Von Andreas Wagenseil.
Gerade hat der Bundestag mit der Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs geltendes Recht formell korrekt bis Mitte des 2018 außer Kraft gesetzt. Die seit über zwei Jahren andauernde Nichtanwendung der Gesetze zur Zurückweisung von Asylbewerbern an der Landesgrenze beruht hingegen auf einer lediglich mündlichen Anordnung des Bundesinnenministers. Dieses Vorgehen ist undemokratisch und formell verfassungswidrig.
Man kann politisch für oder gegen die Öffnung unserer Grenzen für Asylbewerber sein, die schon in vielen Ländern auf ihrer Reise nach Deutschland in Sicherheit vor Krieg und Verfolgung waren. Als Demokraten müssten wir uns aber alle darüber Sorgen machen, dass die Grenzöffnung derzeit die in der Verfassung verankerten demokratischen Spielregeln verletzt.
Eigentlich bestehen in Deutschland Gesetze, nach denen Asylbewerber an den deutschen Landesgrenzen im Regelfall zurückzuweisen wären. Auch die Bundesregierung ging offenkundig zurecht davon aus, dass sie diese gesetzlichen Regelungen jederzeit durchsetzen könnte. Dementsprechend war im September 2015 der Befehl an die Bundespolizei zur Durchsetzung des gesetzlichen Einreiseverbots bereits entworfen und Polizeibeamte aus ganz Deutschland per Bus und Hubschrauber an die Grenzen transportiert worden.
Die Bundeskanzlerin und der Bundesinnenminister sahen von der Durchsetzung des geltenden Rechts jedoch aus Furcht vor „öffentlich schwer vermittelbaren Bildern“ ab und öffneten stattdessen die Grenzen freiwillig durch eine lediglich mündliche und noch immer unveröffentlichte Ministeranordnung. Sie gilt – trotz anders lautender Forderungen auch aus der CDU – bis heute und soll nach dem Willen der zukünftigen GroKo aus CDU, CSU und SPD zukünftig jährlich für bis zu 220.000 Asylbewerber weiterhin Anwendung finden. Die Zurückweisung wird nur in den Fällen durchgesetzt, in denen kein Asylantrag bei der Einreise nach Deutschland gestellt wird.
Wo ist das gesetzliche Zurückweisungsgebot für Asylbewerber an Landgrenzen verankert?
Gemäß § 18 Abs. 2 AsylG ist einem Asylbewerber die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat einreist oder Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach Ansicht des renommierten Beck’schen Online-Kommentars zum Ausländerrecht (§ 18 AsylG, Rn. 22) „bestehen für die deutschen Grenzbehörden prinzipiell bei jedem Schutzersuchen an einer Landgrenze Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates (…)“, da Deutschland vollständig von sicheren Dublin-Staaten umgeben ist. Folglich greift eigentlich auch das Zurückweisungsgebot für jeden an der Grenze kontrollierten Asylbewerber. Hier die wichtigsten Fragen zum Thema:
Unter welchen Voraussetzungen sind Ausnahmen vom gesetzlichen Zurückweisungsgebot möglich?
§ 18 Abs. 4 AsylG sieht zwei eindeutige Gründe vor, in denen diese Verweigerung der beabsichtigten Einreise aus einem sicheren Drittstaat nicht erfolgen kann. Im ersteren Fall ist die Bundesrepublik Deutschland auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem sicheren Drittstaat für die Durchführung eines Asylverfahrens rechtlich verpflichtend zuständig. Im zweiten möglichen Fall kann das Bundesministerium des Innern die Einreise freiwillig aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen (die „Ministeranordnung“).
Wurden die Grenzen aufgrund einer freiwilligen Ministeranordnung geöffnet?
