Die erste Ausgestoßene der Woche ist Simone Schamann. Gegen die Textchefin des Nordkuriers läuft eine Kampagne: Die Journalistin wird immer wieder bei ihrem Arbeitsgeber „gemeldet“, auf Twitter fordern Nutzer, darunter viele Berufskollegen, ihre Entlassung. Man ist offenbar erzürnt von der Art, in der Schamann über die Querdenker-Bewegung und andere Gegner der Corona-Maßnahmen berichtet.
Der Chefredakteur des Nordkuriers, Jürgen Mladek, beschreibt in einer aktuellen Stellungnahme das angebliche Vergehen seiner Mitarbeiterin wie folgt: Schamann höre diesen Menschen zu und beschreibe deren Standpunkt. „Das würde man ihr vielleicht noch verzeihen. Sie berichtet dann aber auch noch (…) ohne den für viele Medien offenbar unverzichtbar gewordenen Haltungs-Disclaimer. Man findet kaum Beiträge über Kritiker der Regierungsmaßnahmen, die nicht tugendhaft signalisieren, dass die Maßnahmenkritiker für diese Journalierenden allesamt und selbstredend komplett verschwurbelte rechte Irre sind. Frau Schamann verstößt damit gegen einen in den entsprechenden Kreisen herrschenden Common Sense, der Zweifel an der jeweiligen Wirksamkeit und Angemessenheit der vielen Einschränkungen von Grundrechten für wahlweise lächerlich oder sogar – weil angeblich ‚rechts‘ – gefährlich hält.“
Diese Zeilen lassen erahnen, dass Jürgen Mladek kein großer Fan der Cancel Culture ist. Und tatsächlich haben wir es hier mit einem der seltenen Fälle zu tun, in denen das „Canceln“ ins Leere läuft, weil die Journalistin im Zentrum des Shitstorms (anders als etwa Helmut Mauró oder Mariam Lau) die uneingeschränkte Rückendeckung ihres Chefs hat.
„Wenn unserer Textchefin aber ausgerechnet von Kolleg*Innen (…) ihre berufliche Qualifikation abgesprochen wird und sie mit sexistischen Klischees als ahnungsloses Dummerchen abgekanzelt wird, ist das keine Einladung zum Diskurs mehr, sondern eine respektlose Absage an den Pluralismus und die offene Diskussion, die dafür unabdingbar ist“, führt der Chefredakteur in seinem Statement mit der Überschrift „Der Nordkurier erscheint weiter ohne Haltungs-Disclaimer“ weiter aus.
Zwei vom Ordnungsamt auf der falschen Demo
Probleme wegen ihrer Kritik an den Corona-Maßnahmen haben diese Woche auch zwei Angestellte im Öffentlichen Dienst bekommen. Wie BILD.de berichtet, sind Janina D., Leiterin der Bußgeldstelle in Hagen, Nordrhein-Westfalen, und ein weiterer Mitarbeiter des örtlichen Ordnungsamtes vom Oberbürgermeister der Stadt, Erik O. Schulz (parteilos), suspendiert worden. Die beiden Personen hatten an einer Querdenker-Kundgebung mit rund 200 Demonstranten teilgenommen, was laut BILD.de für Aufsehen sorgte. Interessanterweise hatte die Stadt zunächst festgestellt, dass Angestellte des Ordnungsamtes „wie jeder andere Bürger in der Freizeit an Demonstrationen teilnehmen“ können. In einer funktionierenden Demokratie wäre die Sache damit erledigt.
Doch nun zitiert die BILD Oberbürgermeister Schulz wie folgt: Durch ihre Teilnahme an der Demo hätten die beiden Mitarbeiter „die Glaubwürdigkeit der Stadt in ihrer Funktion als Ordnungsbehörde infrage gestellt.“ „Gerade in dieser Zeit“ sei es aber unabdingbar „das Vertrauen der Bevölkerung in das Handeln der Verwaltung nicht zu erschüttern. Wer für die Einhaltung der Coronaregelungen mit zuständig ist, darf keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er oder sie diese auch selbst akzeptiert.“ Über die Suspendierung hinaus läuft eine dienstrechtliche Untersuchung des Vorfalls.
