Kinder werden heute langsamer erwachsen. Jordan B. Peterson bespricht mit der amerikanischen Psychologin Dr. Jean Twenge die Gründe und Auswirkungen dieses verspäteten Reifeprozesses.
Jean Twenge: Die Kindheit dauert heutzutage länger. Kinder sind weniger unabhängig und wenn sie Teenager werden, lassen sie sich weniger auf die Dinge ein, die typisch für Erwachsene und eben nicht typisch für Kinder sind. Das ganze ist Teil einer größeren kulturellen Geschichte, die Evolutionspsychologen K-Selektionsstrategie nennen (die langsame Fortpflanzungsstrategie über wenige, lange zu betreuende Nachkommen mit einer höheren Überlebenschance, Anm. d. Red.)
Das heißt, in Zeiten, in denen die Menschen länger leben, die Gesundheitsversorgung besser ist und sich die Ausbildung langwieriger gestaltet, entscheiden sich Eltern tendenziell für weniger Kinder und die sorgfältigere Aufzucht des einzelnen Kindes. Und damit ist ziemlich gut beschrieben, wie wir heutzutage Kinder erziehen. Angefangen damit, dass Kinder seltener selbstständig zur Schule gehen, bis dahin, dass sie als Teenager unwilliger den Führerschein machen, ausgehen, Dates haben oder jobben. Und als junge Erwachsene brauchen sie länger, um in der Arbeitswelt Fuß zu fassen, zu heiraten und Kinder zu bekommen.
Aber selbst in höheren Altersklassen lässt sich diese Verzögerung feststellen. 50 ist das neue 40, die Menschen bleiben länger gesund. Der ganze Fluss des Lebens ist also verzögert. Bei der Generation Z (1995 bis 2010 Geborene, Anm. d. Red.) ist das oben Beschriebene sehr ausgeprägt, was zur Folge hat, dass zum Beispiel die Teenagerjahre dieser Generation sich sehr von denen der Generation X (1965 bis 1980 Geborene, Anm. d. Red.) unterscheiden. Diese Elterngeneration erinnert sich daran, mit dem Auto unterwegs gewesen, in Schwierigkeiten geraten zu sein und Alkohol getrunken zu haben. Ihre Kinder tun das kaum noch.
Jordan B. Peterson: Sehen Sie diese Verlängerung der Kindheit positiv, weil die Menschen länger leben? Der Zyniker beziehungsweise der Freudianer in mir betrachtet die unangebrachte Verlängerung der Kindheit ins Erwachsenenleben als Folge von Überbehütung. Ich frage mich – da Sie von Verbesserung der Gesundheitsfürsorge, technischer Transformation und längerer Lebenszeit sprachen – zu welchem Grad dies auch ein Resultat davon ist, dass die Menschen heute älter sind, wenn sie Kinder kriegen, weniger Kinder haben und wohlhabender sind?
Alles Dinge, die sie einerseits konservativer machen, aber in anderer Hinsicht übervorsichtig im Umgang mit ihren Kindern. Vor allem der Aspekt, dass Eltern heute älter sind und Kinder weniger Geschwister haben, scheint mir an Ihre Arbeit über Narzissmus anzuknüpfen (ein Forschungsschwerpunkt von Jean Twenge, Anm. d. Red.). Denn ich glaube, dass Geschwister sich gegenseitig den Narzissmus austreiben. Wenn man aber keine hat und noch dazu die Eltern lange auf ein Kind gewartet haben ...
Jean Twenge: Es liegt definitiv daran, dass die Leute heute später Kinder kriegen, weniger Kinder kriegen und wohlhabender sind. Die oben beschriebene langsame Fortpflanzungstrategie findet statt, wenn mehr Sicherheit besteht. Von einer evolutionären Perspektive aus gesprochen: Je weniger Kinder, desto besser können Eltern das einzelne schützen. Je mehr Kinder man hat, desto weniger kann man sich um das einzelne kümmern. Meine Mutter wuchs mit sieben Geschwistern auf einem Molkereibetrieb in Minnesota auf. Natürlich hätten ihre Eltern niemals eine Molkerei betreiben und gleichzeitig hinter allen acht Kindern her sein können. Also lernten sie schnell, unabhängig zu sein. Aber das war in den 40ern und 50ern der damalige Standard, selbst bei Familien mit weniger Kindern. Kinder gingen zum Spielen und mussten zum Abendessen zu Hause sein, das war's. Man ließ sie tun, was sie wollten. Heute ist das anders.
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Kaum Erfahrung mit Unabhängigkeit
Jordan B. Peterson: Wie bewerten Sie diese Entwicklung als Psychologin? Ist das für sie eine normale Veränderung im Elternverhalten als Folge einer technologischen Umwandlung oder sehen Sie darin etwas, das dauerhaft den Reifeprozess der Menschen beeinträchtigt?
