Von Tamara Wernli.
Extrem hier, extrem da. Extremes Gesetz. Extreme Inhalte. Extreme Meinung. Islamkritiker sind extrem. Trump, Blocher, Petry auch. Die Schliessung der Grenzen in Europa sowieso. Im heutigen Sprachgebrauch hat sich die inflationäre Aufbietung des Wortes 'extrem' eingenistet, fast jeder zweite Satz enthält eine Angabe zu Extremismus, so scheint es. Dabei fällt auf: Rechte politische Ansichten werden eher als extrem gebrandmarkt als linke. Aber ab wann gilt eine Meinung als extrem? Und ist extrem zwingend falsch? Zwingend gefährlich?
Laut Duden ist 'extrem' eine radikale Haltung oder Richtung. Etwas, das im politischen Sinn „das Äusserste“ oder „das Ärgste“ bezeichnet – im Verhältnis zur angenommenen Mitte. Und zugleich als Minderheit im Verhältnis zur derzeitigen Mehrheit und als Gegensatz zu deren politischer Orientierung.
Wer aber entscheidet, was die angenommene Mitte ist? Gehen wir davon aus, die angenommene Mitte ist die Mehrheit einer Gesellschaft, der sogenannte Mainstream. Empfindet er etwas als extrem, gilt das also als diktatorische Wahrheit – und alle anderen haben sich damit abzufinden. Das anzunehmen ist doch aber, wenn nicht extrem, dann zumindest gänzlich unsensibel, und zwar für all jene, die sich in der politischen Orientierung der Mehrheit nicht erkennen. Ein Beispiel: Die Begriffe, mit denen die angenommene Mitte die Schweizerische Volkspartei, die SVP, und ihre Wähler beschreibt, reichen von 'rechts', 'extrem', 'rechtspopulistisch, 'rechtsextrem' bis 'ein Haufen von Nazis'. In Anbetracht des SVP-Wähleranteils bei den Wahlen im 2015 macht das etwa 753.000 extreme Schweizer.
Extreme ändern sich im Laufe der Zeit
Meine Beobachtung ist, dass der Ausdruck, den man für diese Partei und ihre Anhänger benutzt, umso extremer wird, je weniger man sich mit ihr identifiziert. Ob etwas extrem ist oder nicht, basiert also zu einem grossen Teil auf der subjektiven Ansicht. Oder umgekehrt: Je mehr etwas von der eigenen Weltanschauung abweicht, desto extremer empfindet man es – und nennt es falsch und gefährlich.
Sind nun jene extrem, die sich gegen Internetzensur und für Redefreiheit aussprechen – oder sind es jene, die aus Angst vor Hass und Hetze Zensur befürworten? Ist Trumps gründlichere Immigranten-Überprüfung extrem, oder sind jene extrem unverantwortlich, die Immigranten unkontrolliert einreisen lassen wollen? Extrem kann aber auch ein demonstrativer Patriotismus sein. Für Moslems, die den Islam streng ausleben, kann unsere westliche, freiheitliche Grundordnung extrem sein. Heute empfinden wir Dinge als völlig normal, die früher als extrem galten; eine Gesellschaft ist im Wandel, Extreme begegnen uns nicht statisch, sie ändern sich im Laufe der Zeit. Auch ist es möglich, extreme Ansichten zu haben, damit aber vernünftig zu argumentieren.
Angesichts unserer empörungswilligen Gesellschaft könnte man annehmen, dass es von Extremisten, Sexisten und Rassisten nur so wimmelt. Tut es aber nicht. Es zeigt höchstens, dass es vielen beim Einordnen einer Person nicht um die inhaltliche Auseinandersetzung geht. Sie beurteilen ein Individuum aufgrund eines Vorurteils und gehen dann oft vom Schlimmsten aus. Ich selbst ertappe mich immer wieder dabei, im ersten Reflex etwa eine Ansicht, die der meinen diametral entgegenläuft, als völlig unhaltbar oder gar idiotisch abzutun. Versuche dann aber, mich vielleicht in einem zweiten Moment darauf einzulassen.
Vorurteile sind ja grundsätzlich nichts Schlimmes, sie sind eine Art Frühwarnsystem im Hirn, das Situationen abgleicht und Wahrscheinlichkeitsrechnungen durchführt. Wären damals unsere frühen Vorfahren beim Anblick von Tieren mit grossen Zähnen nicht reflexartig getürmt – ohne konkretes Wissen, ob diese tatsächlich gefährlich sind – wir wären heute wohl alle nicht hier. Das Problem mit Vorurteilen ist, dass wir unsere eigene subjektive Wahrheit grösstenteils darauf aufbauen und sie dann häufig als die einzige Wahrheit anerkennen – das ist nun mal der Anspruch eines grossen Egos, ganz unabhängig vom politischen Spektrum. So gesehen müssen andere Wahrheiten zwangsläufig extrem sein.
Die Inflation des Wortes extrem ist unsinnig
In seinem Buch "The Dictionary Of Political Thought" beschreibt der politische Philosoph Roger Scruton ("How to be a Conservative") einen Extremisten unter anderem als jemanden, der mit einer politischen Idee ans Limit geht, auch mit der Absicht, die Opposition zu eliminieren. Der Mittel einsetzt, die die Freiheit und Menschenrechte von anderen beeinträchtigen und der intolerant gegenüber allen Ansichten ist, die nicht mit der eigenen übereinstimmen.
Wenn wir ehrlich sind, trifft all das auf die Wenigsten zu, die heute als 'extrem' geächtet werden. Sie sind auch nicht gefährlich noch liegen sie mit ihren Ansichten komplett falsch. Der überbordende Gebrauch des Wortes ist daher völlig unsinnig. Und wer glaubt, durch das Anprangern von vermeintlichen Extremisten ein besserer Mensch zu sein, weil er damit ja seine eigene Korrektheit unterstreicht, der irrt. Es wird nie für jedes Individuum alles perfekt sein. Wir werden nie mit allem übereinstimmen. Wir sind zu permanenter Anpassung gezwungen, müssen uns arrangieren mit unliebsamen, verletzenden Meinungen und Fakten. Müssen unsere eigenen Kompromisse finden. Die 'angenommene Mitte' kann uns dabei nicht helfen, sie ist ein vages, unbestimmtes Konstrukt. Eines, das einen grossen Teil der Gesellschaft ausschliesst.
Übrigens: Sich hier und da auf eine unorthodoxe Meinung einzulassen, hat auch seine Vorteile. Es weist ein Ego zumindest ein bisschen in seine Schranken.
Der Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung. Tamara Wernlis Kolumne gibt es jetzt hier auch als Videobotschaft, man kann sie auf ihrem YouTube-Kanal auch abonnieren.
Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag zuerst. In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen.