Michael Miersch / 12.10.2007 / 15:05 / 0 / Seite ausdrucken

Wir wollen alles

Kolumne von Maxeiner & Miersch, erschienen in DIE WELT am 12.10.2007:

Blättert man durch die politischen Kommentare der letzten Wochen, trifft man auf zwei recht widersprüchliche Thesen. Der Zeitgeist sei links behaupten die einen, und stützen sich auf Umfragen, bei denen sogar eingefleischte CDU-Wähler die Forderungen von Oskar Lafontaine übernehmen. Völlig falsch, schreiben die anderen, der Zeitgeist sei längst konservativ: Die Menschen beten wieder, ehren die Familie und haben die Illusion von der multikulturellen Gesellschaft begraben. Gegen links zu argumentieren, sei quasi intellektuelle Leichenschändung. Ja was denn nun? Müssen wir uns schon mal auf den dritten deutschen Sozialismus einstellen, oder uns mit Hilfe alter Heinz-Erhardt-Filme auf eine neue Adenauerzeit vorbereiten?

Besonders amüsant finden wir, dass die Auguren beider Sichtweisen sich in einem einig sind: Die vergangenen Jahre wären vom Neoliberalismus geprägt gewesen, was nun glücklicherweise vorüber sei. Und wir Dummerchen hatten gar nicht bemerkt, dass der Neoliberalismus ausgebrochen war. Wahrscheinlich weil wir so viele Auftritte von Olaf Henkel bei Sabine Christiansen verpasst haben.

Zurück zur Frage: Was sind wir Deutschen denn nun im Jahr 2007, Sozialisten oder Konservative? Die Antwort lautet beides, und grün sind wir obendrein. Die große Mehrheit fühlt linksgrünkonservativ und wird darin von der derzeitigen Regierung eigentlich ganz gut repräsentiert. Marx und Adam Smith sind tot, Norbert Blüm lebt und Jürgen Rüttgers ist sein Prophet. Nur intellektuelle meinen, man müsse sich für eine politische Richtung entscheiden. Die meisten Bürger haben keine Lust dazu und mixen sich ihre eigene Ideologie.

Man nehme einfach von allem das Angenehmste: Kapitalistischen Wohlstand UND sozialistische Verteilung. Schutz durch Amerika UND moralisierende Mahnungen an Amerika. Hohe Renten UND frühe Verrentung. Kohlendioxidreduzierung UND günstige Spritpreise. Staatsknete in allen Lebenslagen UND niedrige Steuern. Ausstieg aus der Atomenergie UND billigen Strom. Hohe Löhne UND bezahlbare Dienstleistungen. Staatliche Förderung der eigenen Interessen UND Subventionskürzung bei den anderen. Fortschritte in Medizin und Wissenschaft UND Verbote von Gentechnik und Stammzellenforschung. Sicherheit vor Terrorismus UND eine Kuschelpolizei.

Eine legendäre Zeitschrift der Spontis in den siebziger Jahren hieß „Wir wollen alles!“. Diese Parole hatte offenbar durchschlagenden Erfolg. Wenn ein Mensch Dinge gleichzeitig haben will, die es nicht gleichzeitig geben kann, nennt man diesen Wunsch kindlich. Einer der Hauptunterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen ist, dass Erwachsene solche Widersprüche in der Regel bemerken und danach handeln sollten. In den neunziger Jahren las man im Feuilleton viele Klagen über Blödelfernsehen und immer primitivere Unterhaltung. Die Kritiker warnten vor einer schleichenden Infantilisierung der Gesellschaft. Vielleicht hatten sie ja Recht und das Ergebnis ist das schwarz-rot-grüne Wolkenkuckucksheim, in dem offenbar viele Mitbürger zu leben wünschen.

Das Kind in uns möchte von den unangenehmen Einsichten ökonomischer Vernunft verschont bleiben. Dass Wohlstand in der Regel durch Arbeit entsteht ist eine Kränkung. Viel schöner ist die Vorstellung, dass Wohlstand durch gerechte Verteilung entsteht, oder durch Aktienkauf, oder Lotto. Wer will schon hören, dass es keine Freiheit ohne Verantwortung gibt, keinen Fortschritt ohne Risiko und keinen Frieden ohne die Bereitschaft sich zu verteidigen? Und weil das niemand hören möchte, sagen es Politiker sehr ungern, selbst wenn sie es wissen. Außer solche Monster wie die Neoliberalen (falls es die wirklich geben sollte). Aber dass macht nichts, denn, wie schon Ludwig von Mises sagte: „Der Hass gegen den Liberalismus ist das Einzige, in dem die Deutschen einig sind.“

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