Mit Daniel Vischer, dem verstorbenen Nationalrat der Grünen, habe ich mich immer gut verstanden. Ihn einen Freund zu nennen wäre überzogen, ich gäbe etwas vor, was nicht war, so oft haben wir uns nicht gesehen – wenn wir uns aber trafen, dann waren das gute, anregende, hitzige Gespräche. Vischer war im besten Sinne des Wortes ein liberaler Linker, was es streng genommen nicht gibt, ein Zweifler und Skeptiker und Gläubiger zugleich, der sich für andere Meinungen interessierte, auch wenn seine Vergangenheit eine dogmatische war. Er glaubte an die Revolution. Er verteidigte die Sowjetunion zu einer Zeit, als nur ähnlich dogmatische Linke sich das noch trauten.
Vor Jahren, als die Weltwoche Aussagen von Vischer zum Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei im Jahr 1968 zutage förderte, die zeigten, dass Vischer noch in den späten 1970-er Jahren diesen gewalttätigen Akt als richtig einstufte und das auch öffentlich sagte, fragte ich ihn, warum. Warum dieses schreiende Unrecht verteidigen? Vischer dachte lange nach, es war ihm sichtlich unwohl, und doch blieb er ehrlich. Sicher, so sinnierte er, hätte er sich früher von solchen Aussagen trennen sollen: "Gewiss war die Sowjetunion nicht so herausgekommen, wie wir uns das gewünscht hatten, aber wir dachten, wir müssten sie verteidigen, komme, was wolle, weil sie eben doch eine Bastion der Linken war. Wäre sie gefallen, hätte die Linke insgesamt Schaden genommen."
My country, right or wrong, sagen die Angelsachsen, wenn sie diese Art der blinden Loyalität zur eigenen Heimat beschreiben. Ganz gleich, ob mein Land richtig oder falsch liegt: Es ist mein Land, ich bin auf seiner Seite. Für Vischer und manche Generationen von Linken war das am Ende eben doch das Vaterland des Sozialismus, die Sowjetunion, dieses Land, das es nicht mehr gibt. Vor hundert Jahren, in diesen Tagen, war es entstanden. Gemäss modernem Kalender ergriffen am 7. November 1917 Lenin und die Bolschewiki die Macht in Petrograd, dem heutigen St. Petersburg. Was an sich bloss ein Putsch der extremsten Linken gegen die extremen Linken war, wurde hinterher zu etwas Höherem, Edlerem umgedeutet und ging als "Oktober-Revolution" in die Geschichte ein. Vom Oktober sprach man, weil im Zarenreich damals der alte julianische Kalender aus der Antike gültig war, und der 7. November als der 25. Oktober galt.
Ein Coup, auf den ein permanentes Massaker folgte
Lenins Putsch von 1917 bleibt eine der grössten Tragödien der Menschheitsgeschichte. Es war ein tollkühner, brutaler Coup, auf den das permanente Massaker folgte, das man als Kommunismus bezeichnete, und dank dem unzählige Linke, oft Söhne und Töchter aus bestem Hause wie Daniel Vischer, die alle Vorzüge des Kapitalismus kannten, sich eine gerechtere Welt erhofften. Doch selten haben Menschen anderen Menschen so viel Schlimmes, Grausames, Entsetzliches angetan, im Glauben, so das Los der Menschheit zu verbessern.
Wie viele Menschen die Kommunisten in der Sowjetunion, in China, Vietnam, Kambodscha, Nordkorea, Kuba, Osteuropa oder Afrika umgebracht haben, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Debatte nach wie vor. Unbestritten ist, dass es mindestens 65 Millionen waren, die starben, wahrscheinlich gingen gar 100 Millionen Menschen daran zugrunde. Die grössten Mörder hiessen Lenin, Stalin, Mao Zedong und Pol Pot, ihnen assistierten Abertausende kleiner Mörder.
Moralische Bedenken? Ein schlechtes Gewissen? Gott? Diese "bourgeoisen" Vorurteile waren von Beginn weg ausser Kraft gesetzt worden, das machte die Bolschewiki so tödlich: Lenin selber hatte 1920 in einer Rede vor dem Komsomol, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, festgehalten, dass jede Moral dem "Klassenkampf" unterzuordnen sei. Alles, mit anderen Worten, war gut, was die "alte ausbeuterische Gesellschaft" zerstörte, wenn es darum ging, den Sozialismus durchzusetzen. Die Sowjetunion war der erste Staat der Erde, der bewusst Gott abschaffte und deren Führung sich gleichzeitig für unfehlbar erklärte, wie der amerikanische Autor David Satter kürzlich im Wall Street Journal feststellte –, er hat zahlreiche Bücher über die Sowjetunion geschrieben.
Wenn auch das Zarenreich oder manche der damaligen Monarchien von demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren sich oft wenig behelligen liessen, alle anerkannten irgendwelche religiös fundierten Regeln, wahllos konnte kein Gesetz gebrochen werden, kein Herrscher setzte sich über Gott hinweg, was einen tief greifenden Unterschied zu den modernen, atheistischen, totalitären Diktaturen darstellte.
