Thomas Rietzschel / 27.07.2014 / 13:52 / 8 / Seite ausdrucken

Wulff vergeigt die zweite Chance

Seit die fromme Margot beschwipst am Steuer ihres Phaeton erwischt wurde, wissen wir: jeder hat eine zweite Chance verdient. Christian Wulff, der geschasste Präsidenten-Darsteller, bekam die seine in der vergangenen Woche – und hat sie abermals vergeigt. In einem Interview des Spiegel und mit einem persönlichen Auftritt bei Maybrit Illner wollte er die Tassen zurechtrücken - leider nicht im eigenen Schrank. 

Dabei stimmt durchaus, was er bei der einen wie bei der anderen Gelegenheit behauptete: Der Mann war eine „Provokation“. Nur war er das nicht, weil er einmal von der „bunten Republik“ sprach und bedeutungsschwanger erklärte, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Du lieber Himmel, welche Politiker hätte nicht auf ähnliche Weise versucht, sich bei den Wortführern der multikulturellen Gesellschaft einzuschleimen. Derartige Gemeinplätze musste der arme Teufel dann selbst zur Provokation aufblasen. Dafür hätte ihm niemand die Pistole auf Tisch gelegt, ihn zum Rücktritt genötigt.

Als peinlich wurde er erst empfunden, als selbst den Skandälchen, über die er stolperte, jegliches Format fehlte. Plötzlich hatte die stärkste Wirtschaftsmacht Europas einen Bundespräsidenten, der sich für ein paar Hundert Euro in die Ferien oder zum Bier einladen ließ. Piefke drohte das Land provozierend zu blamieren. Das konnte und wollte der Parvenü nicht begreifen.

Schließlich hatte er das höchste Amt im Staate erstrebt, um sich an der Seite seiner Gattin als Privatmann entfalten, “selbstverwirklichen“ zu können. Als Society-Pärchen reüssierten die Wulffs. Dass es ein Unterscheid ist, ob jemand persönlich hinter einer Sache von allgemeiner Bedeutung steht oder ob er seinen persönlichen Wünschen und seinem Missgeschick politische Bedeutung gibt, konnte der Zögling der Konsumgesellschaft nicht erkennen.

Er kann es bis heute nicht. Sonst hätte er die Gelegenheiten, die sich jetzt wieder boten, genutzt, um nochmals für das Lebensrecht aller in der „bunten Republik“ einzutreten. Angesichts des in Berlin, in Frankfurt, in München auflodernden Antisemitismus, der auf deutschen Straßen skandierten Aufforderung zur Vergasung der Juden hätte er feststellen können, dass auch das Judentum zu Deutschland gehört.

Auch vor dem Hintergrund, dass es die Bundeskanzlerin ihren Sprechern überlässt, sich von derartiger Volksverhetzung zu distanzieren, hätte er politisches Verantwortungsbewusstsein zeigen und alle Lüge strafen können, die ihm das nicht mehr zutrauen wollten. Stattdessen hat er wieder bloß die gekränkte Unschuld, das beleidigte Leberwürstchen gegeben, indem er seinem persönlichen Ungemach Weltgeltung zu verleihen suchte, den Medien die Schuld für sein Versagen in die Schuhe schob.

Ganz offensichtlich hat Christian Wulff nie jemand gesagt, dass der Bundespräsident, auch wenn er aus dem Schloss Bellevue ausgezogen ist, die Verantwortung des Amtes nicht einfach abschütteln kann. Wer einmal Bundespräsident war, kann nie wieder so ganz ins Privatleben zurückkehren, nicht in der Öffentlichkeit.

Der „Ehrensold“, der den Abgedankten zusteht – 214.000 Euro p. a. – ist eben ein Sold, keine Rente. Weil man davon ausgeht, dass sich die Präsidenten in Ruhe auch weiterhin dem Land verpflichtet wissen, ihm gegebenenfalls zur Verfügung stehen, stehen ihnen ein steuerfinanziertes Büro samt Mitarbeitern sowie ein Dienstwagen mit Chauffeur zur Verfügung. Die Kosten, die das verursacht, belaufen sich abermals auf knappe 300.000 Euro pro Jahr.

