Die Bundesregierung hat ihren zweiten „Transformationsbericht“ vorgelegt, der als Grundlage für die Weiterentwicklung der „Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie“ dienen soll. Das Werk trägt den Titel „Menschliches Wohlbefinden und Fähigkeit, soziale Gerechtigkeit“. Lesen Sie dessen irre Enstehungsgeschichte und was der ehemalige Kanzlerinnen-Berater Hans Joachim Schellnhuber damit zu tun hat.
Um die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu erreichen, gebe es in den Bereichen Gesundheit, Bildung und soziale Gerechtigkeit noch einiges zu tun, heißt es seitens der Regierung. Was das im Einzelnen bedeutet, wird in dem 45 Seiten umfassenden Bericht nun ausgeführt. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie ist laut dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) ein „ganzheitlicher, integrativer Ansatz“, der die „drei Nachhaltigkeitsdimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales“ betrifft und „auf eine wirtschaftlich leistungsfähige, sozial ausgewogene und ökologisch verträgliche Entwicklung“ zielt, wobei „die planetaren Grenzen unserer Erde zusammen mit der Orientierung an einem Leben in Würde für alle die absoluten Leitplanken für politische Entscheidungen bilden“. Durch ein entsprechendes Maßnahmenprogramm soll beispielsweise konkret „eine klimaneutrale Verwaltung“ bis zum Jahr 2030 erreicht werden.
Tatsächlich bedeutet die Nachhaltigkeitsstrategie nichts anderes als das Bekenntnis zur umfassenden Umsetzung der siebzehn von den Vereinten Nationen im Jahr 2015 beschlossenen globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, kurz: SDG) im Rahmen der sogenannten Agenda 2030, deren vollständiger Titel „Transformation unserer Welt: Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ lautet. Spätestens seit 2015 geistert also der Begriff der „Transformation“ durch die Sphären der globalen Politik und wurde etwa von Angela Merkel im Januar 2020 aufgegriffen, als sie in Davos von „Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß“ sprach.
Es lohnt sich, diese Rede, die auf der offiziellen Webseite der Bundesregierung dokumentiert ist, noch einmal in vollem Wortlaut zu lesen. Weiter sagte Merkel beispielsweise darin:
„Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen, die natürlich auch wieder eine industrielle Produktion enthalten und die vor allem durch die Digitalisierung verändert worden sind. Wir haben ja eine zweite Riesentransformation zu bewältigen. Und wir hoffen, dass sich die Transformation zur CO2-Emissionsfreiheit mit der Digitalisierung verstärken wird und die Digitalisierung das erleichtern kann.“
Außerdem merkte sie an, dass „78 Prozent unseres Energieverbrauchs in das Heizen, in die Mobilität oder in die industrielle Produktion gehen.“ Sie kündigte zudem „dramatische Veränderungen“ an, für die „staatliche Rahmenvoraussetzungen“ geschaffen werden müssten, und sie stellte die Frage: „Wie versöhnt man diejenigen, die an den Klimawandel einfach nicht glauben wollen und die so tun, als wäre das eine Glaubensfrage?“
„Die globale Krise der Moderne überwinden“
Im Grunde formulierte Merkel in dieser Rede einzig und allein den in der Agenda 2030 vereinbarten globalen wirtschaftlichen Umbau und signalisierte die Bereitschaft Deutschlands, dabei mit gutem Beispiel voran zu gehen. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass schon 2011 der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) ein Gutachten erstellt hatte mit dem Titel „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“. Darin begründet er nach eigenen Angaben „die dringende Notwendigkeit einer post-fossilen Wirtschaftsweise, zeigt zugleich die Machbarkeit der Wende zur Nachhaltigkeit auf und präsentiert zehn konkrete Maßnahmenbündel zur Beschleunigung des erforderlichen Umbaus“.
