Vera Lengsfeld / 20.01.2009 / 20:39 / 0 / Seite ausdrucken

Zwanzigster Januar 1989/2009

In der Leipziger Markusgemeinde lässt der Arbeitskreis Solidarische Kirche ein Fürbittgebet halten, das vor allem von ehemaligen politischen Häftlingen gestaltete wird. Damit bricht der Arbeitskreis ein Tabu. Offiziell gibt es keine politischen Gefangenen in der DDR sondern nur Kriminelle. Das Rätsel löst sich nach einem Blick in das Strafgesetzbuch der DDR. Alle guten demokratischen Rechte, die wir heute für selbstverständlich halten, waren nach dem Gesetz des SED-Regimes kriminelle Delikte. Die Regierung zu kritisieren, Witze über die Regierung zu machen, eine Demonstration anzumelden, sich zu versammeln, die Meinung frei und öffentlich zu äußern, war ebenso verboten, wie eine Partei oder einen Verein zu gründen, oder gar das Land zu verlassen, weil man lieber wo anders leben will. Nicht nur all dies zu tun , war ungesetzlich, sondern auch nur daran zu denken, war strafbar. In der DDR waren die Orwellschen Gedankenverbrechen Realität. Das sicherlich absurdeste Gesetz war dasjenige, das die Sammlung nicht geheimer Informationen unter Strafe stellte. Mit ein paar alten Artikeln aus der Parteipresse zu argumentieren, konnte gefährlich werden, denn unter Umständen hatte man schon den Straftatbestand des Sammelns nicht geheimer Informationen erfüllt.
Mit den Gesetzen der DDR war die Bevölkerung latent kriminalisiert.
Das heißt natürlich nicht, dass alle verfolgt wurden. Aber über fast jedem schwebte diese Möglichkeit wie ein Damoklesschwert. Diese staatliche Willkür gehört zu den fast vergessenen Tatbeständen der zweiten deutschen Diktatur.
Obwohl es angeblich keine politischen Gefangenen gab, merkten die Häftlinge ihre bevorstehende Entlassung in den Westen daran, dass sie plötzlich aufgefordert wurden, alles aufzuschreiben, was sie jemals an der DDR gestört hat. Politische Häftlinge erzielten auf dem Freikaufmarkt einen höheren Preis. Besonders in den 80er Jahren war für die chronisch devisenknappe DDR der Häftlingsverkauf eine unverzichtbare Nebeneinnahme.
Erich Honecker leistet laut „Neuem Deutschland“ an diesem Tag seinen „konstruktiven Beitrag für den Frieden“ auf der Tagung des Thomas-Müntzer-Kommitees in Berlin. Dieses Komitee war eines von vielen Versuchen des Politbüros, eine DDR-Identität zu erzeugen, indem man markante historische Persönlichkeiten zu Vorläufern des SED-Staates umzudeuten suchte.
Wobei sich die Persönlichkeit Müntzers dafür besser eignete, als zum Beispiel die Luthers, den die Politbürokraten ebenfalls zu vereinnahmen suchten. Müntzers Charakter weist Züge auf, die den späteren kommunistischen Führern sehr ähnlich sind. Der rhetorisch sehr begabte , keinen Demagogie und keine Hasstirade scheuende Prediger,hatte im Mai 1525 bei Frankenhausen in Thüringen hunderte schlecht bewaffnete, zum großen Teil kampfunerfahrene Bauern auf einen Berg gelockt, wo die Entscheidungsschlacht gegen die Fürstenheere gesucht werden sollte. Müntzers Bauernhaufen wurde prompt eingekreist. Als das Schlachten begann, ließen die Fürstlichen nur eine schmale Gasse, durch die alle getrieben wurden. Die so genannte Blutrinne ist heuete noch erkennbar. Müntzer konnte sich als einer der Wenigen in die Stadt Frankenhausen retten, dank seiner 60ig-köpfigen gut trainierten Leibgarde. Er wurde von der Frau eines Torwächters versteckt und erst entdeckt, als die Stadt zur Plünderung frei gegeben wurde, weil seine feine Ledertasche die Begehrlichkeit eines Landsers weckte. Dieses ganz und gar unheroische Verhalten des Bauernfängers blieb in der DDR-Rezeption natürlich im Verborgenen. Ironischerweise war es der Maler Werner Tübke, der vom Politbüro den Auftrag bekam, auf dem Schlachtenberg ein riesiges Panoramagemälde zur Verherrlichung des Bauernkrieges zu fertigen, der Zweifel an der offiziellen Geschichtsschreibung ins Bild brachte.
Das Politbüro konnte nicht mehr protestieren. Als das Gemälde nach Jahren fertig wurde, war die DDR am Ende.
Die Meldungen des heutigen Tages werden alle überschattet von der Berichterstattung über die Amtseinführung Obamas. Zuletzt hieß es, über zwei Millionen Menschen würden erwartet. Zuletzt gab es bei Stalins Begräbnis in Moskau 1953 eine so große Menschenmenge.
Die bloße Zahl bleibt hoffentlich die einzige Parallele. Ich gestehe, dass mir bei solchen Massenaufläufen unbehaglich wird.

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