Cem Özdemir kämpft in diesem Wahlkampf wie ein Bundesligatrainer im Abstiegskampf. Verbissen optimistisch und mit dem Mut der Verzweiflung. Er kämpft für sein angeschlagenes grünes Team, aber er kämpft auch um seinen Job. Und derzeit sieht es düster aus. Die Umfragewerte sind nicht schlecht für die Grünen, sie sind miserabel. Mittlerweile liegen die Grünen auf dem letzten Platz der sechs Parteien, die wohl in den Bundestag einziehen werden. Der Durchschnittswert aller Umfragen liegt in dieser Woche bei 7,6 Prozent – Tendenz bröckelnd.
Der Abstiegsplatz der Grünen ist umso erstaunlicher, weil der Wahlkampf eigentlich Chance um Chance böte: Dieseldebatte, Fipronil-Skandal, Erdogan-Konflikte. Die wenigen Themen dieses müden Sommerwahlkampfs müssten die Grünen normalerweise stärken. Zumal mit Cem Özdemir ein beliebter, redegewaltiger Spitzenkandidat kämpft, Erdogans Gegenbild und ein Mann, der auch mittig-bürgerlich mobilisieren kann. Der perfekte Kandidat für das schwarz-grüne Wendeprojekt. Doch das stirbt offenbar schon, bevor es überhaupt richtig zu leben begonnen hat.
Cem Özdemirs politisches Schicksal hängt dieser Tage am seidenen Faden. Sollte er die Grünen mit einem letzten Platz und peinlich schlechten Ergebnissen in die Ödnis der Opposition führen, dann wären seine Tage als Spitzenpolitiker gezählt. Der linke Flügel der Partei ballt schon die Faust in der Jutetasche. Das bürgerliche Lager der Grünen wiederum hat mit Robert Habeck einen neuen Liebling – schwarz-grüner Regent im Norden, Philosoph, Buchautor und Vater von vier Kindern, mal ein ganz anderer, frischer Typ. Özdemir würde zwischen die Fundi- und Realo-Stühle geraten und schon in diesem Herbst von allen Machtposten heruntergeschubst. Er wäre fortan das Gesicht des grünen Niedergangs.
Das weiß er natürlich genau – und darum verfolgt er die “Operation Jamaika”. Ein Regierungsbündnis zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen ist sein Rettungsziel. Sein machtpolitisches Kalkül: Es könnte am Ende, anders als in Nordrhein-Westfalen, für Schwarz-Gelb nicht ganz reichen. Dann kämen die Grünen, wie in Schleswig-Holstein, in die bequeme Rolle einer Regierungsoption. Da die SPD einer neuerlichen Großkoalition wohl entflieht, wäre der Weg für Jamaika frei. In diesem Fall hätte Özdemir die große Chance, Bundesaußenminister zu werden. Ein türkischstämmiger Schwabe, der Erdogan die Stirn böte – das wäre eine historische Mission vergleichbar mit der von Joschka Fischer, der es vom linken Straßenschläger zum Weltpolitiker gebracht hat.
Präferenz für eine Jamaika-Option
Özdemirs Schicksal schwankt dieser Tage also “zwischen Hero und Zero”, wie ein prominenter Parteifreund sagt und ergänzt: “Es hängt an wenigen Prozentpunkten, ob er spektakulärer Jamaika-Außenminister wird oder unser Ober-Loser!”
Özdemir macht jedenfalls kaum einen Hehl aus seiner bürgerlichen Präferenz mit Jamaika-Option, vernetzt sich seit Jahren mit Unionisten und stellt sich hinter die Kretschmann-Perspektive, wonach Mehrheiten in Deutschland nur in der Mitte zu holen seien. Er hat früh erkannt, dass es für rot-grüne Regierungen in Deutschland keine Mehrheiten mehr gibt. Der Zeitgeist und mit ihr die politische Achse der Republik verschieben sich – spätestens mit dem Aufkommen der AfD und dem Comeback der FDP – nach rechts. Eine neue Generation von Politikern beider Parteien geht zielstrebig aufeinander zu. Von Tarek Al-Wazir, Hessens grünem Wirtschaftsminister, bis zum CDU-Generalsekretär Peter Tauber, vom Tübinger Bürgermeister Boris Palmer bis zum jungen CDU-Ministerpräsidenten Daniel Günther knüpfen sie neue, grünbürgerliche Bande.
Doch am Ende könnte genau das Özdemir um seine letzte Chance bringen. Denn mit Angela Merkel regiert eine CDU-Kanzlerin, die bei vielen Grünen-Wählern so beliebt ist, dass sie gar nicht mehr grün wählen müssen. Wer Merkel direkt haben kann, der braucht mit Katrin Göring-Eckardt kein ostdeutsch-weiblich-pastorales Duplikat. Gerade die Vergrünung der Union macht es den Grünen schwer, ihre bürgerlichen Milieus zu mobilisieren.
Und so könnte Özdemir als Zuspätgekommener enden. Vor vier Jahren hätte Schwarz-Grün eine gesellschaftliche Chance gehabt, Hessen machte es vor – doch damals verwehrten die linken Altgrünen von Jürgen Trittin über Renate Künast und Anton Hofreiter bis Claudia Roth die Chance einer neuen Generation, die grünen Fenster zum liberalen Durchlüften zu öffnen und den Makel der staatsfixierten Bevormundungspartei abzuschütteln. Jetzt ist das gesellschaftliche Klima stärker von Sicherheits- und Kulturkampfdebatten mit dem Islam geprägt. Für Jamaika könnte es schon wieder zu spät sein. Vielleicht aber auch nicht – die Jamaika-Frage dürfte die vielleicht spannendste Frage des ansonsten so trägen Wahlkampfs werden, denn es hängt tatsächlich an ganz wenigen Prozentpunkten. Für keinen anderen Spitzenkandidaten liegt zwischen Top und Flop nur ein Wimpernschlag.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf The Europen.