Der WBGU wurde bereits vor gut 30 Jahren, nämlich 1992 im Zuge der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro unter der gemeinsamen Federführung des Bundesumwelt- und des Bundesforschungsministeriums als Beratungsgremium eingerichtet. Die neun Mitgliedern werden von den entsprechenden Bundesministern jeweils für vier Jahre berufen. Die Aufgabe des WBGU ist es, „die globalen Umweltveränderungen und ihre Folgen zu begutachten und Vorschläge zu deren Bewältigung in ihrem ökologischen, sozialen und ökonomischen Kontext zu unterbreiten“. Der Beirat soll damit „zur Urteilsbildung der verantwortlichen Instanzen und der Öffentlichkeit beitragen“.
Federführend bei besagtem Gutachten war Hans Joachim Schellnhuber, der 1991 Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) war, unter anderem eine Gastprofessor an der Tsinghua-Universität in China innehatte und ab Dezember 2023 als Generaldirektor des International Institute for Applied System Analysis nach Laxenburg (Österreich) wechseln wird. Die Kernaussage des Gutachtens wird in einer Übersicht wie folgt zusammengefasst:
„Damit die Transformation gelingen kann, muss ein Gesellschaftsvertrag zur Innovation durch einen neuartigen Diskurs zwischen Regierungen und Bürgern innerhalb und außerhalb der Grenzen des Nationalstaats geschlossen werden. Nur mit einem tiefen gemeinsamen Verständnis von klimaverträglicher Wertschöpfung und nachhaltiger Entwicklung lässt sich die globale Krise der Moderne überwinden. Mit dem Gutachten zeigt der WBGU Perspektiven für die Zukunft nachhaltigen Wirtschaftens auf, die nach dem atomaren Desaster von Fukushima erst Recht auf der Agenda der nationalen und internationalen Politik stehen müssen.“
18.500 Menschen starben im März 2011 durch das Seebeben und den Tsunami in Japan. Doch laut WBGU-Gutachten soll das Unglück offenbar vor allem als „atomares Desaster“ ins kollektive Gedächtnis eingehen.
„Allianz für Transformation“
In dem 448-seitigen Gutachten taucht der Begriff „Transformation“ sage und schreibe 1.089-mal auf und die Wortverbindung „Große Transformation“ immerhin 71 mal. Wohlgemerkt im Jahr 2011! Übrigens ist Schellnhuber in letzter Zeit vor allem dadurch aufgefallen, dass er persönlich Inlandsflüge, die er generell am liebsten verbieten möchte, durchaus zu schätzen weiß. Mindestens seit 2011 wird also der Begriff der Transformation den bundesdeutschen Politiken schmackhaft gemacht. So wundert es wenig, dass Kanzler Scholz im vergangenen Jahr den Startschuss für eine „Allianz für Transformation“ gegeben hat, die dem „Austausch über verlässliche Rahmenbedingungen für den Transformationsprozess Deutschlands“ dienen soll.