Die Staatssekretärin im Bundesministerium des Inneren, Haber, führte zur Rechtsauffassung der Bundesregierung vor dem Bundestag aus: „Die Regelungen in § 18 Absatz 2 bis 4 AsylG sind im Kontext des europarechtlichen Regelungsgefüges zu betrachten. Zurückweisungen an der Grenze sind im Rechtsrahmen der Dublin-III-Verordnung und des § 18 AsylG zulässig. (…) Die Entscheidung, den betreffenden Personenkreis nicht zurückzuweisen, wurde im Zusammenhang mit der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den deutschen Binnengrenzen im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung getroffen (BT-Drs. 18/7510, S. 29; vgl. auch Staatssekretär Krings, BT-PlPr 18/154, S. 15166 A; BT-Drs. 18/7311, S. 5).
Es ist daher festzuhalten, dass die Bundesregierung sich für die Rechtfertigung der Grenzöffnung nicht auf die Alternative des zwingenden europäischen und internationalen Rechts beruft, welche die Zurückweisungen verbieten würden. Vielmehr seien diese laut Bundesregierung grundsätzlich möglich und es handelt sich bei der Grenzöffnung um eine freiwillige „Entscheidung“ innerhalb der Bundesregierung. Also eine sogenannte Ministeranordnung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG. Vor diesem Hintergrund werden die Beteuerungen von CSU-Minister Dobrindt, Frau Merkel vertrete „keine Politik der offenen Grenzen“, zumindest in die Nähe von „Fake News“ gerückt.
Welche Rechtsgrundlage benennt denn die Bundesregierung für die Grenzöffnung?
Die prinzipiell zu strenger Neutralität verpflichteten Wissenschaftlichen Dienste monieren etwa im August 2016, dass „die Bewertung der Einreisepraxis seit Anfang September 2015 insbesondere dadurch erschwert [wird], dass in tatsächlicher Hinsicht Unklarheit darüber besteht, welche Rechtsgrundlagen für Einreisegestattungen konkret herangezogen wurden und werden“. Man könnte nun meinen, dass die Bundesregierung wenigstens die Anfragen von Bundestagsabgeordneten nach der exakten Rechtsgrundlage der Grenzöffnung beantwortet. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben hierzu jedoch im Hinblick auf eine Antwort der Bundesregierung auf die schriftlichen Fragen des MdB Stracke (BT-Drs. 18/7510, S. 29), der wissen wollte, auf welche der oben dargestellten Alternativen sich die Bundesregierung für die Grenzöffnung beruft, im Mai 2017 mit Erstaunen festgestellt: „ die genaue Rechtsgrundlage des § 18 Abs. 4 AsylG in Bezug auf die Nr. 1 oder Nr. 2 [wird durch die Bundesregierung in ihrer Antwort] gerade nicht benannt.“
Wie lautet eigentlich der Wortlaut der Ministeranordnung und ihrer Begründung?
Wie das Bundesinnenministerium in einer Stellungnahme erläutert, liegt die Entscheidung zur Grenzöffnung nicht schriftlich vor. Die Ministeranordnung oder die Entscheidungen über ihre fortdauernde Aufrechterhaltung wurden demnach anders als Entscheidungen zur Aufnahme von Kontingentflüchtlingen, die für wesentlich geringere Personenzahlen gelten, nicht veröffentlicht.
Sind die gesetzlichen Voraussetzungen für eine freiwillige Ministeranordnung überhaupt erfüllt?
Hier lohnt sich ein Blick auf die beiden gesetzlich normierten Gründe, die dem Bundesministerium des Innern die zeitlich und mengenmäßig begrenzte Grenzöffnung durch eine Ministeranordnung erlauben. Dies können sowohl freiwillig anwendbare „völkerrechtliche oder humanitäre Gründe“, wie auch die „Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ sein. Während man durchaus begründen könnte, dass eine temporäre Grenzöffnung im Herbst 2015 aus Sicht der Bundesregierung zumindest eine dieser Voraussetzungen erfüllt, wäre es interessant zu erfahren, weshalb die Bundesregierung diese Gründe auch nach über zwei Jahren und unter – im Vergleich zur damaligen Situation – komplett veränderten Rahmenbedingen weiterhin für gegeben hält. Insofern ist es für die Bundesregierung äußerst praktisch, dass diese Erwägungen gar nicht erst der Öffentlichkeit und damit einer kritischen Analyse zugängig gemacht wurden. Auf diese Weise ist ihre Begründung für die fortdauernde Aufrechterhaltung der Grenzöffnung nicht zu hinterfragen.
