Andrei Zubow beginnt am 1. März 2014 in Moskaus Vedomosti das Vergleichen von Hitlers 1938er Sudeten-Besetzung und Putins 2014er Krim-Eroberung: „Wir dürfen uns nicht verhalten wie damals die Deutschen. […] Im März 1938 wollten die Nazis ihr Reich auf Kosten eines anderen Staates vergrößern.“ Hillary Clinton folgt dem russischen Professor für Philosophie am 5. März. Einen Tag später wird sie vorsichtiger und will nur noch von „von einer Taktik lernen, die schon früher verwendet wurde.“
Zubow erhält am 4.März von seinem Moscow State Institute of International Relations (MGIMO) das Ultimatum, zu kündigen oder entlassen zu werden. Er steht zu seinem Wort und wird am 24.März nach dreizehn Jahren aus dem Dienst entfernt.
Schäuble bekommt von all dem nichts mit und erkennt am 31.März in Putin ebenfalls eine Art „Hitler im Sudentenland“. Der Deutsche Lehrerverband gibt ihm Recht. Doch Putin folgt dem Drehbuch eines Mannes, dem schon sein Großvater als Leibkoch dienen darf. Stalins Geheimpakt mit Deutschland vom 23. August 1939 ermächtigt nämlich den Führer aller Werktätigen zur Eroberung Ostpolens. Als Vorwand für den Angriff am 17. September 1939 will er den „Schutz der weißrussischen und ukrainischen Bevölkerung [Polens] vor den deutschen Eroberern“ in die Kriegserklärung schreiben.
Friedrich Werner Graf von der Schulenburg bittet als deutscher Botschafter um eine für Berlin weniger anstößige Formulierung. Daraufhin rechtfertigt der Diktator die Invasion mit dem Schutz „ostslawischer Brüdervölker“, die nach Vertreibung der polnischen Regierung durch die Wehrmacht ohne staatliche Fürsorge daständen. Diese erlogene Rechtlosigkeit verwandelt er durch die umgehende Verhaftung und – ab April 1940 in Katyn – Ermordung der polnischen Beamten und Offiziere in unstrittige Wahrheit.
Die Parallele zwischen dem1939er Vorwand einer Sorge um Ukrainer in Polen und dem 2014er Vorwand einer Sorge um Russen in der Ukraine ist offensichtlich. In Osteuropa versteht sie jeder. Die aktuelle Angst von Polen bis nach Estland hat ein Stück auch damit zu tun, dass ihre Geschichte bei den westlichen Führungen immer als terra incognita gilt.
Ein schnelles Nachschlagen im Geschichtsbuch hätte sich vor allem für Rüdiger Freiherr von Fritsch gelohnt, der heute Berlin in Moskau vertritt. Zur Beschwerde von Putins Außenminister Lawrow vom 3. April über Schäubles „unannehmbare historische Parallelen“ erscheint er mit der gebotenen Ahnungslosigkeit. Er hätte ein Bedauern ja ausdrücken, dann aber den historisch passenden Vergleich umgehend nachschieben können. Weil diese Lernchance verpasst wird, ist in der Heimat der unglückseliger CDU-Grande Bouffier dazu verurteilt, am 18. April auch noch in den Zubow-Clinton-Schäuble-Chor einzustimmen: “Wer einigermaßen die Dinge kennt, kann ernsthaft nicht bestreiten, dass es sich um ähnliche Muster handelt.”
Seit sieben Wochen spielt nun diese Melodie. Vielleicht ergibt sich ja zum Baltikum bald die Gelegenheit, doch erst einmal Stalins Einmarsch vom 17. April 1940 zu studieren, bevor reflexartig wieder die alte Platte aufgelegt wird.