Fußball-Fans haben keinen (Geiß-)Bock auf einen Abweichler
Ein weiterer Ausgestoßener der Woche ist Fritz Esser. Der erfahrene PR-Mann und gebürtige Kölner sollte neuer Medienchef beim 1. FC Köln werden. Doch der Erstligist nahm die Personalentscheidung nach nur wenigen Tagen zurück, nachdem sich in sozialen Medien und Fanforen ein Shitstorm zusammenbraute. Maßgeblich für die Empörung waren offenbar nicht nur ein alter Tweet Essers, in dem dieser Fans des Clubs, die an einer Protestaktion gegen den (von der Red Bull GmbH quasi in der Retorte gezüchteten) Verein RB Leipzig beteiligt waren, als „Schwachmaten“ bezeichnete, sondern auch „AfD-nahe Positionen“ (Formulierung von WDR.de).
Die Fan-Seite effzeh.com erklärt: „Als die AfD im Oktober 2017 kurz nach ihrem Einzug in den Bundestag einen Alterspräsidenten durchsetzen wollte und die anderen Parteien das verhinderten, erzürnte sich der AfD-Abgeordnete Bernd Baumann wie folgt: ‚Der alte Bundestag (…) wurde abgewählt. Das Volk hat entschieden. Nun beginnt eine neue Epoche.‘ Fortan würden, so Baumann, Themen im Bundestag neu verhandelt werden. Fritz Esser kommentierte das auf Twitter so: ‚Diese Schelle von #AfD-Mann Baumann hat sich der #Bundestag redlich verdient.‘ Später schrieb er auch, dass man Spenden der AfD, beispielsweise an die Tafel, behalten solle.“
Laut effzeh.com wurden Fritz Esser außerdem Texte zum Vorwurf gemacht, die er in seiner Zeit als BILD-Journalist verfasste, etwa ein Artikel „über einen Kameruner, der sich in Deutschland aufhielt, ‚obwohl seine Einreise und sein Aufenthalt in Deutschland eine Straftat sind‘“ und ein weiterer Beitrag mit der Überschrift „Warum schieben wir die Falschen ab?“ Am Mittwoch lenkten dann Vereinspräsident Werner Wolf und Geschäftsführer Alexander Wehrle ein und teilten mit: „Beim Auswahlprozess sind Fehler gemacht worden. Seit der Veröffentlichung haben uns Vorwürfe erreicht, die wir vorher hätten prüfen müssen. Daraus werden wir Konsequenzen ziehen.“
Shocking: eine US-Literaturagentin bei Parler und Gab!
In den USA ist indessen die Literaturagentin Colleen Oefelein von der Agentur Jennifer De Chiara gefeuert worden, weil sie Nutzerkonten bei den sozialen Netzwerken Parler und Gab hat. Diese Plattformen werben damit, kaum Inhalte zu zensieren oder Nutzer zu sperren, was natürlich auch politische Extremisten und Anhänger seltsamer Verschwörungstheorien anzieht. „Wir dulden diese Aktivität nicht und entschuldigen uns bei allen, die davon betroffen oder verletzt wurden“, zitiert Newsweek einen Tweet der Agentur, der mittlerweile nicht mehr öffentlich sichtbar ist.
Bei der Entlassung war offenbar allein die Nutzung dieser Plattformen ausschlaggebend. Aus der Kommunikation des Arbeitgebers und der medialen Berichterstattung über den Fall geht nicht hervor, dass Oefelein, die sich auf Twitter als „konservativ“ und „christlich“ bezeichnet, selbst irgendetwas fragwürdiges auf Parler oder Gab postete. Laut Newsweek wurde De Chiara von einem Twitter-Nutzer auf das „Fehlverhalten“ der Mitarbeiterin hingewiesen, bedankte sich und reagierte prompt mit der fristlosen Kündigung.
