Christian Ortner / 19.11.2012 / 14:55 / 0 / Seite ausdrucken

Willkommen in der Prolokratie

“...Jessica ist arbeitslos, ziemlich pleite und daher dringend an Bargeld interessiert. Deshalb ruft Jessica, der Stimme nach eine Mittzwanzigerin, bei einer jener spätabendlichen Call-In-Quizsendungen des deutschen Krawallfernsehens an, in der es für die richtige Beantwortung einer nicht allzu anspruchsvollen Frage einige hundert Euro zu gewinnen gibt. »Eine deutsche Automarke mit vier Buchstaben, deren erster ein A ist.«

Das will der Moderator von Jessica wissen, bevor sie sich über den Gewinn von 500 Euro freuen darf. Jessica denkt nach. Nach einigen Augenblicken kommt ohne erkennbaren Zweifel die Antwort: »BMW«.

Was Jessica zu dieser originellen Antwort bewogen hat, bleibt im Dunklen. Vielleicht hat sie geraten, vielleicht sind das Alphabet mit seinen vielen Buchstaben und das Zählen nicht ihre Stärke, vielleicht fährt ihr Freund Kevin, auch er vermutlich in eher prekären finanziellen Verhältnissen, einen tiefer gelegten BMW und hat damit ihr Markenbewusstsein fokussiert. Es ist im Grunde auch uninteressant und Jessicas Privatsache mit welchen Bildungsstandards sie sich zufrieden gibt. Es ist auch nicht sinnvoll, sich über sie aus einer albernen bildungsbürgerlichen Pose zu amüsieren. Ihre Unfähigkeit, derart schlichte Problemstellungen zu lösen, ist vermutlich von ihr eher nicht freiwillig gewählt, sondern Folge einer ganzen Reihe unglücklicher Einflüsse, für die sie nichts kann.

Das Problem ist, dass trotz ihrer erkennbaren Unfähigkeit, einfachste Zusammenhänge zu begreifen und daraus einen vernünftigen Schluss zu ziehen, Jessica berechtigt ist, und in gewisser Weise auch die Pflicht dazu hat, im demokratischen Prozess im Wege von Wahlen wichtige Entscheidungen über die Zukunft ihrer Heimat zu treffen. Entscheidungen, die in vielen Fällen derart kompliziert sind, dass Jessica nicht einmal dann eine Chance hätte, eine leidlich wissensbasierte Entscheidung zu treffen, wenn sie auch nur annähernd verstünde, worum es geht. Wäre Jessica ein beklagenswerter Einzelfall oder auch nur Teil einer bedauernswerten, aber für den demokratischen Prozess letztlich wenig relevanten Minderheit, so würde das zwar auf ein Problem des Bildungssystems hindeuten, nicht aber auf eines der Demokratie insgesamt. Leider gibt es viele Indizien, die zeigen, dass es verdammt viele Jessicas und Kevins gibt. Sie verkörpern also nicht ein kleine Minderheit, sondern gehören zu einer relevanten, wenn nicht gar ausschlaggebenden Gruppe von Wählern. Der Verdacht liegt nahe, dass Typen wie Jessica und Kevin in der westlichen Demokratie des 21. Jahrhunderts der Souverän sind.

Wer diesen Souverän erkunden will, der kann zum Beispiel den Chef eines erfolgreichen österreichischen Technologieunternehmens aufsuchen und sich von diesem erklären lassen, dass ein erheblicher Teil der jugendlichen Bewerber um Ausbildungsplätze trotz Schulabschlusses nicht in der Lage ist, die deutsche Sprache und die Grundrechnungsarten ohne Absturzgefahr zu verwenden. Wer diesen Souverän erkunden will, der kann zum Beispiel am frühen Morgen in einem beliebigen städtischen Massenverkehrsmittel dessen Lesegewohnheiten studieren, sofern man angesichts der dabei konsumierten medialen Hervorbringungen überhaupt noch von »lesen« sprechen kann. Das letzte Mal, dass im deutschen Sprachraum in der U-Bahn oder im Bus ein Buchleser beobachtet werden konnte, dürfte Ende der 1960er Jahre gewesen sein, seither ist diese Spezies ausgestorben wie der Dodo auf Mauritius.

