dichotomie zwischen diesen beiden Pfaden bildet womöglich die Realität ab. Dies erlaubt uns auch, in dieser Hinsicht unserer Intuition Glauben zu schenken.
Ich denke jedenfalls nicht, dass es unvernünftig ist, da wir ja nun einmal leben, die Tatsache, dass wir leben und von anderen Kreaturen umgeben sind, die ebenfalls leben, mit größtmöglicher Achtung zu betrachten. Ich kann einfach nicht verstehen, wie das als Verliererstrategie ausgelegt werden kann. Das wäre also Glaube. Nicht nur Glaube an unser Sein, sondern Glaube an das Sein als solches. Der Glaube würde also darin bestehen, dass, wenn wir unser Sein richtig ausrichten, wir vielleicht das Sein als solches begreifen können. Natürlich kann man es nie wissen. Es könnte wahr sein. Es gibt jedoch keinen Grund anzunehmen, dass es nicht wahr wäre.
Wahrheit in Idee und Tat
Selbst wenn man nur eine strenge biologische Perspektive einnimmt und uns als das Produkt von dreieinhalb Milliarden Jahren Evolution betrachtet, haben wir über all diese Milliarden von Jahren gekämpft, um am Leben zu sein und uns der Realität anzupassen. Eines der Dinge, die mich oft beschäftigt haben, ist, dass das Leben definitiv schwierig ist. Es gibt keinen Zweifel daran, es ist unfair und es gibt Ungleichheit und die Menschen unterliegen allen möglichen schrecklichen Dingen. Aber ich frage mich auch, würden wir nicht aktiv danach streben, die Dinge schlimmer zu machen, wie viel besser könnte alles laufen? (...) Menschen arbeiten gegeneinander aufgrund von Bitterkeit, Ressentiments, unverarbeiteten Erinnerungen, Hass aus der Kindheit, ungeprüften Annahmen und vielem mehr. Es stellt sich die Frage, ob wir das beiseite schieben und uns richtig ausrichten können.
Dann kommt natürlich noch hinzu, was im Alten Testament sehr stark betont wird und den gesamten biblischen Korpus durchzieht, dass es nicht nur ausreicht, eine positive Beziehung zum Sein aufzubauen. Obwohl ich letzteres für das Wesentliche halte. Es ist eine gute Beschreibung des Glaubens. Man muss diese Entscheidung treffen, weil das Sein sehr ambivalent ist, und man kann argumentieren, dass es vielleicht etwas ist, das nie hätte passieren sollen, aber das scheint mir nicht produktiv zu sein. Glaube scheint zu besagen: „Ich werde mich so verhalten, als ob das Sein letztendlich gerechtfertigt wäre, und dass, wenn ich richtig daran teilhabe, ich es verbessern werde, anstatt es zu verschlimmern.” Ich denke, das ist letztendlich das Glaubensbekenntnis.
Was aber laut Bibel weiterhin damit einhergeht, ist so etwas wie Wahrheit in Idee und Tat. Selbst Figuren wie Jakob, die zu Beginn moralisch ziemlich ambivalent dargestellt werden, werden von dem, was sie durchmachen, vollkommen durchgeschüttelt. Sie scheinen zu einer Art ethischen Umformung getrieben zu werden. In der Mitte ihrer Lebensreise sind sie dann von Menschen umgeben, die fest verankert sind, denen man vertrauen kann und die weder das Sein noch sich selbst oder ihre Mitmenschen verraten. Es erscheint mir vernünftig, davon auszugehen, dass man zunächst eine Beziehung zu etwas Transzendentem aufbauen muss. Das könnte sogar nur die zukünftige Version von einem selbst sein. Und dann, zweitens, dass man sich wahrheitsgemäß an der Realität orientieren sollte.
Die biblischen Geschichten sind, was das angeht, eigentlich ganz realistisch. Denn sie besagen nicht wirklich, dass man, wenn man dieses oder jenes tut, sofort in das gelobte Land gelangt. Selbst Moses schafft es nie in das gelobte Land. Es geht natürlich nicht darum, dass einem die sofortige Erlösung angeboten wird, wenn man sich rechtschaffen auf der Welt bewegt, etwa eine vertrauensvolle Partnerschaft eingeht, und sich auf diese Weise in Integrität übt. Aber solche Schritte sind das beste, was man tun kann und vielleicht sind sie gut genug. Und selbst wenn sie nicht gut genug sind, sind sie immer noch der Alternative vorzuziehen, welche wohl auf persönlicher und sozialer Ebene der Hölle sehr ähnlich ist.
Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus einem Vortrag von Jordan B. Peterson. Hier geht's zum Auszug und hier zum gesamten Vortrag.