In der amerikanischen Buchbranche spielen Agenten wie Colleen Oefelein eine wichtige Rolle. Fast alle Autoren lassen sich bei ihren Interaktionen mit Verlagen von einer Literaturagentur vertreten. Aber nicht nur in dieser Branche wird die Nutzung von Parler skandalisiert. In den britischen Medien erscheinen regelmäßig seltsame Artikel wie dieser oder dieser, die protokollieren, welche konservativen Abgeordneten und anderen Personen des öffentlichen Lebens die Plattform nutzen.
Parler selbst wurde letzten Monat Opfer einer Art „Business-to-Business“ Cancel Culture, als Apple und Google die Parler Mobile App aus ihren App-Stores entfernten und der größte Cloudspeicheranbieter der Welt, Amazon Web Services, abrupt aufhörte, die Plattform zu hosten. Seit dem 10. Januar ist Parler überhaupt nicht mehr im Netz erreichbar (siehe diese Kolumne vom 15.01.2021).
Vorsicht Stereotype: Susi & Strolch nicht mehr zeitgemäß
Und dann kamen sie zu Dumbo… wie die FAZ berichtet, hat das Streamingportal Disney+ Trickfilmklassiker wie das „Dschungelbuch“, „Susi und Strolch“, „Peter Pan“, die „Aristocats“ oder eben „Dumbo“ aus seinem Kindermodus verbannt, weil sie offenbar nicht mehr zeitgemäß sind. Als Nutzer mit einem Erwachsenenprofil könne man sich die Filme weiterhin anschauen. Allerdings nicht ohne den Warnhinweis: „Dieses Programm enthält negative Darstellungen (...) Diese Stereotypen waren damals falsch und sind es jetzt.“ Die Entscheidung, die von vielen geliebten Trickfilme in eine Art digitales Leprosorium zu stecken, hat laut FAZ etwas mit der sogenannten „Stories Matter“-Initiative von Disney zu tun, in der sich der Medienkonzern kritisch mit den Darstellungsweisen seiner älteren Filme auseinandersetzt.
Ausgestoßen ist aktuell auch die Literatur des Mittelalters. In Großbritannien hat die University of Leicester angekündigt, den Lehrplan „dekolonisieren“ zu wollen. Dafür sollen Klassiker der englischen Hochliteratur wie Geoffrey Chaucers Canterbury-Erzählungen, die Artussagen oder das frühmittelalterliche epische Heldengedicht „Beowulf“ aus dem Curriculum gestrichen werden. Auch Texte der frühen Moderne wie John Miltons „Paradise Lost“ stehen auf der Schwarzen Liste, wie die Daily Mail mitteilt. Anstatt sich mit diesem Stoff zu beschäftigen, sollen die Studenten in Zukunft mehr über „Rasse, Ethnie, Sexualität und Diversität“ erfahren.
Eine gute Nachricht gibt es: Vor William Shakespeare haben die Kulturrevolutionäre haltgemacht. Dessen klassische Werke sollen laut Daily Mail im Lehrplan für den Englisch-Bachelor verbleiben. Ansonsten scheinen sich auch in Leicester die bemüht progressiven Entscheidungsträger nach einer Losung Mao Zedongs zu richten: „Zerschlagt die Vier Alten – alte Denkweisen, alte Kultur, alte Gewohnheiten und alte Sitten.“
Und damit endet der allwöchentliche Überblick des politischen und kulturellen Reinemachens. Eine umfangreiche chronologische Sammlung von Cancel-Culture-Fällen finden Sie auf der Website Cancelculture, wo wir aktuelle Fälle aus dem deutschsprachigen Raum fortlaufend in aller Kürze dokumentieren. Um auch weniger prominente Betroffene aufnehmen zu können, sind wir auf Hinweise angewiesen. Schreiben Sie uns gerne unter cancelculture@freiblickinstitut.de.