Wer diesen Souverän erkunden will, der kann das mithilfe eines ganz alltäglichen Werbeblocks im Fernsehen erledigen. Da werden Männern allen Ernstes Heilsalben angepriesen, mit denen sie angeblich in einer Woche zwei Zentimeter Bauchumfang verlieren können. Frauen werden in aller Regel als hirnlos quasselnde Dumpfbacken vorgeführt, deren zentrales Konversationsthema der Blähbauch und seine Behandlung durch rechtsdrehende Molkereiprodukte ist. Dergleichen geht nicht auf Sendung, weil die Werbewirtschaft so blöd wäre. Dergleichen geht auf Sendung, weil die Werbewirtschaft die eher geringe intellektuelle Belastbarkeit der von ihr angesprochenen Menschen sehr genau vermessen und erhoben hat. Was uns die Werbung zeigt, das sind Jessica und Kevin in freier Wildbahn – der Souverän und sein zentrales Lebensthema, der Blähbauch, sozusagen.

Bedenklich dabei ist, dass eben diese Mitmenschen nicht nur Zielgruppe für Bauchumfangreduktion und Blähbauchprävention durch Quackmethoden sind, sondern auch im demokratischen Prozess mit ihrer Stimme über hochkomplexe Fragestellungen entscheiden. Wer am Freitag im Drogeriemarkt zur »Bauchweg-Creme« greift, darf am nächsten Wahlsonntag zumindest indirekt über die zukünftige Ausgestaltung der europäischen Finanzarchitektur abstimmen.

Sehr beruhigend ist dieser Gedanke nicht. Dagegen spricht das Argument, dass die westeuropäischen Demokratien mit Jessica und Kevin als Souverän in den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg sich nicht gerade schlecht entwickelt haben. Kaum ein anderes politisches Betriebssystem hat innerhalb einiger Jahrzehnte so viel Wohlstand für so viele geschaffen wie die europäische Parteiendemokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Leider wissen wir mittlerweile, dass zwar ein erheblicher Teil dieses Wohlstandes ehrlich erarbeitet worden ist, ein nicht geringer Teil jedoch auf Pump geschaffen wurde. In manchen Ländern weniger, etwa Deutschland und Österreich, in anderen mehr, zum Beispiel Griechenland und Italien.

Letztlich wurde überall mit der gleichen Methode Politik betrieben: Die Regierungen machten Schulden, um die Wähler mittels immer neuer sozialer Wohltaten zu bestechen und damit den eigenen Machterhalt abzusichern. Völlig zu Recht hat der tschechische Außenminister Karl Schwarzenberg diesen Zusammenhang als den »moralischen Urgrund der Krise« benannt, die Europa seit Jahren erschüttert. Die Politiker gehen dabei eine unheilvolle Allianz mit Jessica und Kevin ein.

Der Souverän verhält sich im demokratischen Prozess höchst rational, indem er regelmäßig jenen Politikern und jener Partei seine Stimme gibt, die ihm das finanziell attraktivste Angebot machen. Bietet also Kandidat A eine Erhöhung der Renten um 2 Prozent und Kandidat B eine um 4 Prozent an, ist völlig klar, wer die Wahl gewinnt und wer sie verliert. Mit dem Hinweis, dass eine Erhöhung der Renten eigentlich nicht zu verantworten, ja eine Kürzung zur Abwendung der Staatspleite unumgänglich sei, braucht ein Politiker gar nicht zu Wahlen anzutreten, wie unzählige Beispiele zeigen. Auch in der Politik gilt, dass jede gute Tat sich unerbittlich rächt. Demokratisch immer höhere Sozialleistungen durch immer mehr Schulden herbei zu wählen, funktioniert nur bis zu jenem Moment, ab dem die Gläubiger nervös werden, ob sie ihr Geld wieder sehen werden. In mehreren europäischen Staaten ist dieser Punkt bereits erreicht, in Deutschland und Österreich zwar noch nicht, aber die Entwicklung ist auch in den solider wirtschaftenden Staaten durchaus die gleiche.

Gleichzeitig verschiebt sich durch diese demokratische Technik des Machterhaltes mittels Wählerbestechung zu Lasten künftiger Generationen das Verhältnis zwischen der Zahl jener, die Nettoempfänger des Staates und seiner milden Gaben sind, und jener, die diesen Staat durch ihre Arbeit und ihre Leistung finanzieren. Erstere werden tendenziell immer mehr, zweitere hingegen immer weniger. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist die Demokratie akut in Gefahr, sich höchst demokratisch in die Pleite zu wählen. Denn die Mehrheit der Nettoempfänger wird durchaus rational und ganz legitim für immer neue und immer teurere Sozialleistungen stimmen. Da sie keine Einkommenssteuern zahlen, haben Jessica und Kevin dabei nur zu gewinnen. Die Leistungsträger und Nettozahler können und wollen diese Lasten jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt schultern. Irgendwann ist ihnen beim schlechtesten Willen keine zusätzliche Steuerleistung mehr abzupressen.

Wohin das führt, hat schon Abraham Lincoln, 16. Präsident der Vereinigten Staaten, geahnt: »Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihr die Starken schwächt. Ihr werdet denen, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, nicht helfen, indem ihr die ruiniert, die sie bezahlen. Ihr werdet keine Brüderlichkeit schaffen, indem ihr Klassenhass schürt. Ihr werdet den Armen nicht helfen, indem ihr die Reichen ausmerzt. Ihr könnt den Menschen nie auf Dauer helfen, wenn ihr für sie tut, was sie selber für sich tun sollten und können.«

Ab diesem Punkt wird es für einen Staat eng. Die Mehrheit wählt sich fidel eine permanente Ausweitung ihrer Komfortzone herbei, die von der Minderheit der Steuerzahler irgendwann nicht mehr finanziert werden kann. Eine Zeit lang ist die Differenz noch durch Schulden und immer neue Schulden zu überbrücken. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem es keine neuen Kredite mehr gibt. Dann heißt es, Game Over. Genau dieser Prozess vollzieht sich seit Jahrzehnten in der großen Mehrzahl der europäischen Demokratien, aber zum Teil auch in den USA und in Japan. In dieser Dimension noch nie zuvor gesehener staatlicher Daseinsvorsorge stehen in dieser Dimension noch nie gesehene Schuldengebirge gegenüber.

Der Verdacht liegt nahe, dass dem demokratischen System, wie wir es kennen, die frivole Neigung zum Staatsbankrott innewohnt. Und zwar nicht durch Missbrauch, durch untaugliches politisches Personal oder politische Betriebsunfälle, sondern weil es gleichsam in seiner Natur liegt. In Einzelfällen ist es Staaten ab und zu gelungen, demokratische Mehrheiten für notwendige Sparmaßnahmen und damit eine Reduktion des Wohlstandes der Mehrheit zu organisieren. Die Regel ist das aber nicht, sonst wären die demokratischen Staaten in Summe nicht heute in einem Ausmaß verschuldet, das die Grenze des Vernünftigen schon weit hinter sich gelassen hat und in die Region des Gefährlichen vorgedrungen ist.

Daraus ergeben sich ein paar heikle Fragen. Ist die Demokratie, so wie wir sie heute kennen, wirklich das Beste aller denkbaren politischen Betriebssysteme zur Bewältigung der sehr turbulenten Zeiten, die vor uns liegen? Was sollte an dieser Demokratie verändert werden, um ihre fatale Neigung zur Überschuldung zu beseitigen? Oder gibt es gar Alternativen zur westlichen Parteiendemokratie, die deren Vorteile erhalten, ohne deren Nachteile in Kauf nehmen zu müssen?  mehr: http://www.ortneronline.at

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