Vor der diesjährigen Sommerpause folgte der „Transformationsbericht zu Internationaler Verantwortung und Zusammenarbeit“ der Bundesregierung. Und nun also der aktuelle Transformationsbericht „Menschliches Wohlbefinden und Fähigkeit, soziale Gerechtigkeit“. Der erste Satz der „Zusammenfassenden Empfehlungen“, die dem Bericht vorangestellt sind, klingt so: „Der Transformationsbereich 'Menschliches Wohlbefinden und Fähigkeiten, soziale Gerechtigkeit' stellt die soziale Dimension der Nachhaltigkeit und ihre Bedeutung für die Transformation zur Nachhaltigkeit in den Fokus.“
Weiter wird betont: „Damit die Transformation zur Nachhaltigkeit gelingt, gilt es, die Rahmenbedingungen zu schaffen, um das Individuum selbst zu unterstützen und zu befähigen, mit den Herausforderungen der Nachhaltigkeitstransformation umzugehen und diese für sich zu gestalten, geeignete Strukturen und Institutionen weiterzuentwickeln und aufzubauen, sowie die gesamtgesellschaftlichen Kapazitäten zu stärken. Denn die Transformation muss aktiv und selbstbestimmt von allen Menschen mitgestaltet werden.“
Daher plane die Bundesregierung, dass die ressortübergreifende Zusammenarbeit auf Bundesebene vertieft werden soll. Außerdem soll „zur Förderung einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik“ eine „ressortübergreifende Arbeitsgruppe Vorschläge für die Stärkung des 'Health in All Policies'-Ansatzes auf Bundesebene“ erarbeiten. Mit „Health in All Policies“ (kurz: HiAP) ist gemeint, dass das Thema Gesundheit in allen Politikfeldern verankert werden soll. Es handelt sich um eine von der WHO verfolgte Strategie, die eine ressort- sowie politikfeldübergreifende Zusammenarbeit im Sinne der Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verfolgt. In Hinblick auf den Pandemievertrag und die Internationalen Gesundheitsvorschriften, die zur Zeit von der WHO erarbeitet werden, wirkt dieser Ansatz auf Bundesebene nicht unbedingt vertraueneinflößend.
„Pandemien wie COVID-19“
Darüber hinaus sollen „nachhaltige Angebote der Aus-, Fort- und Weiterbildung“ ausgebaut werden, „damit alle Menschen über die notwendigen Fähigkeiten zur Gestaltung der Transformation zur Nachhaltigkeit verfügen“. Wörtlich heißt es: „Um eine 'Kultur der Nachhaltigkeit' mit breitem gesellschaftlichen Rückhalt zu verwirklichen, wird eine zielgruppenspezifische Nachhaltigkeitskommunikation angestrebt.“ Auf globaler Ebene sollen internationale Foren und Formen der Zusammenarbeit oder des „Peer Learning“ verstärkt genutzt werden.
Um „die globale Gesundheit zu fördern“, soll der „One Health-Ansatz“ im Rahmen der „Strategie der Bundesregierung zur globalen Gesundheit“ einen größeren Stellenwert erhalten. Das ressortübergreifende „informelle Netzwerk One Health“ soll prüfen, welche Maßnahmen geeignet sind, um die „Umsetzung des One Health-Ansatzes deutlich voranzubringen“. Auch an diesem globalen „One-Health-Aktionsplan“ ist die WHO beteiligt: Zusammen mit der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der Weltorganisation für Tiergesundheit (WOAH, gegründet als OIE) will die WHO durch einen Fünfjahresplan (2022 bis 2026) Gesundheitsbedrohungen besser vorbeugen. Dabei geht es etwa um die „Abwehrkräfte der Welt“ gegen „Pandemien wie COVID-19“.
So wird auch im Bericht der Bundesregierunge hervorgehoben:
„Menschliches Wohlbefinden hängt wesentlich mit der persönlichen Gesundheit zusammen, die ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an Bildung sowie am Wirtschafts- und Gesellschaftsleben unterstützt (SDG 3: Gesundheit und Wohlergehen). Gesundheit ist somit ein wichtiger Schlüssel für eine nachhaltige Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft. Die Erfahrungen der COVID-19-Pandemie verdeutlichen die besondere Relevanz von Gesundheit für alle Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Wesentlich für das Erreichen des SDG 3 sind nachhaltige und leistungsstarke Gesundheitssysteme und der breite Zugang zur allgemeinen Gesundheitsversorgung sowie zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdienstleistungen.“
„Strategie gegen Einsamkeit“
Neben dem Thema Gesundheit stehen die Bereiche Aus- und Weiterbildung sowie „Teilhabe für alle“ im Mittelpunkt des Transformationsberichts. Dazu wird beispielsweise angemerkt: „Um die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Innovationspotentiale der Transformation zur Nachhaltigkeit zu heben, sind entsprechende Schlüsselkompetenzen sowie Bildungszugänge entlang der gesamten Bildungskette erforderlich.“ Selbst um „gesunde Ernährung und Bewegung“ machen sich die Autoren des Berichts Gedanken. Die Förderrichtlinie „Interventionsstudien für gesunde und nachhaltige Lebensbedingungen und Lebensweisen“ verfolgt beispielsweise das Ziel, eine „bis dato in Deutschland noch nicht vorhandene Evidenz für wirksame Maßnahmen zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation in Richtung gesundheitsförderlicher sowie ökologisch nachhaltiger Lebensbedingungen und Lebensweisen zu generieren“.
