Thilo Sarrazin / 07.05.2016 / 15:34 / Foto: Pegasus2 / 9 / Seite ausdrucken

Wohin mit Mutti?

Das Ost-Berliner Kabarett-Theater Distel hat für Mitte Mai sein neues Programm angekündigt "Wohin mit Mutti?". Auf dem Plakat sieht man eine Person im Hosenanzug, die Hände formen ein nachdenkliches Dreieck, der Kopf steckt in einem leuchtenden Lampenschirm. So erhält die fortwährende moralische und geistige Erleuchtung, die Deutschland durch seine Kanzlerin erfährt, ein prägendes Symbol. Das Plakat ist sehr witzig, einen Besuch der Distel habe ich bereits vorgemerkt.

Wäre solch ein Plakat in der Türkei denkbar, mit dem Kopf des Präsidenten Erdogan im Lampenschirm? Wohl kaum. Zu den über 2000 Anklagen, die in der Türkei wegen Beleidigung des Präsidenten laufen, käme eine weitere hinzu. Außerdem könnte die Steuerverwaltung entdecken, dass das Theater mit seinem Abgaben im Rückstand ist, die Einnahmen pfänden und so die Schließung erzwingen. Vielleicht reicht es aber auch aus, den Regisseur und zwei Hauptdarsteller in vorläufige Haft zu nehmen.  Niemand  weiß das im voraus, und so ist es unwahrscheinlich, dass in Ankara solch ein Satiretheater  wie die Distel, nur wenige 100 Meter vom Regierungssitz entfernt, eine Überlebenschance hätte.

Nun ist es zwar bedauerlich, aber nicht neu, dass westeuropäische Standards der Meinungsfreiheit nicht überall in der Welt herrschen. Allerdings hat sich Europa seine Standards bislang nicht von anderen diktieren lassen. Es ist nicht bekannt, dass der Osmanische Sultan Mehmed V. beim deutschen Kaiser Wilhelm II. in Presseangelegenheiten interveniert hätte und dieser daraufhin tätig geworden wäre.

Die Bundeskanzlerin liebt moralische Zensuren  

So betrat man zweifellos Neuland in den gegenseitigen Beziehungen, als das türkische Ausßenministerium den deutschen Botschafter am 22. März offiziell einbestellte, um gegen ein zweiminütiges Spottvideo im 3. Programm des Norddeutschen Rundfunks "Erdowie, Erdowa" zu protestieren. Das kam in Deutschland gar nicht gut an, wäre aber bald vergessen worden, hätte nicht der Satiriker Böhmermann  am 31. März sein Schmähgedicht zu Erdogan in seiner ZDF-Satiresendung ausgestrahlt. Dafür, dass Erdogang gegen solch eine geballte Schmähkritik gerichtlich vorgeht, kann man sogar Verstädnis haben. Allerdings hätte der Papst viel zu tun, wenn er sich gegen vergleichbare Beleidigungen jedesmal gerichtlich wehrte, und es wäre auch nicht gut für seine päpstliche Würde.

Das bleibt aber zunächst eine Angelegenheit des türkischen Präsidenten. Eine ganz neue Dimension wurde erreicht, als sich die Bundeskanzlerin in der Folge beim türkischen Ministerpräsidenten Davotoglu für das Schmähgedicht entschuldigte und es "bewusst verletzend" nannte. Die Bundeskanzlerin liebt moralische Zensuren, und sie liebt es auch, in solchen Zusammenhängen die Muskeln der Staatsmacht spielen zu lassen. Das habe ich selbst erlebt. Meist kommt sie damit durch, diesmal war es aber anders. Dieser erneute Fauxpas mit einer Betragenszensur an falscher Stelle berührt nämlich gleich drei wunde Punkte:

Er wirft zunächst die Frage auf, wie ernst es der Kanzlerin mit der Meinungsfreiheit ist. Der scharfe Abfall in ihren persönlichen Beliebtheitswerten veranlasste sie zu einer für ihre Psyche ganz ungewöhnlichen Korrektur:  Sie erklärte öffentlich, es sei falsch gewesen, das Gedicht als "bewusst verletzend" zu bezeichnen, und ihr Regierungssprecher betonte wiederholt, wie wichtig ihr die Meinungs-,  Wissenschafts- und Kunstfreiheit sei. Das konnte den Schaden natürlich nicht beheben. Auch von Putin oder Erdogan sind solche Beteuerungen jederzeit zu hören.

