Bernhard Lassahn / 15.08.2011 / 12:19 / 0 / Seite ausdrucken

Zensur in der Literatur, Teil 2: Das Porträt

Wie sieht es aus mit der Freiheit der Kunst in Deutschland im Jahre 2011?

Schlecht. Es gibt ein neues Buch - Maik Brüggemeyer: ‚Das Da-Da-Dasein’ -, das noch nicht erschienen ist, und schon geändert werden muss, weil sonst Persönlichkeitsrechte verletzt würden. Das musste so kommen. Wir erinnern uns: Im Jahre 2003 wurde das Buch ‚Esra’ von Maxim Biller verboten. Und das hatte Nachwirkungen.
Als noch nicht feststand, dass ‚Esra’ tatsächlich verboten werden würde und auch nicht klar war, wie der Streit um eine Entschädigung in Höhe von 100.000 Euro ausgehen würde, schrieb Daniel Kehlmann zu dem drohenden Verbot: „ ... so wäre das ein Skandal sondergleichen und ein Schlag, von dem sich Deutschland als literarischer Standort nicht erholen würde. Wie schriebe man denn, wenn man befürchten müßte, daß jedes Buch nicht bloß verboten werden, sondern auch noch Grund für die gerichtlich verordnete ökonomische Vernichtung sein könnte? Mit Angst oder gar nicht mehr oder am liebsten anderswo, kurz: wie in einer Diktatur.“
Es kam zum Schlag. Dabei sei es doch eine „Binsenwahrheit“, so Kehlmann weiter, dass ein Autor aus dem „Leben schöpfen“ würde, es könne doch nicht angehen, dass man Biller verbiete, was anderen Autoren zugestanden wurde.
„Ist Kehlmann bei Trost?“, fragte damals Ulrich Greiner – eine Frage, die ich mit einem klaren „Ja“ beantworten kann. Doch ich ahne, warum er so scheinheilig fragt. Greiner steht als Kritiker nicht auf der Seite der Autoren, sondern auf der der Richter, wenn nicht gar der Henker. Und er greift zu starken Worten, weil sein Argument schwach ist.

Sein Argument ist, dass Goethe, Proust und andere Größen es im Unterschied zu Biller richtig gemacht haben, wenn sie „Rudimente der Realität“ in ihre Werke „eingeformt“ hätten – das haben sie nämlich, genial wie sie nun mal sind, so hingekriegt, „dass Ähnlichkeit erkennbar wurde, nicht aber Identität. Das Identische zeigt auf den anderen, das Ähnliche auf uns selber.“ Alles klar? 

Was ist - bitte schön - das „Identische“? Das Identische gibt es nicht in der Literatur. Aber wir können mit Hilfe dieses unglücklichen Begriffes nachvollziehen, wie Greiner auf das schmale Brett gekommen ist. Das Gericht hatte damals gefunden, Biller habe „keine Typen dargestellt, sondern Portraits“. Und da haben wir das Schlüsselwort: „Portrait“, das uns zum „Identischen“ führt. Auch im Fall von Brüggemeyer hieß es, die Klägerin sehe sich „portraitiert“.

Das kann man so sagen, wenn man plaudert. Wir denken dabei an Maler oder Fotografen. Deren Portraits unterscheiden sich allerdings in einem entscheidenden Punkt von den „Portraits“, die ein Schriftsteller zustande bringt. Portraits der bildenden Künstler idealisieren und verfremden womöglich, sie setzen aber immer eines voraus: die Identität des Portraitierten.

In der Literatur ist es nicht so. Mark Twain hat sich für die Figur von Tom Sawyer an vier verschiedenen Jungen aus dem richtigen Leben orientiert. Und erst vor kurzem ist der „alte Mann“ verstorben, der das Vorbild vom ‚Der alte Mann und das Meer’ gewesen sein will – erstaunlich eigentlich; denn schon zu der Zeit, als Hemingway das Buch schrieb, müsste er vergleichsweise alt gewesen sein. Aber gönnen wir ihm seine Einnahmen durch Fotos, bei denen er mit glücklichen Touristen abgebildet wurde. Er war nicht der einzige.

Bei Bildern ist es offensichtlich. Da gibt es Identität. Wir rechnen nicht damit, dass Mona Lisa so raffiniert war, dass sie sich zwischendurch von drei Freundinnen vertreten ließ, die alle hintergründig gelächelt haben. In der Literatur wäre das gut möglich. Da gibt es keine Identität des Porträtierten. Die Verfilmungen täuschen darüber hinweg, weil hier die Evidenz des Bildes wirkt und immer ein und derselbe Schauspieler einen Charakter darstellt. Abgesehen von dem Film ‚Das obskure der Begierde’ von Luis Buñuel, in dem die Hauptfigur von zwei Schauspielern verkörpert wird. Zu meiner Enttäuschung war es eine Verlegenheitslösung – ich dachte, es wäre ein Kunstgriff. Damit war der Film wieder näher am Buch als am Bild.