Ein weiteres Thema im Rahmen des Nachhaltigkeitsziel 4 der Agenda 2030 ist das lebenslange Lernen für alle. Mit dem „DigitalPakt Alter“ will der Bund die Technik- und Medienkompetenz und dadurch auch die „gesellschaftliche Teilhabe“ älterer Menschen stärken. In Zeiten von digitalen EU-Brieftaschen und elektronischer Patientenakte bekommt dieser Pakt tatsächlich eine besondere Bedeutung. Sogar eine „Strategie gegen Einsamkeit“ hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht. Auch auf das „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ (LkSG), das am 1. Januar 2023 in Kraft getreten ist, ist die Bundesregierung stolz und blendet problematische Aspekte offenbar aus. Damit all die großartigen Maßnahmen der Bundesregierung bei ihren von der Wiege bis zur Bahre betreuten Bürgern auch richtig ankommen, setzt sie auf eine „zielgruppenspezifische Nachhaltigkeitskommunikation“. So wird betont: „Ziel muss es sein, Informationen gut verständlich und ansprechend zu vermitteln, um möglichst viele Personen erreichen und einbeziehen zu können.“
Der Bericht zum Transformationsbereich „Menschliches Wohlbefinden und Fähigkeiten, soziale Gerechtigkeit“ wurde übrigens gemeinsam von dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung des Auswärtigen Amts (AA), des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), des Bundesministeriums der Justiz (BMJ), des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) erstellt und baut auf einer thematischen Aussprache des Staatssekretärsausschusses für nachhaltige Entwicklung vom 27. März 2023 auf. Am Entstehungsprozess beteiligt waren zudem der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE), die Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 (wpn 2030) und die im September 2022 wiederberufene Dialoggruppe des Staatssekretärsausschusses für nachhaltige Entwicklung. Darüber hinaus wurden das Positionspapier des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung (PBnE) sowie schriftliche Stellungnahmen des Rats für Nachhaltige Entwicklung (RNE) berücksichtigt.
Wer mit dem Transformationsbericht noch nicht genug bekommen hat, kann sich an inhaltlich vergleichbaren Publikationen des WBGU erfreuen: etwa am Gutachten „Gesund leben auf einer gesunden Erde“. Die Zusammenfassung liest sich vielversprechend:
„Die Vision 'Gesund leben auf einer gesunden Erde' stellt die Untrennbarkeit der Gesundheit von Mensch und Natur und damit ein erweitertes Gesundheitsverständnis ins Zentrum: Menschliche Gesundheit im umfassenden Sinne der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern einen Zustand des vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens beschreibt, ist auf eine 'gesunde' Erde mit funktionierenden, resilienten und leistungsfähigen Ökosystemen und einem stabilen Klima angewiesen.“
Und wer es etwas unterhaltsamer mag: Der WBGU bringt auch Comics heraus wie etwa zur „Großen Transformation“ und zum „Urbanen Planeten“. Diese können sogar kostenlos downgeloadet werden. Der erstgenannte Comic ist allerdings nur in englischer und griechischer Sprache abrufbar. Dafür begegnet einem darin Schellnhuber persönlich als Comicfigur.
Lesen Sie auch zum Thema: „Des Kaisers nachhaltige Kleider“ von Dirk Maxeiner.