112-Peterson: Wozu noch glauben?

Menschen, die gegenüber religiösen Strukturen eine zynische Einstellung haben, halten Glauben nicht selten für die Bereitschaft, seinen Verstand im Dienste des Aberglaubens zu zerstören. Diese Perspektive hat etwas für sich, allerdings nicht viel. Weil die Realität nämlich viel anspruchsvoller ist. Ein Teil des Glaubens, um den es im Alten Testament geht, besteht darin – hier spreche ich psychologisch – dass es nützlich ist, ein hohes Ideal zu postulieren und dies anzustreben. Auch unsere Forschung zeigt ziemlich deutlich, dass es lohnenswert ist, Menschen dazuzubringen, ein ausgewogenes Ideal für sich zu konzipieren. Was wünschen wir uns für unsere Familie? Was wünschen wir uns für unsere Karriere? Was wünschen wir uns für unsere Bildung? Was wünschen wir uns für unsere Charakterentwicklung? Wie wollen wir unsere Freizeit nutzen? Wie gehen wir mit unserem Alkohol- und Drogenkonsum um? Wie können wir vermeiden, in ein Loch zu fallen?

Wenn man das einmal durchdenkt, sich ein ganzheitliches Ideal überlegt, und es über sich stellt, um danach zu greifen, wird man sich der Welt auf positive Weise stärker verpflichtet fühlen und weniger von Angst und Unsicherheit geplagt werden. Das macht absolut Sinn. Denn wir bestehen nun einmal aus Fleisch und Blut und sind absolut lebendig. Wenn wir nicht in der Lage sind, eine positive Beziehung mit der Tatsache unseres Seins einzugehen, wäre unsere Existenz einfach nur die Hölle. Denn das Leben wäre nichts anderes als Angst auslösend und schrecklich, weil wir verletzlich sind und ohne Sinn nichts Nützliches zu tun hätten. So eine Einstellung ist für niemand eine Erfolgsstrategie. Natürlich kann man einen rationalen Standpunkt vertreten. Beispielsweise, indem man sagt: „Es gibt keine harten empirischen Beweise für eine transzendente Moral.“ Mir scheint jedoch, dass es auch existentielle Beweise hierfür gibt, die berücksichtigt werden müssen. Und natürlich haben viele Psychologen bereits darüber gesprochen.

Carl Rogers, Carl Gustav Jung und Sigmund Freud zum Beispiel. Die meisten der großen Psychologen haben darauf hingewiesen, dass man in dieser Hinsicht aus der eigenen Erfahrung vernünftige, solide Informationen ableiten kann, natürlich vor allem durch Gespräche mit anderen Menschen. Auch im eigenen Leben kann man derartiges beobachten, wenn man auf einem produktiven Weg ist, der einen veredelt und erleuchtet, aber auch, wenn man einen destruktiven Weg geht. Die Dichotomie zwischen diesen beiden Pfaden bildet womöglich die Realität ab. Dies erlaubt uns auch, in dieser Hinsicht unserer Intuition Glauben zu schenken.

Ich denke jedenfalls nicht, dass es unvernünftig ist, da wir ja nun einmal leben, die Tatsache, dass wir leben und von anderen Kreaturen umgeben sind, die ebenfalls leben, mit größtmöglicher Achtung zu betrachten. Ich kann einfach nicht verstehen, wie das als Verliererstrategie ausgelegt werden kann. Das wäre also Glaube. Nicht nur Glaube an unser Sein, sondern Glaube an das Sein als solches. Der Glaube würde also darin bestehen, dass, wenn wir unser Sein richtig ausrichten, wir vielleicht das Sein als solches begreifen können. Natürlich kann man es nie wissen. Es könnte wahr sein. Es gibt jedoch keinen Grund anzunehmen, dass es nicht wahr wäre.

Wahrheit in Idee und Tat

Selbst wenn man nur eine strenge biologische Perspektive einnimmt und uns als das Produkt von dreieinhalb Milliarden Jahren Evolution betrachtet, haben wir über all diese Milliarden von Jahren gekämpft, um am Leben zu sein und uns der Realität anzupassen. Eines der Dinge, die mich oft beschäftigt haben, ist, dass das Leben definitiv schwierig ist. Es gibt keinen Zweifel daran, es ist unfair und es gibt Ungleichheit und die Menschen unterliegen allen möglichen schrecklichen Dingen. Aber ich frage mich auch, würden wir nicht aktiv danach streben, die Dinge schlimmer zu machen, wie viel besser könnte alles laufen? (...) Menschen arbeiten gegeneinander aufgrund von Bitterkeit, Ressentiments, unverarbeiteten Erinnerungen, Hass aus der Kindheit, ungeprüften Annahmen und vielem mehr. Es stellt sich die Frage, ob wir das beiseite schieben und uns richtig ausrichten können.

