Peter Pan ist ein magischer Junge. „Pan“ bedeutet, grob gesagt, „der Gott von Allem“. Es ist also kein Zufall, dass er den Namen „Pan“ trägt. Seine Geschichte geht ungefähr so: Peter Pan ist der Junge, der nicht erwachsen wird. Er ist magisch, weil Kinder im Allgemeinen magisch sind. Sie können Alles sein. Sie sind nichts als Potenzial.
Peter Pan möchte das nicht verlieren. Warum? Nun, Peter hat ein paar Erwachsene um sich herum, aber die entscheidende Figur ist Captain Hook. Wer zur Hölle möchte erwachsen werden, um wie Captain Hook zu sein? Erstens hast Du einen Haken als Hand, zweitens bist Du ein Tyrann und drittens wirst Du vom Chaosdrachen verfolgt, der die tickende Uhr im Magen trägt. Das Krokodil hat schon ein Stück von Dir. Das passiert nun einmal, wenn man älter wird: Die Zeit hat bereits ein Stück von Dir und letztendlich wird sie Geschmack an Dir finden und Dich komplett verzehren.
Captain Hook ist durch diese Vorstellung so traumatisiert, dass er gar nicht anders kann, als ein Tyrann zu werden. Peter Pan sieht sich diesen traumatisierten Captain an und denkt sich: „Dafür werde ich ganz sicher nicht meine Kindheit aufgeben.“ Eigentlich völlig okay. Das Problem liegt darin, dass Peter Pans Haltung ihn schließlich dazu führt, König der verlorenen Jungs zu werden. Wer will schon wirklich König der verlorenen Jungs werden – in Nimmerland, das nicht einmal existiert!
Außerdem opfert Peter die Chance, jemals eine Beziehung mit einer echten Frau zu haben – konkret mit Wendy. Sie ist gewissermaßen konservativ: Ein bürgerliches, an London gebundenes Mädchen, das älter werden will, um Kinder zu kriegen und ein normales Leben zu führen. Wendy akzeptiert ihre Sterblichkeit und ihre Reife. Peter Pan muss sich mit der Fee Tinker Bell zufrieden geben, die – wie alles in Nimmerland – nicht echt ist. Wenn man so will, ist Tinker Bell wie ein Porno. Sie existiert nicht, sie ist nur ein Ersatz für die reale Welt.
Erwachsene, die im Grunde Kinder bleiben möchten
Es handelt sich hier um einen schwierigen Zwiespalt, weil das Erwachsenwerden immer auch gewisse Opfer mit sich bringt. Man muss die unbegrenzten Möglichkeiten der Kindheit der Wirklichkeit eines Rahmens opfern. Warum würde man das tun? Nun ja, ein Grund ist, dass es ohnehin passiert, egal ob man es will oder nicht. Entweder Du wählst Deine Einschränkungen selbst, oder Sie überraschen Dich, wenn Du 30 bist. Oder noch schlimmer, wenn Du 40 bist. Und das wird kein glücklicher Tag sein.
Ich begegne regelmäßig solchen Erwachsenen, die im Grunde Kinder bleiben möchten. Ich denke, dass dieses Phänomen um sich greift, weil Menschen in unserer Kultur den Reifeprozess herauszögern können, ohne dass sie sofort irgendwelche Nachteile erfahren. Tatsächlich akkumulieren sich jedoch die negativen Konsequenzen, bis sie Dich irgendwann treffen und umhauen.
Wenn Du 25 bist, kannst Du ruhig ein Idiot sein, sogar wenn Du auf der Suche nach Arbeit bist. Die Leute werden sagen: „Naja, der hat keine Erfahrung, aber schon gut, der ist jung, das ist kein Problem. So sind junge Leute nun einmal, sie haben keine Ahnung aber sie haben unendliches Potenzial.“ Wenn Du mit 30 Jahren immer noch so unbedarft bist, werden die Leute nicht mehr so begeistert von Dir sein. Dann hörst Du: „Was zur Hölle haben Sie die letzten 10 Jahre gemacht?“ Ein 30-Jähriger, der genauso ahnungslos wie ein 22-Jähriger ist, ist ein altes Kind. Und das ist eine abstoßende Sache.
Ein Grund, weshalb sich Menschen bewusst für bestimmte Opfer entscheiden, ist also, dass Opfer prinzipiell unvermeidbar sind. Sie sind ein unumgänglicher Teil des Erwachsenwerdens. Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt, der in gewisser Hinsicht noch komplexer ist: Kinder haben das Problem, dass sie nur aus Potenzial bestehen, sie sind völlig unbestimmt. Als Kind könntest Du wirklich Alles sein, aber Du bist nichts davon. Dann entscheidest Du Dich für irgendeinen Ausbildungsweg und das macht Dich zu Etwas, und dieses Etwas zu sein erweitert erneut Deine Handlungsmöglichkeiten.
Mehr Macht den Klempnern!
Wenn Du beispielsweise ein wirklich guter Klempner bist, dann bist Du viel mehr als nur ein Klempner. Letztlich entwickelst Du Dich auch zu einem guten Arbeitgeber. Das soll jetzt nichts gegen Klempner sein, im Gegenteil, mehr Macht den Klempnern! Die moderne Hygiene hat mehr Leben gerettet als die Medizin. Also, wenn Du ein wirklich guter Klempner bist, dann hast Du ein paar Angestellte. Du führst ein Geschäft, Du leitest ein paar andere Leute an, Du erweiterst deren Horizont, Du wirst zu einer Säule der Gesellschaft.
Sobald Du die Engstelle der Ausbildungszeit hinter Dich gebracht hat, die Dich einzwängt und einschränkt, kannst Du Dich auf der anderen Seite frei entfalten. Es ergeben sich eine Reihe neuer Möglichkeiten. Carl Jung hat darüber geschrieben. Er war der Ansicht, dass man in der zweiten Lebenshälfte jenes innere Kind wiederentdecken sollte, das man im Ausbildungsprozess zurückgelassen hat. Denn als Erwachsener kann man Etwas sein, aber gleichzeitig das Potenzial der Kindheit zurückgewinnen.
Kurzum: Wer erwachsen wird, kann sich aussuchen, was er opfert. Als Heranwachsender und junger Erwachsener hat man eine Wahl, das ist aber auch alles. Gar nichts zu opfern geht nicht, man muss etwas vom unbegrenzten Potenzial der Kindheit opfern, ob man will oder nicht. Es ist gut, das zu wissen, selbst wenn diese Erkenntnis zunächst verstörend ist.
Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus dem Vortrag „Maps of Meaning 6: Story and Metastory (Part 2)“. Hier geht’s zum Original-Vortrag auf dem YouTube-Kanal von Jordan B. Peterson