Sodann erhebt sich die Frage, ob die selbst gewählte Abhängigkeit Deutschlands von der Türkei in Fragen der Flüchtlingspolitik ein vermehrtes Hineinregieren der Türkei in innerdeutsche Angelegenheiten zur Folge haben wird. Diese Abhängigkeiten sind ja objektiv gegeben. Es liegt allein in der Hand des von Deutschland eingesetzten Grenzwächters Türkei, ob mehr oder weniger Flüchtlinge auf den griechischen Inseln ankommen und in welchem Umfang die Tätigkeit der Schlepper unterbunden wird. Die Eilfertigkeit, mit der sich die Bundeskanzlerin beim türkischen Ministerpräsidenten entschuldigte, konnte als Ausfluss dieser Abhängigkeit interpretiert werden.

Diese Abhängigkeit zeigt sich auch in dem kolossalen Druck, den die Bundesregierung entfaltet, um bis zur Jahresmitte die Visafreiheit für türkische Bürger bei der Einreise in die EU zu erreichen. Die Türkei hat ja schon unverhohlen damit gedroht, das Grenzabkommen wieder außer Kraft zu setzen, wenn die Visafreiheit als politische Gegenleistung nicht kommt. Auf die Europäische Kommission kann man in diesem Punkt offenbar nicht hoffen, Jean Claude Juncker steht hier fest an der Seite der Bundeskanzlerin, denn er möchte das Schengen-Regime um nahezu jeden Preis retten. Wenn die Visafreiheit scheitert, wird sie am Widerstand der Franzosen scheitern.

 Angela Merkel wird zu den Verlierern gehören

Der dritte wunde Punkt ist ein generelles Unbehagen über eine Einlussnahme des Islams auf die Werte unserer Kultur. Dazu gehören Fatwahs gegen Schriftsteller, Todesdrohungen gegen Karikaturisten, Attentate auf satirische Zeitschriften, das Verschwinden von Schweinefleisch aus den Kantinen der Schulen, der wachsende Anteil muslimischer Schüler, die nicht am gemeinsamen Sport- und Schwimmunterricht und an Klassenfahrten teilnehmen, die Tätigkeit der türkischen staatsfinanzierten Ditib an Moscheen in Deutschland, aber eben auch die Versuche der türkischen Regierung, auf die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland und Europa unmittelbar Einfluss zu nehmen. Diese Ängste treiben den Aufstieg islamkritischer Parteien.

Für diesen Aufstieg hat die deutsche Bundeskanzlerin durch ihr missverständliches Agieren jetzt erneut eine Menge getan. Gleichzeitig hat sie für sich persönlich eine neue Front eröffnet, die sie nicht mehr mit einer eigenen Entscheidung schließen kann und an der sie auch nicht gewinnen kann. Das Gerichtsverfahren von Erdogan gegen Böhmermann wird über alle Instanzen gehen, das haben beide Seiten bereits angekündigt, und es wird vor der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2017 voraussichtlch nicht abgeschlossen sein. Wie immer es auf den einzelnen Instanzen ausgeht, Angela Merkel wird immer zu den Verlierern gehören: Wenn Böhmermann gewinnt, wird sie verlieren, weil sie sich von ihm öffentlich distanziert hat. Wenn er verliert, wird sie auch verlieren, weil sie durch ihre Kritik den türkischen Präsidenten quasi zur Klage ermutigt hat.

In der Rückbetrachtung mag es so sein, dass dieser Anruf beim türkischen Ministerpräsidenten das politische Ende von Angela Merkel eingeläutet hat.

Zuerst erschienen in der Züricher Weltwoche

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Hermann Neuburg / 08.05.2016