Weil sie die falschen Menschen waren...
Die Kommunisten führten ein, was die Nazis dann mit einer genauso tödlichen Meisterschaft vollendeten: Man tötete Menschen, nicht weil sie irgendetwas getan hätten oder einen bedrohten, sondern weil sie die falschen Menschen waren. Martyn Lazis, ein hoher Offizier der sowjetischen Geheimpolizei, schrieb 1918 in einer Anleitung für seine Ermittler: "Wir führen keinen Krieg gegen Individuen. Wir rotten die Bourgeoisie als Klasse aus ... Suchen Sie keine Beweise gegen jene, die angeklagt sind, in ihren Taten oder Worten gegen die Sowjetmacht vorgegangen zu sein. Die erste Frage, die Sie zu klären haben: Zu welcher Klasse gehört der Angeklagte? ... Das soll sein Schicksal entscheiden."
Schon wenige Monate nach der Revolution wurden in Russland Konzentrationslager eingerichtet, wo im Lauf der Jahrzehnte Millionen von Menschen umkamen. Die letzten schloss man 1991. Lazis selber wurde 1937 im Zug der stalinistischen "Säuberungen" erschossen. Man warf ihm vor, ein Konterrevolutionär zu sein. In den 1920er-Jahren hatte er, einer der brutalsten Geheimdienstler aller Zeiten, auch Gedichte und Theaterstücke veröffentlicht.
Die Abschaffung von Gott war das eine, der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit das andere. Von Anfang an waren die Kommunisten überzeugt, es besser zu wissen als alle anderen, wobei dieses "anderen" bald auch sehr viele andere Linke, ja selbst Kommunisten bedeuten konnte. Wer widersprach, starb. Überall lauerte die Konterrevolution. Wenn es je Regime gegeben hat, die auch nur den Anschein von Pluralismus für entbehrlich gehalten haben, dann waren das die Sowjetunion und ihre Nachahmer.
Kein Pluralismus hiess aber auch, dass nichts dem Zufall überlassen werden durfte, Institutionen, die sich der direkten Kontrolle durch die Partei entzogen, waren undenkbar. Deshalb gab es in einem kommunistischen Staat nie eine Gewaltentrennung, kein echtes Parlament, keine unabhängige Justiz, keine freie Presse, keine anderen echten Parteien, sondern nur die KP; und aus diesem Grund war vor allem der Markt, wo nicht steuerbare Kräfte wie Angebot und Nachfrage über den richtigen Preis entschieden, den Kommunisten unerträglich. Die Marktwirtschaft wurde beseitigt. Stattdessen bildeten sich die Kommunisten ein, Millionen von Preisen zentral und staatlich festlegen zu können.
Verhungern für den höheren Zweck
Dass die Sowjetmenschen gelegentlich verhungerten, weil die Versorgung mit Gütern so nie funktionierte: Man nahm es in Kauf, im Wissen, für einen höheren Zweck, für den Sozialismus tätig zu sein. In Stalins Sowjetunion brachen Hungersnöte aus, so vor allem 1932 und 1933 in der Ukraine, als rund zehn Millionen Menschen starben, ebenso kam es in Maos China zwischen 1959 und 1962 zu einer verheerenden Hungerkatastrophe, dabei gingen zwischen 15 und 30 Millionen Menschen zugrunde; wie immer sind die genauen Zahlen nicht mehr zu bestimmen. Bekannt sind indessen die Ursachen: In beiden Fällen war es eine Politik, die versuchte, eine Wirtschaft ohne Markt und Privateigentum zu betreiben.
Wenn es wichtig ist, sich dieser Katastrophen zu erinnern, die von Menschen verursacht wurden, die zwar die Menschheit, aber nicht die Menschen retten wollten, dann aus zwei Gründen: Erstens weiss niemand alles besser. Nichts ist gefährlicher als grossartige Pläne, sie mögen noch so edel wirken. Chaos, Anarchie, der Markt, das Plurale, die Demokratie, die Herrschaft vieler, der Zweifel: Es ist immer dem Genie eines Einzelnen oder einer einzelnen Partei vorzuziehen. Zweitens sollte niemand für andere Menschen entscheiden, wie sie zu leben haben. Manchmal begehen Menschen Fehler, gewiss, aber es ist immer leichter zu ertragen, unter den Folgen der eigenen Fehler zu leiden, als unter jenen, die andere für einen gemacht haben, weil sie besser zu wissen vermeinten, was uns guttut.
100 Jahre Kommunismus. 100 Millionen Tote. Die tödliche Versuchung. An sich, so meinen viele, bedeutet sie Geschichte, eine grauenvolle zwar, aber aus und vorbei. Warum aber gibt es nach wie vor so viele Sozialisten?
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung