Cora Stephan / 16.03.2009 / 12:44 / 0 / Seite ausdrucken

Winnenden und wie weiter

Ich verstehe junge Männer nicht, die auf ihren Todestrip möglichst viele Unbeteiligte mitnehmen wollen. Ich verfüge über keine allgemeine Erklärung dafür, warum sie es tun, ich habe auch keine Ahnung, wie man sie künftig daran hindern könnte. Ich weigere mich, Weisheiten von mir zu geben, die entweder hilflos oder überheblich sind oder die üblichen Verlautbarungen der üblichen Verdächtigen: Wir brauchen eine „neue Kultur des Hinschauens und Hinhörens“, fordert der Philologenverband. Sicher doch. Andere Lobbyisten fordern mehr psychologisches Personal an den Schulen, wieder andere wün-schen sich schärfere Sicherheitskontrollen, das Verbot von Gewaltspielen auf dem Computer, intensivere Aufsicht über Schützenvereine, ein strengeres Waffenrecht, am liebsten gleich das Verbot von Waffen im Privatbesitz. Klar doch.

Es ist das übliche Geplapper, das Medienrauschen, die eitle Selbstdarstellung sogenannter Experten, die auch nicht mehr wissen als alle anderen, aber schlauer darüber reden können. Es ist, ich gebe es zu, sehr schwer, dem Medienrauschen nicht nur eine weitere aufgeblasene Nichtigkeit hinzuzufügen. Denn auch der Ausdruck tiefsten Bedauerns und höchsten Erschreckens ist irgendwann die reine Betroffenheitsroutine geworden. Es gibt nur eines, was nicht denkbar ist in der Mediengesellschaft: zu schweigen.
Aber ausnahmsweise einmal sind es nach Winnenden die Politiker, die normalerweise dafür nicht bekannt sind, denen man für ein paar klare Worte dankbar sein muß: Kein Gesetz hätte diesen Amoklauf verhindern können, sagt Bundesinnenminister Schäuble. Und auch SPD-Chef Müntefering ließ sich die Chance entgehen, mit markigen Worten einen Krisengewinn einzufahren. Auch er räumte ein, daß es immer wieder Menschen geben wird, „die aus der Spur kommen.“
Damit ist eigentlich das Nötige gesagt, jedenfalls was die allgemeine Öffentlichkeit betrifft; die Angehörigen der Getöteten dürfen andere Gefühle, andere Wünsche haben. Aber allen anderen steht es nicht zu, solche Wünsche verallgemeinern zu wollen.
Was im Einzelfall unmöglich zu ertragen ist, muß man im Allgemeinen akzeptieren: wir leben in einer im Vergleich zu früheren Jahrhunderten unfaßbar sicheren und gewaltfernen Welt. Sie zu einer vollständigen Sicherheitszone machen zu wollen, in der der Gedanke an individuelle Gewalt erst gar nicht aufkommen kann, hieße Hochsicherheitstrakt auf Weltniveau.
Unsere Altvorderen haben sich deshalb auch nicht mit der Frage abgegeben, wie sie Gewalt aus der Welt schaffen könnten. Sie haben sich damit begnügt, sie einzuhegen, sie zu kanalisieren, zu reglementieren, sie von einer Gefahr für die zivile Gesellschaft zu einem brauchbaren Instrument zu machen. Die zivilisatorische Errungenschaft des Gewaltmonopols des Staates bedeutete, die individuellen Zerstörungskräfte in einer Waffe zu bündeln, die in der Hand der Zentralgewalt lag. Die Kehrseite ist bekannt: Armeen ziehen in den Krieg. Unseren Vorfahren erschien das als Fortschritt gegenüber der ständigen Furcht eines jeden vor den zerstörerischen Kräften ziel- und orientierungsloser junger Männer.
Ob ich empfehle, daß man nun alle orientierungslosen jungen Männer in die Bundeswehr stecken soll? Nein. Ich empfehle gar nichts. Aber ich glaube nicht, daß es die Sicherheit gibt, die der Expertenchor mit seinen guten oder bloß gutgemeinten Ratschlägen verheißt. Warum viele Menschen dennoch an sie glauben wollen? Weil in den Industrienationen der westlichen Welt alles auf das große Sicherheitsversprechen hinauszulaufen scheint. Von der Autoindustrie über die öffentliche Architektur über das Kinderschlafzimmer über die Kücheneinrichtung: alles verspricht umfassende, einhüllende, einlullende, totale Sicherheit. Der politische Diskurs steht der Werbung nicht nach, auch hier jagt ein Sicherheitsversprechen das andere, gerade jetzt, gerade heute, gerade in „der Krise“.
Doch Krisen, Risiko und Verlust gehören zum Leben. Auch, daß es den Zufall gibt, das Mißgeschick, das Verhängnis, das einen auch in die Schußbahn eines Selbstmörders führen kann. Daß Menschen ein Schicksal haben, über das sie nicht bestimmen. Und daß die Davongekommenen Glück gehabt haben.
Ein schwacher Trost? Nein, es ist gar keiner.
NDR, Die Meinung, 15. März 2009

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