Dafür sollten wir - mit Verlaub -  mehr erwarten dürfen als den aggressiv aufgepeppten Auftritt einer alten Heulsuse. Zweite Chance hin oder her.

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Leserpost

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Rigobert Pilot / 28.07.2014

..., „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“  oder so.

Fritz Szepan / 28.07.2014

Ich hab die Illner-Sendung 5 Minuten geguckt, aber dann sah ich, dass alle einer Meinung waren. Und Wulff hat unwidersprochen behaupten können, er wäre den linken Zeitungen zu links und islamfreundlich gewesen. Schmarrn, Fernbedienung, weg.

Frank Holbers / 28.07.2014

Nur mal am Rande angemerkt: Diese Gerede von der “zweiten Chance”, die jeder verdient hätte, kommt immer nur von den Tätern. Die Opfer dagegen wissen aus leidvoll eigener Erfahrung, daß es immer nur eine Chance im Leben gibt. Denn das Leid der Opfer bleibt immer bestehen, läßt sich nicht rückgängig machen. Oder, wie ich mal einen Juristen, der auch diese unerträgliche Forderung von sich gab, fragte, ob es denn auch für die Opfer gelte: Ob also ein Ermordeter auch die zweite Chance für ein neues Leben bekäme.

Wolfgang Schmidt / 28.07.2014

@ Christoph Baumann Danke, damit brauche ich es nicht mehr zu schreiben. Auch wenn Herr Wulf eine Chance vergeigt hat, ist dieser Artikel schändlich. Kein Wort hinzuzufügen ...

Max Wedell / 27.07.2014

Bei Illner drängte sich der Eindruck auf, daß er es als eine Verkaufsveranstaltung fürs Buch zum Präsidenten gestaltete. “Das habe ich in meinem Buch ausführlich beschrieben” mag ja stimmen, aber wen interessiert das, wenn er hauptsächlich deshalb in der Sendung sitzt, um es ausführlich zu beschreiben. Ex-Kanzler Schröder scheint da ein wenig anders zu sein. Die Politik hat zwar seine Seele beschädigt, aber wenigstens ließ der in der gestrigen Rede in der Marktkirche in Hannover den Passus weg: “Ausführliches zu meiner Seele können Sie in meinem Buch lesen”.

Roland Tluk / 27.07.2014

Das Präsidentenamt gehört abgeschafft. Kostet der Allgemeinheit viel zu viel Geld und der “Präsident” ist eine unbedeutene Funktion. Ich finde es sowieso lächerlich, wie die staatsnahe Medien versuchen, den nicht gewählten, sondern ernannten “Bundespräsidenten” eine “Bürgernähe” anzudrichten. Solche Ernannten leben nicht in unserern Universum.

Christoph Baumann / 27.07.2014

Mir war und ist Herr Wulff unsympathisch! Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er einen Freispruch erhalten hat. Folglich war ein wesentlicher Teil der massenhaften Medienschelte nicht fundiert. Wenn Herr Wulff seine Chance vergeigt hat, um wieviel mehr haben Sie das dann. Ihr Artikel ist billiges Nachtreten. So ist er, der Großteil der Journalisten/Blogger etc: Austeilen wie Mike Tyson zu seinen besten Zeiten, Nehmerqualitäten wie ein 12 jähriger mit Glasknochen.

Caroline Neufert / 27.07.2014

Mag über Herrn Wulff ja alles richtig sein, nur Frau Merkel hat sofort im Gegensatz bspw zu Monsieur Hollande antisemitische Äußerungen verurteilt. Auch wenn es (nur) der Sprecher war, weil sie ein paar Tage Urlaub hat. Gönnen wir sie ihr.

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