Burkhard Müller-Ullrich / 03.06.2015 / 22:01 / 1 / Seite ausdrucken

Zur sozialpsychologischen Phänomenologie des Paternosters

Vertikalbewegungen sind eigentlich interessanter als Horizontalbewegungen. Das hängt mit der Schwerkraft zusammen, dieser mächtigen astrophysikalischen Gegebenheit, die uns vom Anfang bis zum Ende unseres Daseins beherrscht. In der Waagerechten ist alles gleichwertig, aber in der Senkrechten gibt es eine Hierarchie. Es ist viel schwieriger, nach oben zukommen, nach unten geht es von allein. Auch eine Rundfahrt ist nichts Besonderes, aber für eine Auffahrt gibt es einen Feiertag.

Deshalb ist es verwunderlich, wie wenig fundamentalphilosophische Betrachtungen bislang dem Aufzugswesen gewidmet worden sind. Die spekulative Phänomenologie unterscheidet hier zunächst zwei grundverschiedene Systeme: nämlich intermittierende und kontinuierliche.

Die intermittierenden Aufzüge vollführen erratische Bewegungen, je nachdem, wer wohin will und welche Knöpfe drückt. Die kontinuierlichen Aufzüge arbeiten nach dem Prinzip des Wasserrads und verkörpern das Ideal der Nachhaltigkeit und des Recyclings. Dazu gehören die Rolltreppen und die Paternoster. Sie bieten das beste Anschauungsmaterial für Nietzsches Gedanken von der ewigen Wiederkehr des Immergleichen, indem jede Phase des Transportgeschehens sich selbst fortwährend kopiert.

Doch während die Rolltreppen dank Denis Scheck zum Weltkulturerbe gehören, hat man den Paternostern, genau wie den Kreuzen in Klassenzimmern, den Kampf angesagt. Dabei sind Paternoster eher protestantisch als katholisch, und zwar wegen ihrer öffentlichen Einsehbarkeit. Im Gegensatz zu der mit Türen geschlossenen Liftkabine haben Paternoster etwas von gardinenlosen Wohnungen in Holland. Barocke Szenen von aufgeheizter Sinnlichkeit sind im Paternoster schwer realisierbar, im Fahrstuhl hingegen wohl.

Außerdem ist möglicher Lift-Sex von ganz anderen Phantasien grundiert; immerhin kann eine Kabine steckenbleiben oder gar abstürzen, was jede Liftbenutzung weitaus abenteuerlicher, gefährlich und unheimlicher macht als eine Mitfahrt im Paternoster. Selbst hartgesottene Burschen wie meine Journalistenkollegen machen nervöse Bemerkungen, wenn der Lift mal wieder seltsam ruckt. Denn Aufzüge sind nicht nur Fortbewegungsapparate, sondern auch soziale Instrumente. Hier werden Begegnungen zum Kammerspiel – im Lift viel intensiver als im Paternoster, weil man im Lift länger zusammen ist und weil in den Lift mehr Leute passen.

Selbst so subtile Kleinigkeiten wie die Angabe des Fahrtziels können Bedeutung bekommen. Den Paternoster verläßt man einfach, man muß es niemandem vorher sagen. Im Lift jedoch sieht jeder, welchen Etagenknopf man drückt, und kann daraus Schlüsse ziehen, noch mehr, wenn man dann plötzlich früher aussteigt, was deutlich zeigt, daß einem die Gesellschaft nicht behagte.

Dagegen wirken Paternoster mit ihrer ruhigen Art stets positiv auf das Betriebsklima. Es soll sogar Leute geben, die, um Streß und Spannung abzubauen, ein paar Hausrunden fahren – immer mit besonderem Vergnügen vorbei an den Schildern „Weiterfahrt ungefährlich“ vor der Wende im Keller und im Dachgeschoß. Dort spürt man symbolisch, wie jedes Unternehmen funktioniert: es rumpelt auf einmal gewaltig und dann geht es weiter wie bisher, bloß in der anderen Richtung.

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Ferdi Michi / 04.06.2015

Genial - vielen Dank!

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