Dann kommt natürlich noch hinzu, was im Alten Testament sehr stark betont wird und den gesamten biblischen Korpus durchzieht, dass es nicht nur ausreicht, eine positive Beziehung zum Sein aufzubauen. Obwohl ich letzteres für das Wesentliche halte. Es ist eine gute Beschreibung des Glaubens. Man muss diese Entscheidung treffen, weil das Sein sehr ambivalent ist, und man kann argumentieren, dass es vielleicht etwas ist, das nie hätte passieren sollen, aber das scheint mir nicht produktiv zu sein. Glaube scheint zu besagen: „Ich werde mich so verhalten, als ob das Sein letztendlich gerechtfertigt wäre, und dass, wenn ich richtig daran teilhabe, ich es verbessern werde, anstatt es zu verschlimmern.” Ich denke, das ist letztendlich das Glaubensbekenntnis.

Was aber laut Bibel weiterhin damit einhergeht, ist so etwas wie Wahrheit in Idee und Tat. Selbst Figuren wie Jakob, die zu Beginn moralisch ziemlich ambivalent dargestellt werden, werden von dem, was sie durchmachen, vollkommen durchgeschüttelt. Sie scheinen zu einer Art ethischen Umformung getrieben zu werden. In der Mitte ihrer Lebensreise sind sie dann von Menschen umgeben, die fest verankert sind, denen man vertrauen kann und die weder das Sein noch sich selbst oder ihre Mitmenschen verraten. Es erscheint mir vernünftig, davon auszugehen, dass man zunächst eine Beziehung zu etwas Transzendentem aufbauen muss. Das könnte sogar nur die zukünftige Version von einem selbst sein. Und dann, zweitens, dass man sich wahrheitsgemäß an der Realität orientieren sollte.

Die biblischen Geschichten sind, was das angeht, eigentlich ganz realistisch. Denn sie besagen nicht wirklich, dass man, wenn man dieses oder jenes tut, sofort in das gelobte Land gelangt. Selbst Moses schafft es nie in das gelobte Land. Es geht natürlich nicht darum, dass einem die sofortige Erlösung angeboten wird, wenn man sich rechtschaffen auf der Welt bewegt, etwa eine vertrauensvolle Partnerschaft eingeht, und sich auf diese Weise in Integrität übt. Aber solche Schritte sind das beste, was man tun kann und vielleicht sind sie gut genug. Und selbst wenn sie nicht gut genug sind, sind sie immer noch der Alternative vorzuziehen, welche wohl auf persönlicher und sozialer Ebene der Hölle sehr ähnlich ist.

 

Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus einem Vortrag von Jordan B. Peterson. Hier geht's zum Auszug und hier zum gesamten Vortrag.

Foto: jordanbpeterson.com

Achgut.com ist auch für Sie unerlässlich?
Spenden Sie Ihre Wertschätzung hier!

Hier via Paypal spenden Hier via Direktüberweisung spenden
Leserpost

netiquette:

Rolf Menzen / 27.11.2019

Religionen sind ursprünglich entstanden, um das Leben der Menschen in dichter bevölkerten Gegenden zu organisieren. Nicht umsonst waren die ersten Könige Priesterkönige. Also gehören sie zum Komplex der Ideologien.

Juliane Mertz / 27.11.2019

An Gott glauben, weil es nützlich ist? Das ist das ganze Gegenteil von Glauben.

Thomas Taterka / 27.11.2019

Im Kern ist der Protestantismus ein auf Belohnung spekulierendes Zweckbündnis. Ein Pilger an der Quelle des Ganges oder ein Angler am Bulkley River ist mir lieber, vielleicht sogar ein Mönch in Kyoto. Ich suche noch. Irgendwo da draußen ist Gott zu Hause. Ist mein ” Gefühl “. Die Rückkehr in die Enge ist das Schlimmste. Ein klaustrophobischer Schock zivilisatorischer Ermüdung , eine Fahrt mit der U-Bahn und man möchte am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang wieder weg sein. Eine hoffnungslos verrannte späte Kultur. Ohne jede Rettung. Koyaanisqatsi !

Zdenek Wagner / 27.11.2019

Wir alle brauchen dringend moralische Instanzen, die uns - naturgemäß - überlegen sein müssen, höher gestellt und somit auf ewig unerreichbar, aber dennoch in unserer Gedankenwelt stets gegenwärtig und mahnend. Sei es nun Gott, der lediglich ein anderes Wort fürs Gewissen zu sein scheint, oder ein fest verankerter Glaube an die Gerechtigkeit, resultierend aus der Beobachtung unserer Mitgeschöpfe. Und eines steht doch fest: würde sich jeder von uns an die 10 Gebote und die christlichen Werte halten, wäre die Welt in der Tat ein Paradies. Es wäre sooo einfach, wenn es nicht so schwer wäre ... Wem nutzt es da etwas, den Menschen ihren Glauben madig zu machen und sie ins Lächerliche zu ziehen? Was bliebe dann übrig in den Köpfen der Mehrheit? Kein Gott? Keine Moral in der Natur? Catch as can? OK, na dann nehme ich mir jetzt was ich will. Natürlich ist ein tiefer Glauben nicht per se die Garantie für ein friedfertiges Leben, Atheismus aber auch nicht. Und man komme mir nicht mit der Inquisition, oder den Conquistadores. Deren Handlungen und Grausamkeit fussten auf Gier und war Lichtjahre vom christlichen Gedanken entfernt! Anders verhält es sich da beim Islam, denn da wird explizit zum Mord an Andersgläubigen aufgerufen. Kurioserweise erfährt gerade der Islam seitens der Atheisten den allergrößten Schutz ...