Jean Twenge: Beides stimmt. Natürlich sind die Gründe für diese Entwicklung in technologischer Entwicklung verankert – ein besseres Gesundheitswesen, eine länger dauernde Ausbildung aufgrund einer komplexeren Gesellschaft und mehr verfügbarem Wissen. Es ist eine Anpassung an eine bestimmte Epoche. Langsame und schnelle Fortpflanzungstrategien haben jeweils ihre Vor- und Nachteile. Die Vorteile der heutigen Zeit sind, dass die Kinder weniger frühreif sind; viele Eltern begrüßen es, dass Jugendliche heute nicht so schnell Sex haben oder Alkohol trinken.
Aber natürlich gibt es Nachteile. Wir haben eine Generation, die erwachsen wird, ohne besonders viel Erfahrung mit Unabhängigkeit zu haben. Es fällt ihnen oft schwer, eigene Entscheidungen zu treffen. An der Universität erlebe ich, dass es immer mehr junge Leute gibt, die nicht einmal die einfachsten Entscheidungen treffen können, ohne ihren Eltern vorher eine Nachricht zu schreiben. Um aber auch mal die Perspektive dieser jungen Leute einzunehmen: Das ist logisch. Sie haben nicht darum gebeten, so aufzuwachsen, sie sind nun einmal in diese Kultur hineingewachsen. Und mit diesem Hintergrund, keine Erfahrung beim Treffen eigener Entscheidungen zu haben, kommen sie an die Uni und es ist sehr schwer für sie, sich anzupassen. Das wäre also der Punkt, den ich an der heutigen Erziehung kritisieren würde.
Ich würde allerdings zögern, in diesem Zusammenhang den Begriff der Reife zu verwenden. Ist es ein Zeichen von Reife oder Unreife, mit 17 Jahren Alkohol zu trinken? Wahrscheinlich keines von beidem. Also sollte man einfach festhalten, dass es um eine langsamere Entwicklung geht. Das ist weder zwangsläufig gut noch schlecht.
Jordan B. Peterson: Ich erinnere mich an Studien, die mir unterkamen, als ich mich vor ein paar Jahrzehnten mit dem Gebrauch von Alkohol beschäftigte. Es ging um Lebensresultate von Menschen im Verhältnis zu ihrer Neigung, als Teenager Regeln zu brechen. Die Ergebnisse besagten erwartungsgemäß, dass Jugendliche, die nie die Regeln brachen, eine höhere Wahrscheinlichkeite hatten, unselbstständig, depressiv und ängstlich zu werden. Und jene, die zu viele Regeln brachen, hatten eine Tendenz, antisozial und kriminell zu werden. Wie so oft gibt es hier eine goldene Mitte, ein bestimmtes Maß an Selbsterprobung, das genau richtig ist.
Die Frage wäre nun: Wenn die Veranlagung junger Leute, weniger Alkohol zu trinken – und natürlich ist Alkohol giftig und in jeglicher Hinsicht eine schlimme Droge – dazu führt, dass sie diesbezügliche Erfahrungen nach hinten verlagern, ist das aus neurologischer Sicht wahrscheinlich gesünder. Wenn es aber bedeutet, dass sie im Allgemeinen weniger Erfahrungen sammeln, stellt sich die Frage nach den Langzeitfolgen. Wenn es nur eine verspätete Reife ist, macht es unterm Strich keinen so großen Unterschied. Wenn es sich jedoch um einen dauerhaften Verzicht auf Reife handelt, ist das eine ganz andere Geschichte.
Und da Sie das Chatten mit Eltern bei der Entscheidungsfindung ansprachen: Vor der Erfindung des Handys lernten Menschen, alleine Entscheidungen zu treffen, weil sie einfach keine andere Wahl hatten. Wenn man nicht bei seinen Eltern war, dann war man unterwegs und konnte sie nicht schnell anrufen, es sei denn, man hätte ein Münztelefon benutzt. Man war einfach auf sich allein gestellt.
Doch nun sind wir die ganze Zeit über unsere elektronische Fußfessel miteinander verbunden, wie sollten Kinder unter solchen Umständen denn eigene Entscheidungen treffen – vor allem, wenn die Eltern überängstlich sind. Vorher hatte man einfach keine Wahl, doch die heutige Entwicklung ist ein echtes Problem.
Jean Twenge: Das stimmt (...) Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Sozialisierung von Teenagern immer mehr online stattfindet. Und wenn man sich nun überlegt, was alles zum Erwachsenwerden gehört, dann finden die meisten Dinge, die einem einfallen, außerhalb der eigenen vier Wände statt – mit Freunden treffen und irgendwo hinfahren. Und das geschieht heute auch nicht mehr so häufig, weil die Party bei Snapchat oder Instagram steigt.
Dies ist ein Auszug aus einem Gespräch von Jordan B. Peterson mit der amerikanischen Psychologin, Forscherin und Autorin Dr. Jean Twenge. Hier geht's zum Auszug.
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