„Der Mensch hat steinzeitliche Gefühle, mittelalterliche Institutionen und eine gottgleiche Technik.“ Dieser Satz des Ameisenforschers Edward O. Wilson beschäftigt mich, seit ich ihn das erste Mal gelesen habe (“We have created a Star Wars civilization, with Stone Age emotions, medieval institutions, and godlike technology.”) Heute möchte ich diesen Satz auf eine Erscheinung anwenden, die langsam epidemische Züge anzunehmen scheint: die Gaffer.
Da kämpft ein 31jähriger Mann in einem Teich bei Orlando/Florida um sein Leben und ertrinkt schließlich, während eine Gruppe von Jugendlichen belustigt zuschaut, unflätige Bemerkungen macht, den Todeskampf des Mannes filmt und das Video auf Facebook einstellt. In Baden-Baden haben Schaulustige einen suizidgefährdeten Mann ermutigt, von einem Hoteldach zu springen. Außerdem haben mehrere Menschen den Mann gefilmt. Bei einem Unfall in der Hagener Innenstadt ist ein einjähriges Mädchen tödlich verletzt worden. Ein Auto sei in eine Fußgängergruppe gefahren, teilte die Polizei mit. Zahlreiche Gaffer sollen die Rettungsarbeiten behindert haben. Sie hätten zum Teil Absperrungen ignoriert und Handybilder gemacht, während die Verletzte an der Unfallstelle behandelt wurde. Eine Dortmunderin hat ihre Nachbarin bei einem Suizidversuch gefilmt – ohne jegliche Scham vor den Augen der Polizei und Feuerwehr – die derweil versuchten, der verzweifelten Frau zu helfen.
Die Reihe könnte man noch eine ganze Weile fortsetzen. Aus jeder Ecke Deutschlands und der ganzen Welt, mag auch die Rechtslage in den einzelnen Ländern unterschiedlich sein. Was hat das nun mit dem Satz von Wilson zu tun? Nun, ich behaupte ganz einfach, dass alle drei Stufen, die er beschreibt, hier exemplarisch zum Ausdruck kommen.
Da sind zunächst unsere „steinzeitlichen Gefühle“, die uns neugierig und mitleidlos das Leid anderer betrachten lassen. So wie die Römer im Kolosseum johlten, wenn die Gladiatoren sich gegenseitig massakrierten oder Löwen wehrlose Männer und Frauen zerfleischten. Oder die Mütter, die zu Zeiten Robespierres in der ersten Reihe direkt vor der Guillotine, dieser genialen Erfindung des Arztes Joseph-Ignace Guillotin, saßen und vor Vergnügen kreischten, wenn ein dienstbarer Gehilfe des Henkers von Zeit zu Zeit das Blut vom Schafott fegte. Doch braucht man gar nicht so weit zurück zu gehen: Da ist zum Beispiel der SS-Mann im KZ, der der Mutter ihr Baby aus dem Arm nimmt und mit dem Kopf gegen einen Türpfosten knallt. Derselbe Mann, der am Morgen, bevor er zum Dienst aus dem Haus ging, noch seine Frau zärtlich geküsst und seiner kleinen Tochter liebevoll übers Haar gestrichen hat. Nero und Franz von Assissi, Ilse Koch und Mutter Teresa, Pol Pot und Henry Dunant – alle stecken in uns, nicht selten in ein und derselben Person.
Die Strafen sind eher lächerlich
Und wenn dann wieder etwas in der geschilderten Art passiert, das „uns“ sprachlos macht, denn treten unsere „mittelalterlichen Institutionen“ auf den Plan: Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte oder Verwaltungsbehörden. Leider sind die Strafen, die sie verhängen, nicht mehr mittelalterlich, sondern eher lächerlich; denn wir haben ja die Aufklärung hinter uns und leben im Zeitalter des Humanismus. Zwar sind wir noch nicht ganz so weit wie Madame de Staël, die meinte "Tout comprendre c'est tout pardonner" (Alles verstehen heißt alles verzeihen). Aber viel fehlt nicht mehr. Jedenfalls sieht die Rechtslage in Deutschland so aus (§ 323c Strafgesetzbuch (StGB) erklärt die unterlassene Hilfeleistung zur Straftat): „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“
Bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr ist die Strafaussetzung zur Bewährung zwingend vorgeschrieben (§ 56 Absatz 1 StGB), „wenn zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind.“ In der Regel verlässt der Täter also trotz seiner Verurteilung den Gerichtssaal als freier Mann.
§ 201a Absatz 1 Nr. 2 StGB stellt die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahme unter Strafe: „Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer ... eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt“. Auch hier wird es in aller Regel zu einer Bewährungsstrafe kommen, die bei einer Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, nach § 56 Absatz 2 StGB zulässig ist, „wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen. Bei der Entscheidung ist namentlich auch das Bemühen des Verurteilten, den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, zu berücksichtigen.“
Ob diejenigen, der ungerührt zusehen, wie ein anderer ertrinkt, weniger strafwürdig handeln (Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bei uns, in Florida offenbar straflos) als diejenigen, die einen Verletzten filmen, um den sich Rettungskräfte bemühen (Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren), mag jeder mit sich selbst ausmachen oder sich an seinen Bundestagsabgeordneten wenden, um diesen zu einem Änderungsvorschlag zu bewegen.