Erst wenn man sich klar macht, dass hier ein falsches Verständnis vorliegt von dem, was ein „Portrait“ in der Literatur bedeutet, kann man die Denkweise der Kläger verstehen. So haben sie Biller vorgeworfen, dass er „intime Details“ preisgegeben hätte. Doch gerade die Details müssen - im Unterschied zum Bild - bei einem Buch überhaupt nicht stimmen. Was jeder Leser weiß. Wenn wir auf einem Bild von Marilyn Monroe ein Muttermal erkennen, vermuten wir, dass Norma Jeane das auch im richtigen Leben an genau der Stelle hatte. Wenn jedoch einer Figur in einem Buch so ein Muttermal angedichtet wird, hat der Leser keinerlei Gewissheit; denn bei einem literarischen Portrait wird gar nicht erst der Anspruch erhoben, dass sich die Details im richtigen Leben wiederfinden – im Gegenteil: Die Verwendung von Details folgt einer eigenen Logik; einer, die im künstlerischen Konzept des Autors liegt. Da ging es womöglich nur um eine Kolorierung aus reiner Freude an der Farbe – um auch mal eine Formulierungen zu verwenden, die eher für einen Maler gilt.

Patricia Highsmith hat für ihre Krimis die Charaktereigenschaften und die äußeren Merkmale von Leuten aus ihrem Bekanntenkreis munter gemixt. So gibt es bei ihr keine klischeehafte Verbindung von Sein und Schein: Der Polizist, der so gutmütig aussieht, erweist sich wenig später als Gauner. Wer hätte das gedacht? Figuren aus Büchern sind komplexer als Bilder. Das Offensichtliche kann täuschen. Literarische Figuren sind eben keine Portraits wie von einem Maler, sie sind bunte Patchwork-Figuren, deren Entsprechung im wirklichen Leben sich nicht an einer einzigen Person festmachen lässt. Deshalb kann es hier auch keine Persönlichkeitsrechtsverletzung geben. Denn man kann bei einem Buch, sofern es kein ausgewiesenes Sachbuch oder eine Arbeit ist, die den Anspruch erhebt, eine genaue Biographie zu sein, nicht von der Identität einer Persönlichkeit ausgehen. Die setzten wir aber voraus, wenn wir eine Verletzung der Persönlichkeit beklagen.

Stellen wir uns vor, ein junger Mann – nennen wir ihn Walter Smith – hätte gegen ‚Tom Sawyer’ geklagt, weil er sich darin „porträtiert“ sieht. Er könnte eine Verletzung seines Persönlichkeitsrechts nur zu einem Teil geltend machen, vielleicht zu 25%. Die Details, an denen er eine Wiedererkennung festmachen will, hätten leider keine Beweiskraft. Er wäre nicht der einzige Lieferant solcher Details. Und vielleicht hatte sich Mark Twain die nur ausgedacht.

Darüber sind sich bisher Leser und Autoren immer einige gewesen. So funktioniert auch die Wiedererkennung, die einem so viel Spaß bereiten kann: Die Leser erkennen in einer literarischen Figur einen Freund wieder. Einen Feind. Vielleicht sogar sich selbst. Die Beschreibung trifft dabei immer nur – wie Björn Engholm sagen würde – „ein Stück weit“ zu. Und das Erstaunliche: Die Wiedererkennung funktioniert, obwohl gerade die Details nicht stimmen. Der Leser schmunzelt und sagt sich: Genau, so eine Frau kenne ich auch, nur dass sie kein Muttermal hat. Oder: So einen Jungen kenne ich auch, nur dass er nicht Tom heißt. Walter Smith erkennt sich selbst. Vielleicht tut das auch seine Mutter. Und sein Anwalt. Jeder andere macht sich ein anderes Bild und erkennt andere.

Wer will unter diesen Voraussetzungen auf Persönlichkeitsverletzung klagen? Was sind das überhaupt für Leute? Es sind welche, die Bild und Buch verwechseln; welche, die zuviel Pro7, zuviel Sat1 und zuviel RTL geguckt haben und den Kontakt zur Literatur verloren haben.

Kulturverfall – allüberall. Es soll zu diesem Thema noch weiter gehen. Im nächsten Teil – das verspreche ich jetzt schon – wird es dann sogar richtig peinlich.

Fortsetzung folgt

 

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