Woraus ergibt sich die Beschränkung der Ministeranordnung auf Einzelfälle?
Indem die nur für Einzelfälle vorgesehene Ermächtigungsrundlage der Ministeranordnung zur Grenzöffnung für eigentlich zurückzuweisende Asylbewerber (§ 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG) zeitlich und inhaltlich völlig überdehnt wurde, fehlt dem Handeln der Bundesregierung eine tatsächliche rechtliche Grundlage. Dieses Handeln ist daher als formell verfassungswidrig anzusehen. Denn, dass die Regelung des § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG nach dem Willen des Gesetzgebers auf Einzelfälle beschränkt ist, ergibt sich insbesondere aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Eine zeitlich unbeschränkte Ministeranordnung für eine Vielzahl von Asylbewerbern setzt faktisch das durch den Bundestag als Gesetzgeber beschlossene Zurückweisungsgebot (§ 18 Abs. 2 AsylG) im Ergebnis außer Kraft. Soll jedoch ein materielles Gesetz partiell oder im Ganzen nicht mehr angewendet werden, muss dies – wie es derzeit bei der befristeten Aussetzung des Familiennachzugs diskutiert wird – im System der Gewaltenteilung durch den Bundestag als Gesetzgeber entschieden werden.
Muss also nicht der Bundestag der bis heute andauernden Grenzöffnung zustimmen?
Art. 20 GG lautet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ In dieser Regelung findet sich die grundlegende Aussage, dass die Staatsgewalt aufgrund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur auf drei Säulen verteilt werden soll, die sich gegenseitig kontrollieren: Parlament als Legislative, Regierung/Verwaltung als Exekutive sowie die Gerichte als Judikative.
Dabei legt unter anderem die sogenannte „Wesentlichkeitsrechtsprechung“ des Bundesverfassungsgerichts fest, welche Angelegenheiten von so großer Bedeutung sind, dass sie nicht alleine von der Regierung, sondern nur mit Zustimmung des Parlaments getroffen werden können. Nach dieser Rechtsprechung hat das Parlament die nicht übertragbare Verpflichtung, in „grundlegenden normativen Bereichen“ die „wesentlichen Entscheidungen“ selbst zu treffen (BVerfGE, 49, 89). Danach werden solche Bereiche als wesentlich angesehen, die für die Verwirklichung der Grundrechte essentiell sind. Daneben werden weitere Kriterien herangezogen, zu denen auch die „Langzeitwirkung“ der Regelung (BVerfGE, 49, 89), „gravierende finanzielle Auswirkungen“ (BVerfGE 98, 218) und „Auswirkungen auf das Gemeinwesen“ (BVerfG 2 BvL 8/77) gehören.
Im zweiten Teil morgen lesen Sie: Warum besteht der Bundestag nicht auf seine Rechte als Gesetzgeber? Was müssten die Abgeordneten im Bundestag nun tun, um wieder rechtsstaatliche Verhä#ltnisse herzustellen?
Teil 2 finden Sie hier.
Dr. Andreas Wagenseil ist Rechtsanwalt und Steuerberater in München. Er ist Mitautor des Ende 2017 in der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR) erschienen juristischen Fachaufsatzes: „Die seit 2015 geltende mündliche Ministeranordnung zur Grenzöffnung im Lichte der Gewaltenteilung“ (siehe hier und hier).