Abwahl von Frau Merkel? Das kann nur der Deutsche Bundestag mit einem konstruktiven Misstrauensvotum - also mit einem Gegenkandidaten. Und da sind wir beim Kern des Problems: Die SPD wird niemals mit den Grünen und den Linken zusammen, trotz rechnerischer Mehrheit, einen Kanzler zur Wahl stellen - etwa Sigmar Gabriel? Olaf Scholz? Nein. Und die CDU, von ihr müsste die Initiative ausgehen? Die CDU ist inzwischen so blutleer und feige, dass es keinen “Königsmörder” geben wird - nicht einmal als Kandidat für die Wahl 2017! Ich wette daher: Frau Dr. Merkel wird auch 2017 wiedergewählt, denn sie hat es nun geschafft: sie kann mit jeder Partei, außer der AfD und (noch) außer der Linken koalieren. Es bleibt nur die Frage für 2017: Merkel-Grün oder Merkel-Rot. Von der CDU oder “schwarz” sollte man nicht mehr reden, denn Frau Dr. Merkel ist die Person gewordenen Alternativlosigkeit und der Sargnagel auf der lebendigen Demokratie. Aber: Jedes Land hat die Regierung, die es verdient - ich habe sie nie gewählt, habe die SPD schon 2013 inständig davor gewarnt, mit dieser Frau eine Koalition einzugehen. Nun tritt meine Prophezeiung ein: Merkel, Merkel, Merkel und noch einmal Merkel, egal mit wem.

Wolfgang Kaufmann / 07.05.2016

Es ist ein anderer einsamer Anruf, der den Anfang vom Ende ihrer Ära eingeläutet hat, nämlich die bilaterale Absprache mit Faymann in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015. Frei nach Bismarck könnte man sagen: Sei in einer Welt von 28 nie zu zweit. Denn wie Krösus erfahren musste: Mit dieser Grenzüberschreitung wirst du ein großes Reich zerstören. Freilich braucht der dialektische Geist der Geschichte seine Zeit.

Stefan Fischer / 07.05.2016

Herr Sarazin, ich schätze Ihre Beiträge zwar sehr, jedoch liegen Sie hier falsch. Merkels politisches Ende hat im September 2015 begonnen. Merkel schaffte es wie niemand zuvor die CDU zum Kanzlerinnenwahlverein zu degradieren. Sie hat in der Vergangenheit jegliche parteiinterne Bedrohung schnell ausgeräumt. Jegliche Kompetenz (zB Merz) oder auch Strahlkraft (zB Guttenberg) wurden von ihr entweder persönlich diskreditiert oder beim geringsten Anlaß sofort fallengelassen. Sie duldete nur blasse und inkompetente Gestalten um sich. Der letzte Rest an Kompetenz (zB Schäuble) in der CDU gilt als unsympathisch und ist keine wirkliche Bedrohung für sie. Die Opposition wurde durch geschickte Übernahme ihrer Themen durch eine hörige CDU marginalisiert. Die großen Fehlentscheidungen und waghalsigen Wendemanöver der Angela Merkel wurden erst möglich nach dem sie die CDU personell und ideologisch ausgehölt und die Opposition um den Finger gewickelt hatte. Wenn ein grüner Kretschmann für die Kanzlerin betet weil weit und breit keine Ersatzfigur in Sicht ist dann zeigt dies das Dilemma. Merkel ist auch nicht viel besser als Erdogan, nur ist ihre Stoßrichtung eine andere. Während ein Erdogan offensichtlich dem Sultanat zueifert interssiert sich Merkel nur für Merkel. Die Methoden sind gewiss unterschiedlich, das Ergebniss ist das selbe, eine starke politische Führungsfigur die tut was sie will und dahinter ein willfähriger Abnickverein genannt Parlament. Merkels politischer Untergang hat zweifellos begonnen, sie hat den Zenit überschritten. Sie wird eine hohle CDU und eine zur Einheitspartei verkrüppelte Parteienlandschaft hinterlassen, und dies alles hat nichts mit der türkischen Regierung zu tun. Die aktuellen Diktate aus Ankara sind nur Symptom einer von Diskurs und Wettbewerb befreiten deutschen Politik welche über keinerlei Abwehrreflexe mehr verfügt. Ein intaktes Parlament welches der Kanzlerin Einhalt gebietet gibt es nicht mehr. Das ist der eigentliche Grund des Untergangs Merkels, es gibt niemanden mehr der sie davon abhalten könnte Fehlentscheidungen zu treffen, sie hat sich jeglicher Korrektive entledigt.

Siering Christian / 07.05.2016

Kann Merkel angesichts der wahrscheinlichen Mehrheitsverhältnisse bis zur nächsten Bundestagswahl überhaupt abgewählt werden? Merkel kann doch inzwischen mit jedem koalieren und wird es wohl auch, wenn die anderen mitziehen. Da müsste die AFD schon alleine über 50% bekommen, damit man Merkel vom Kanzlerthron runterbekommt.

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