Gerd Quallo / 27.11.2019

Traurig, dass sogar anscheinend intelligente Leute die Vorstellung von einem Schöpferwesen brauchen, das sich sein persönliches Kasperletheater erschaffen hat.

Werner Arning / 27.11.2019

Es geht wohl um Werden. Dieses drückt sich auch in den biblischen Geschichten aus. Um Entwicklung, Wachsen. Um Annahme. Gnade. Um göttliche Unterstützung. Selbsterkenntnis. Wahrheitssuche. Unvoreingenommenheit. Besiegen der Angst. Vertrauen. Nutzen der Angst. Sich erschüttern lassen. Wagen. Was ist Gottes Wille? Das kann ich nur für mich persönlich erfahren. Kein Weg ist mit dem Anderen identisch. Zulassen.

Karla Kuhn / 27.11.2019

. “Denn was ist der Mensch ohne Ideale?2 WELCHE Ideale ? Die der Kirche ? Die der Politik? Der Glaube und die Kirche sind für mich zweierlei Schuhe, wenn es einen Gott gibt, dann war er weit VOR der Kirche da, sie hat sich ihn nur zunutze gemacht. Um zu Glauben brauche ich keine Kirche. Was sind IDEALE eigentlich ? Ein streben nach höchster Vollkommenheit?  WER an so etwas glaubt, ist für mich kein Idealist, sondern höflich ausgedrückt NAIV !!  “Auch unsere Forschung zeigt ziemlich deutlich, dass es lohnenswert ist, Menschen dazuzubringen, ein ausgewogenes Ideal für sich zu konzipieren. Was wünschen wir uns für unsere Familie? Was wünschen wir uns für unsere Karriere? Was wünschen wir uns für unsere Bildung? Was wünschen wir uns für unsere Charakterentwicklung? Wie wollen wir unsere Freizeit nutzen? Wie gehen wir mit unserem Alkohol- und Drogenkonsum um? Wie können wir vermeiden, in ein Loch zu fallen?”  IN DEM wir uns BODENHAFTUNG bewahren und keinen hochfliegenden Idealen hinterherlaufen, die Illusion sind.  Maß halten, in allem, ist für mich erstrebenswerter als ein STREBEN nach HÖCHSTER VOLLKOMMENHEIT. Ein ausgewogenes Ideal gibt es für mich nicht, das ist wie ein liberaler Islam, den es nach dem Koran gar nicht gegen darf.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Jordan B. Peterson, Gastautor / 11.12.2024 / 11:00 / 5

112-Peterson: Ordnung und Chaos

Ihr Gehirn kann Ihnen sagen, wann Sie optimal zwischen Chaos und Ordnung positioniert sind, indem es ein Gefühl von Engagement und Sinn erzeugt. Ich würde…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 04.12.2024 / 11:00 / 7

112-Peterson: Verlieben Sie sich nicht in ein Trugbild

Wer seinen Traumpartner sucht, gerät leicht auf den Irrweg, seine Phantasien und Hoffnungen auf irgendeinen realen Menschen zu projizieren. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Stellen Sie…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 27.11.2024 / 11:00 / 18

112-Peterson: Warum tragen Menschen Kleidung?

Welchen Zweck erfüllt die Kleidung und was hat sie mit Adam und Eva zu tun? „Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau,…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 16.10.2024 / 11:00 / 4

112-Peterson: Störung in der sozialen Kommunikation?

Wie kann man Spannungen in Gesprächen begrenzen und die Ursachen für diese erkennen? Es gibt ein Muster depressiver Selbstwahrnehmung, das man sich als Zusammenbruch einer…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 09.10.2024 / 11:00 / 9

112-Peterson: Der richtige Lebensraum des Menschen

Der Mensch sollte die Erde als einen Garten betrachten, den er pflegen, aber nicht ausbeuten sollte. Das Ausmaß an menschlicher Motivation, Anderen zu helfen, Leiden…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 02.10.2024 / 10:00 / 5

112-Peterson: Woher wissen Sie, ob es nach Ihrem Willen läuft?

Seien Sie im Gespräch bedacht und versuchen Sie nicht die Wahrheit zu verdrehen. Eine Lüge könnte Ihnen möglicherweise schaden. Es gibt eine wichtige Regel: Streben…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 25.09.2024 / 11:00 / 14

112-Peterson: Welche Erzählung vereint uns?

Die Voraussetzung für eine Zivilgesellschaft, ist dasselbe Narrativ, dem alle folgen. Wenn man sich einen Film ansieht, erkennt man mit der Zeit das Ziel des…/ mehr

Jordan B. Peterson, Gastautor / 18.09.2024 / 11:00 / 4

112-Peterson: Der Freud’sche Albtraum

Nach dem Säuglingsalter muss die Mutter lernen, ihr Kind schrittweise in die Selbstständigkeit zu entlassen, damit es zu einem eigenständigen Menschen heranwachsen kann. Man kann…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com