Erich Kästner hat es geahnt
Wer es beim bloßen Gaffen belässt, hat keine rechtlichen Sanktionen zu befürchten. Dagegen stellt die Verletzung des Gebots zur Bildung einer Rettungsgasse (§ 11 Absatz 2 StVO) eine Ordnungswidrigkeit dar (§ 49 Absatz 1 Nr. 11 StVO). Das Bußgeld beträgt derzeit nach Nr. 50 des Bußgeldkatalogs 20 Euro. Die gleiche Geldbuße riskiert, wer einem Einsatzfahrzeug, das blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn verwendet hatte, nicht sofort freie Bahn geschaffen hat (§ 38 Absatz 1 Satz 2, § 49 Absatz 3 Nr. 3 StVO, Nr. 135 des Katalogs). Der ADAC Hessen-Thüringen informiert demgegenüber wie folgt ("Das kosten die einzelnen Vergehen"):
- „Gaffen“ als Ordnungswidrigkeit: Bußgeld von 20 bis 1000 Euro
- Behinderung der Rettungskräfte durch Befahren des Seitenstreifens auf der Autobahn: Bußgeld von 20 Euro
- Behinderung der Rettungskräfte durch Parken auf dem Seitenstreifen der Autobahn: Bußgeld von 25 Euro“
„Vergehen“ sind keine Ordnungswidrigkeiten, sondern Straftaten und zwar solche, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe als einem Jahr oder die mit Geldstrafe bedroht sind (§ 12 Absatz 2 StGB); alle übrigen Straftaten sind „Verbrechen“. Doch das nur nebenbei. Auf Anfrage hat mir das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur am 10. August 2017 folgendes mitgeteilt:
„Bundesminister Dobrindt hat die Erhöhung der Bußgelder für das Blockieren einer Rettungsgasse angekündigt. Die Bußgelder sollen von bisher 20 Euro auf mindestens 200 Euro Regelgeldbuße verzehnfacht werden". Es werden neue Tatbestände geschaffen
- Keine Rettungsgasse gebildet – mit Behinderung (z. B. eines Rettungsfahrzeugs): 240 Euro plus 2 Punkte im Fahreignungsregister plus 1 Monat Fahrverbot.
- Keine Rettungsgasse gebildet – mit Gefährdung (z. B. eines Feuerwehrmanns oder Verletzten): 280 Euro plus 2 Punkte im Fahreignungsregister plus 1 Monat Fahrverbot.
- Keine Rettungsgasse gebildet – mit Sachbeschädigung (z. B. Sachbeschädigung beim Ausscheren, um einem Einsatzfahrzeug durch die Rettungsgasse zu folgen): 320 Euro plus 2 Punkte im Fahreignungsregister plus 1 Monat Fahrverbot.“
Auf die Nachfrage nach dem Widerspruch zwischen Ankündigung und „Ministerverordnung“ habe ich leider keine Antwort erhalten.
So, und nun kommt das Beste: Die gottgleiche Technik. Wenn ich mich so umschaue, bin ich neben Wolfgang Bosbach und meiner kürzlich mit 90 verstorbenen Freundin Sabine offenbar der einzige, der kein Smartphone besitzt. Mein „Handy“ genügt zwar meinen Ansprüchen vollauf, dürfte aber wie das von Herrn Bosbach die meisten Zeitgenossen eher an eine „altägyptische Grabbeilage“ erinnern. Wer aber ein leistungsstarkes Smartphone, ein iPhone 7 Plus oder ein Galaxy Note8 oder was der Markt sonst so bietet, sein eigen nennt, möchte dieses Super-Gadget natürlich auch nutzen, am liebsten rund um die Uhr. Zwar sieht der israelische Welthistoriker Yuval Noah Harari den Homo Sapiens, noch bevor dieser seinem wissenschaftlichen Namen alle Ehre erweisen konnte, auf dem Weg zum Homo Deus. Doch bei genauerem Hinsehen gilt eher die Erkenntnis von Erich Kästner, der sein Gedicht „Die Entwicklung der Menschheit“ mit dem Vers beschließt
„So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.“
Man sollte sich also nicht wundern, wenn die alten Affen wie ihre Artgenossen aus dem Urwald gaffen und dann das Gesehene mit ihrer stets verfügbaren gottgleichen Technik für die festhalten, die nicht dabei sein können. Sie haben ja so viele „Freunde“ und „Follower“ in den „sozialen Netzwerken“. Die haben diese ewigen „Selfies“ langsam satt; es sei denn, man ist mit einem Delphin-Baby zusammen drauf. Oder ein veritabler Makake wie „Naruto“ hat sich selbst fotografiert. Da kämpft dann Peta notfalls bis zum Supreme Court, um der gequälten Kreatur ihr Urheberrecht zu sichern. Peter Singer und Michael Schmidt-Salomon werden es mit Freude und tiefer Genugtuung vernommen haben.